Walter Matthias Diggelmann, »Sie kennen unsere Methoden nicht« (1971)
Typoskript

Walter Matthias Dlggelmanns Kriminalhörspiel »Sie kennen unsere Methoden nicht« (DRS-1,24.4.71) wurde vom Autor zwar als »Psycho-Krimi« bezeichnet, doch unterscheidet es sich durch seinen Parabel-Charakter deutlich von der Masse der übrigen Vertreter des Genres. Nach einem verunglückten Anlauf als Hörspielautor in den fünfziger Jahren und der Produktion seines Erstlings durch den Südwestfunk zu Beginn der sechziger Jahre hatte Diggelmann für die Abteilung »Folklore« das Dialekthörspiel »s Urächt vo dr Grächtigkeit« (DRS-1,18.2.70) geschrieben, das in keineswegs folkloristischer Art anhand einer Gerichtsverhandlung ein Nachspiel zum Globuskrawall vom Juni 1968 und damit die Auseinandersetzung zwischen der Beatgeneration und dem »Establishment« behandelte. Sein drittes Hörspiel, »Sie kennen unsere Methoden nicht«, wurde Mitte der siebziger Jahre für so exemplarisch gehalten, dass es, zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Produktionen, in die Kassetten-Edition der TR-Verlagsunion aufgenommen wurde. Auch in diesem wie noch in weiteren Hörspielen konnte der Autor auf seine journalistische Beschäftigung mit der Tätigkeit von Kriminalpolizei und Untersuchungsbehörden sowie auf seine Erfahrungen als akkreditierter Gerichtsberichterstatter zurückgreifen. (87)

»Sie kennen unsere Methoden nicht« unterscheidet sich auch durch seine Struktur von der Mehrzahl der übrigen Kriminalhörspiele, die oft chronologisch aufgebaut sind und sich auf die Verwendung der Schauplatzblende beschränken. Diggelmann bedient sich der Zeitblende, wie sie in den fünfziger Jahren von Autoren des traditionellen literarischen Hörspiels wie etwa Günter Eich, Alfred Andersch, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann und vielen anderen mit Vorliebe verwendet worden war; das Neue Hörspiel stand dem Stilmittel der Blende skeptisch gegenüber und zog ihr die anti-illusionistische Wirkung des harten Schnittes vor, was durch Urs Widmers Hörspiel »Wer nicht sehen will, muss hören« (vgl. Kap. 3.125) bestätigt wird. Die Detektion des Verbrechens wird durch stufenweises Rückblenden auf frühere Zeitebenen und mit den seit der Antike gebräuchlichen Mitteln des analytischen Dramas, d.h. im wesentlichen durch Berichte in Dialogform, bewältigt. Diggelmanns Spiel beginnt mit einem Rapport des Staatsanwaltes zuhanden des Justiz- und Polizeidirektors über den Fall des Untersuchungsgefangenen Ihringer bzw. des Polizeisoldaten Morf. In einer ersten Rückblende von ein paar Tagen wird der Hörer Zeuge eines Telefonanrufs von Morf, der dem Staatsanwalt meldet, Ihringer habe »den Mord« gestanden. Nach einer kurzen Rückkehr zur Gegenwartsebene wird das Gespräch zwischen Morf und dem Staatsanwalt, nunmehr in dessen Büro, fortgesetzt. Die Aufforderung des Staatsanwalts: »Nun, dann erzählen Sie mir einmal ausführlich, wie es zu diesem Geständnis gekommen ist...« (S.5) leitet eine weitere Rückblende zum Geschehen der vergangenen Nacht ein. Ausführlich wird nun das nächtliche Verhör Morfs, der Ihringer widerrechtlich in seiner Zelle aufgesucht hat, dramatisch aufgerollt. Mit »psychologischen« Mitteln, die bewusst zwischen einfühlender Kumpanei und verbaler Gewalttätigkeit schwanken, entlockt der ehrgeizige junge Polizist dem Gefangenen Schritt für Schritt bisher Verschwiegenes über sein Leben und sein Verhältnis zur Ermordeten, die seine Freundin war. Morfs Methode besteht darin, den Verdächtigen zur Suche nach einem möglichen Motiv für den Mord zu veranlassen, angeblich, um dieses und damit jegliches Verdachtsmoment zu beseitigen, in Wirklichkeit, um ihn aufgrund blosser Indizien zu einem Geständnis zu zwingen. Als dies nicht ausreicht, lässt er seine Maske fallen und wendet nun sein gesamtes Wissen gegen den Gefangenen, packt ihn bei seinen geheimen Wünschen, enttäuschten Hoffnungen und bei seinem Ehrgefühl:

»Weisst du was, Ihringer, dich würd’ ich nicht mal mit doppelten Handschuhen anfassen.... Nicht mal mit doppelten Handschuhen! Einen Mörder ja, einen richtigen Mörder, ein Mann, der aus Leidenschaft, aus Überzeugung gemordet hat, ja, das ist etwas anderes, das ist wenigstens ein Mensch, vor so einem habe ich Hochachtung, und wenn er dann noch zu seiner Tat steht, aufrecht eben wie ein Schweizer und zu seiner Schuld steht und im Innersten seiner Seele bereit ist, dafür zu sühnen, der vor seine Richter hintritt und sagt, ich bin es gewesen, sprecht euer Urteil, ich bin bereit, es auf mich zu nehmen, ja so einer, Ihringer, so einer hätte bei uns Platz, so einen würden wir in unsere Reihen aufnehmen, aber doch nicht so ein kleiner, dreckiger [sic] Lügner und Dieb...« (S.34)

Ihringer, durch das nächtliche Verhör und die Rückschau auf sein missglücktes Leben aufgewühlt, fällt auf Morfs Taktik herein und bekennt sich schuldig. Ähnlich wie sich Alfredo Traps in Dürrenmatts Hörspiel »Die Panne« zum Helden stilisiert, indem er seine Verbrechen gesteht und jede Verteidigung ablehnt, lässt sich Ihringer, bei seiner Ehre gepackt, der Tat überführen. Ein Zeitsprung blendet wiederum über zum Gespräch zwischen Morf und dem Staatsanwalt am nächsten Morgen, in dessen Verlauf immer deutlicher die persönlichen und sozialen Ressentiments des Polizisten gegenüber Ihringer sowie die Fragwürdigkeit seiner Methoden erkennbar werden. Es stellt sich heraus, dass Morf bei der Protokollierung und Unterzeichnung des Geständnisses massiv mit Alkohol nachgeholfen hat. Schliesslich eröffnet der Staatsanwalt dem eifrigen Polizisten, dass sich Ihringer umgebracht hat. Als jener ihm nachweist, dass er selbst als Täter in Frage kommt und dass er es war, der Ihringer ein Rasiermesser zugespielt hat, zückt Morf seine Dienstpistole, unterlässt es aber abzudrücken. Der spiegelsymmetrische Aufbau wird geschlossen durch die Wiederaufnahme des Berichts des Staatsanwaltes an seinen Vorgesetzten. Er erläutert, dass er »Morf gegenüber die gleichen Methoden angewandt habe, mit denen er Ihringer zum Geständnis brachte.« (S.44) Die Provokation, auf die es Diggelmann ankam, besteht in der Feststellung, dass der Polizist, dem aufgrund der unzulässigen Methode genausowenig eine Schuld am Tod der jungen Frau nachgewiesen werden kann wie Ihringer, der für seine dienstliche Verfehlung wohl mit einem Disziplinarverfahren wegkomme. Mit der abschliessenden Bemerkung des Staatsanwaltes: »Und Morf, da bin ich überzeugt, wird seinen Weg schon machen. Gute Polizisten sind rar« (S.45) wird ein Happy End im Sinne einer Bestrafung des Bösen verweigert; das Rechtsempfinden des Hörers ist empfindlich getroffen.

Diggelmanns Hörspiel hat zwei Kriminalfälle zum Gegenstand: Der erste, bestehend im Mord an Ihringers Freundin, bleibt unaufgeklärt; der zweite, der mit psychologischen Mitteln verübte »Mord« des Polizisten an Ihringer, wird nicht gesühnt. Beides verstösst gegen die Grundgesetze des Kriminalromans. Raymond Chandler postulierte in seinen »Beiläufige[n] Anmerkungen zum Kriminalroman« (1949): »Der Kriminalroman muss den Verbrecher auf irgendeine Weise bestrafen, wenn auch nicht notwendigerweise durch den Spruch eines Gerichts. Im Gegensatz zur landläufigen Ansicht hat dies gar nichts mit Moral zu tun. Es gehört nur einfach zur Logik der Form. Ohne diese Strafe wäre die Geschichte wie ein unaufgelöster Akkord in der Musik; sie hinterliesse ein Gefühl der Irritation.«88 Die Möglichkeit, dass ein Mord nicht aufgeklärt wird, ziehen seine zehn Regeln gar nicht in Betracht. Williard Huntington Wright (alias S.S.Van Dine) hält in seinem umfangreichen Regelkatalog schon an vierter Stelle fest: »Niemals sollten der Detektiv selbst oder einer der Ermittlungsbeamten sich als der Missetäter her- ausstellen.«89 Gerade der Fall des Polizisten Morf ist es aber, um den es in diesem Hörspiel geht; der Fall Ihringer dient nur als »Aufhänger« und wird deshalb am Schluss mit dem für den Hörer unbefriedigenden, bewusst provozierenden Vorschlag des Staatsanwaltes erledigt, man solle ihn in Anbetracht der unsicheren Beweislage »ad acta legen«, zumal ja bekannt sei, »wie empfindlich Presse und Öffentlichkeit in letzter Zeit reagieren.« (S.44) Im Programm-Bulletin wurde »Sie kennen unsere Methoden nicht« bewusst vorsichtig als »eine Art Kriminalhörspiel mit kritischer Moral« vorgestellt. Dasselbe, was der Autor in einem Interview über sein Hörspiel »Wenn Träume wahr werden« (DRS-2, 6.9.75) sagte, gilt auch für die frühere Produktion: »Sie dürfen das Wort >Mord< in diesem Zusammenhang nicht wortwörtlich nehmen. In meinem Hörspiel ist es ein symbolischer Akt.« (90)

Wenn man das Spiel schon als Krimi betrachten will, so handelt es sich, entgegen der im Manuskript dem Titel beigefügten Gattungsbezeichnung, nur bedingt um einen »Psycho-Krimi«. Psychologie wird hier nicht vom Autor als Mittel zur Erzeugung spannender Wirkungen verwendet, sondern dient - in ausgesprochen populärer Form - dem Protagonisten Morf als methodisches Instrument seiner Untersuchung, die rein persönliche, vom Kriminalfall Ihringer unabhängige Ziele verfolgt. Zu den psychologischen Grundlagen des Genres gehört, dass wir, da »der Detektivroman zum Inhalt eine Menschenjagd hat, die ja im Grunde nichts anderes ist als die sanktionierte, ritualisierte, die >zivilisierte< Form des Mordes«, als Leser (und Hörer) an einem »Verbrechen« beteiligt sind, »das seine Weihe nur dadurch erhält, dass das Opfer selbst ein Verbrecher ist.« (91) Bis etwa zur Mitte von Diggelmanns Spiel wird diese unbewusste Prämisse nicht tangiert. Im zweiten Teil aber wird der Hörer in dieser Haltung verunsichert, sobald ihm klar wird, dass er sich auf die Seite einer Figur gestellt hat, die möglicherweise selbst die Tat begangen hat, und dass die Schuld Ihringers keineswegs feststeht. Distanzierung wird die Folge aus solcher Verunsicherung sein. Der Hörer sieht sich gezwungen, das Verhältnis zwischen den beiden Hauptpersonen aus übergeordneter Perspektive zu betrachten. Und er wird sich nun möglicherweise, ausgehend von Ihringers Lebensgeschichte und angeregt durch die Fragen des Staatsanwaltes zu Morfs beruflicher Laufbahn, Gedanken über ihr soziales Verhalten und über ihr Verhältnis zueinander machen.

Der moderne Sozio-Krimi interessiert sich für die sozialen Ursachen von Kriminalität, die im Scheitern des Traums vom sozialen Aufstieg, von Glück und Erfolg erkannt werden. Diggelmann zeigt einen Polizisten, der die Position, von der Ihringer vergeblich träumte, erreicht hat und der um jeden Preis, auch mit moralisch verwerflichen, wenn nicht gar kriminellen Methoden seine Karriere zu beschleunigen sucht. Beide, Ihringer und Morf, stammen aus demselben »kleinbürgerliche[n], spiessige[n] Milieu, so ärmlich, Arbeiterklasse, kleine Handwerker, alles klein, klein, klein...« (S.36) Beide sind ehrgeizig, doch der eine verbaute sich schon in der Jugend die Zulassung zur Polizeischule durch geringfügige Delikte; der andere, der es »denen«, seinen Vorgesetzten, einmal »zeigen« will (S.4), der Kriminalkommissär oder gar Chef der Kriminalpolizei werden möchte (S.37), wird trotz seiner schweren moralischen Verfehlung »seinen Weg schon machen«, wie der Staatsanwalt bestätigt. Dass alle Werke Diggelmanns stark autobiographische Züge tragen, ist bekannt. So hat zum Beispiel Ihringers Scheitern aufgrund diverser kleiner Verfehlungen seine Entsprechung in einer Anzeige wegen Diebstahls, die den Autor im Alter von siebzehn Jahren zur Flucht nach Italien veranlasste, ein Schritt, der für ihn unverhältnismässig einschneidende Folgen - Gefangenschaft in Nazi-Deutschland und in der Schweiz, Internierung in einer psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt, Bevormundung - nach sich zog. (92) Briefe an seine Mutter, an den Vormund, den Jugendanwalt, den Psychiater, »alle in der dritten Person und in der Form von Geschichten« (93) geschrieben, waren die Vorstufe von Diggelmanns schriftstellerischer Laufbahn, über deren ursprüngliche Motivation er bekannte: »Ich meine, der Grund, die Ursache, warum ich schreibe, zumindest warum ich zu schreiben angefangen habe, [...] hat damit zu tun, dass ich als Aussenseiter geboren wurde. Mein Geschichtenerzählen war vor allem in den Anfängen eine Art von Waffe, mit der ich versuchte, mir meinen »Platz an der Sonne« zu erkämpfen.« (94) Dies erinnert stark an Morf, der mit seiner psychologischen Methode seinen Vorgesetzten, den Gebildeten, Privilegierten und Mächtigen, seine Fähigkeiten beweisen und sich so emporkämpfen will. Es scheint, als habe Diggelmann in diesem Hörspiel zwei negative Möglichkeiten des Verlaufs seiner eigenen Biographie durchgespielt, die er selbst in dieser Konsequenz nicht realisiert hat: die seiner jungen Jahre und die seines schriftstellerischen und damit gesellschaftlichen Erfolges ab etwa 1960. »Sie kennen unsere Methoden nicht« bietet wie auch andere Werke Diggelmanns verschiedene Versionen derselben Geschichte, die sich dadurch auszeichnen, dass es in diesem Fall zwei extreme, gegensätzliche Versionen sind, die das Thema des gesellschaftlichen Aufstiegs bzw. Scheiterns modellhaft gestalten.

Diggelmann zieht nicht nur in Zweifel, ob das Scheitern sozialer Aspirationen in die Kriminalität führen müsse, sondern er sieht in diesem Hörspiel das Streben des sozial Erfolgreichen nach mehr Macht und Prestige als Triebkraft kriminellen Handelns: Auch dies eine mögliche Spielart des Sozio-Krimis, die freilich einem Kritiker in den falschen Hals kam, der die »Verklammerung zweier Menschen, des Wärters und des Opfers, die bis zur Austauschbarkeit vorangetrieben wird«, als »psychologisch geschickt und glaubhaft« lobte, aber bedauernd vermerkte: »Leider kann es der Autor nicht unterlassen, einer solchen Situation politisch-polemische, gesellschaftskritische Akzente anzuhängen, die einen Staat angeblich charakterisieren, der Mörder (den Polizisten) duldet, wenn er nur dazu beiträgt, dass Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten bleiben.« (95) An Diggelmann schieden sich eben seit jeher die Geister. Zur gleichen Zeit etwa schrieb Werner Bücher: »Und Diggelmann lässt sich lesen, er ermüdet nicht; als Autor erreicht er, was er will. Und die Jugend scheint das zu honorieren. Trotz seinem häufigen Schwarz-Weiss, trotz manchen Sätzen, die allein nicht, dafür aber im Rahmen halten, ist Walter M.Diggelmann bei ihr >in<, während sprachlich Brillantere, wie Hugo Loetscher, Herbert Meier oder Adolf Muschg, es eindeutig nicht sind.« (96) Diggelmanns Hörspiel bietet weniger kultivierte als kritische, zur kritischen Reflexion anregende Unterhaltung. Dem leisen Vorwurf, dass »hier nicht so sehr aus der Sprache geschaffen als vielmehr mit dem Wort operiert« werde (97), ist beizufügen, dass stilistische Unebenheiten und selbst grammatische Fehler in Diggelmanns Manuskripten nicht eben selten sind, was teils auch aus obigen Zitaten hervorgeht. Diggelmann machte nie ein Hehl daraus - und darin weist sich seine geistige Verwandtschaft etwa mit Jakob Bührer -, dass es ihm in erster Linie um die Sache ging und dass ihm ästhetische Probleme zweitrangig erschienen. Im Hinblick auf die sprachliche Gestaltung war sein Hauptanliegen Verständlichkeit. »Ich kann nur für mich feststellen«, äusserte er in einem Interview apodiktisch: »Ein Buch, das ein intelligenter Arbeiter nicht begreift, ist völlig wertlos.« (98)

Walter Schmitz vermutet, dass in Diggelmanns frühem Roman »Das Verhör des Harry Wind« der »juristische Apparat der Wahrheitsfindung« von Frischs »Stiller« inspiriert war, und er weist darauf hin, dass der Roman »Aber den Kirschbaum, den gibt es«, in welchen in einer Prosafassung das Hörspiel »Wenn Träume wahr werden« integriert ist, sich »auf Frischs bekannte Bildnislehre« berufe. (99) Auch »Sie kennen unsere Methoden nicht« kann in Beziehung zu Max Frischs »Stiller« und zum daraus entstandenen Hörspiel »Rip van Winkle« gesetzt werden. Morf ist einer, dem es gelingt, seiner Identität zu entfliehen, indem er sein anderes Ich, Ihringer, mit dem er durch seine Herkunft verbunden ist, tötet. Im Unterschied zu Anatol Stiller bzw. Anatol Wadel gelingt ihm der Identitätswechsel dank der Unterstützung durch eine gesellschaftliche Elite, die sich seiner als eines Instruments zur Stabilisierung ihres Status bedient. Im Gegensatz zu Stiller/Wadel ist Morf ein Mörder, und er erfindet nicht so sehr für sich als für sein Alter ego eine Geschichte, die ihm einen ehrbaren Lebenswandel ermöglicht. Diggelmanns Figuren kämpfen nicht gegen ein Bild, das die anderen sich von ihnen machen, sondern gegen ihr tatsächliches soziales Sein und für die Verwirklichung eines Bildes, das sie sich selbst erträumen. »Wenn Träume wahr werden« handelt von einem Mann, dem es nicht gelingt, seiner Rolle zu entfliehen, und von einem anderen, dem dies glückt, indem er seine Frau ermordet; zugleich »verhilft« er dem ersten zu einer anderen Identität, indem er den Verdacht der Tat auf ihn lenkt und ihn zur Flucht zwingt. Wenn Frischs Roman »im Grunde genommen die Struktur eines Krimis« hat (100), so könnte man von den beiden Diggelmann-Hörspielen sagen, dass sie nur scheinbar die Struktur von Krimis haben, in Wirklichkeit aber das Gelingen bzw. Scheitern eines Wechsels der Identität behandeln. Beides hinterlässt beim Hörer ein »Gefühl der Irritation« das nach Chandler den Intentionen des Kriminalromans zuwiderläuft, aber entfernt an die Entrüstung des Regisseurs am Ende von Dürrenmatts allererstem Hörspiel erinnert, der sich auch nicht mit der grundsätzlichen Unauflösbarkeit einer Doppelgängergeschichte abfinden kann. (vgl. Kap. 2.45)

 

(87) Waren für Diggelmann seine eigenen Geschichten zunächst ein Mittel im Kampf um einen »Platz an der Sonne«, so machte er sich später »die Geschichten anderer zu eigen. Ich schrieb die Geschichten derer, die nicht die Gabe hatten, ihre Geschichte zu erzählen, die sie nur erlitten, wehrlos und ausgeliefert. Es war für mich keine Überraschung, dass eines Tages eine Zeitungsredaktion anfragte, ob ich nicht Gerichtsberichterstatter werden wolle. Ich sagte zu, weil ich dachte, ich würde dabei mehr erfahren, weil ich wusste, dass Gerichtssäle eine Art Tiegel sind, in denen sich Lebensschicksale verdichten.« (Diggelmann, 1983, S.39)
(88) R.Chandler, Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment, Zürich (Diogenes) 1975, 76 f
(89) zit. nach: Roloff/Seesslen, 1981, S.18
(90) Anonym, Ist man noch Mann? »Wenn Träume wahr werden«. Hörspiel von W.M.Diggelmann (Interview), in: tvrz 36/75, S.70
(91) Roloff/Seesslen, 1981, S.31
(92) vgl. Diggelmann, 1983, S.16 f und S.29 ff
(93) Bucher/Ammann, 1970/71, S.247
(94) ib., S.244; vgl. auch Diggelmann, 1983, S.16, S.25 und S.36
(95) Sr., Der Häftling und der Polizist, in: NZZ, 28.4.71
(96) Bucher/Ammann, 1970, S.239
(97) Sr., a.a.O.
(98) Bucher/Ammann, 1970, S.265
(99) W.Schmitz, Walther Matthias Diggelmann, 12.Nlg. (1982), S.6, in: Arnold, 1978
(100) Hage, 1983, S.70; Hage stützt sich auf eine Bemerkung von Fr.Dürrenmatt über »Stiller«.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.gratis-besucherzaehler.de


Walter Matthias Diggelmann
(Foto: Jack Metzger, www.helveticarchives.ch)