Rezensionen

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 -1990

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

Das materialreiche Werk ist der erste wissenschaftliche Überblick zu seinem Gegenstand, ein Handbuch, das man fortan bei der Beschäftigung mit dem Hörspiel gerne benutzen wird, zumal es mit einem Hörspielverzeichnis sowie einem Personen- und Werkverzeichnis ausgestattet ist. [...] Die Stärke der Untersuchung liegt [...] in den zahlreichen eingehenden Studien zu einzelnen Werken, deren Inhalt und Wirkung fesselnd geschildert werden.     

dwo, Der Landbote


Das Hörspiel erforscht

Eine Dissertation, die Öffentlichkeit verdient, weil ihr Thema bislang weitgehend unreflektiert geblieben ist: Paul Weber befasst sich in seiner über 500 Seiten umfassenden Schrift mit dem Deutschschweizer Hörspiel. Ausführlich beschreibt er dessen Geschichte von der Radio-Pionierzeit in den 20er Jahren bis zum aktuellen «Hörspiel im Kontext eines konkurrenzorientierten Programms» und schildert zum Beispiel, wie sich in den 70er Jahren das Hörspiel zum «Einstiegsmedium» junger Autoren entwickelte. Über die Darstellung der Hörspiel-Dramaturgie - «zwischen Trivialität und Radiokunst» — gelangt Weber zu einer Typologie des Deutschschweizer Hörspiels und skizziert zum Beispiel «Musik als Hörspiel» oder «Das Hörspiel der absoluten Stimmen». Über 100 Seiten umfasst der «Anhang».      

mü, St. Galler Tagblatt, 13.4.1996


Mit Webers Monographie liegt die erste umfassende Studie zum Deutschschweizer Hörspiel von dessen Anfängen in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts bis 1990 vor. In fünf Teile untergliedert, versucht die Arbeit, mediengeschichtliche Entwicklungslinien nachzuzeichnen sowie anhand eines genau dokumentierten Korpus von Originalhörspielen Schweizer Autoren eine Systematisierung zunächst nach inhaltlichen, sodann nach formal-typologischen Merkmalen vorzunehmen.

Dem Gang der Untersuchung vorangestellt erscheinen deren Ergebnisse und Desiderata (S. 20ff.), was nicht unbedingt üblich ist, im Falle einer derart materialreichen Dokumentation aber dafür sorgt, daß auch der lediglich punktuell interessierte Leser sich schnell einen Überblick über das Phänomen in seiner Gesamtheit verschaffen kann. Dazu trägt auch der akribische Anhang bei, der die Orientierung in dem umfänglichen, den Anspruch eines Standardwerkes zwar nicht explizit erhebenden, diesem aber ­ zumindest für den Augenblick - durchaus gerecht werdenden Buch erleichtert. Um die anfallenden Stoffmengen zu bewältigen, war der Verf. gezwungen, „klare Merkpunkte" (S. 10) zu setzen. Temporär konzentriert sich seine Arbeit deshalb vor allem auf die Frühzeit des Genres (1925-1927) sowie auf den Abschnitt zwischen 1965 und 1990, in den auch die sogenannte Abteilungsperiode (1.1.1966 bis 31.12.1985) fällt, also jener Zeitraum, in dem bei Radio DRS eine spezielle Abteilung Dramatik mit allen das Hörspiel betreffenden Aufgaben befaßt war. Daß den dreieinhalb Jahrzehnten zwischen 1931 und 1965 nicht dieselbe - vor allem auch dokumentarisch zu Buche schlagende ­ Aufmerksamkeit gewidmet wurde, hält der Rezensent für bedauerlich, auch wenn er die arbeitstechnischen Gründe, die der Verf. für dieses Manko anführt, akzeptieren muß.

Nicht zu übersehen ist jedenfalls, daß die innovativste Zeit des Hörspiels der Deutschschweiz genau in jene Jahre fällt, eine Tatsache, die auch W. wiederholt betont. Zu denken wäre dabei vor allem an die Rolle, welche Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als Autoren für den Funk spielten, indem sie die dramaturgischen Gepflogenheiten des Genres bereits in den späten 40er/frühen 50er Jahren in Richtung „auf ein anti-illusionistisches Hörspiel" (S. 104) überschritten und damit als einzige Schweizer Autoren Tendenzen antizipierten, die erst im Laufe der 60er Jahre von den bundesrepublikanischen Vertretern des sogenannten „Neuen Hörspiels" aufgegriffen wurden. Über das Umfeld dieser Bemühungen hätte man gern Genaueres erfahren. Filtert man aus W.s Darstellung das für das Deutschschweizer Hörspiel in den vergangenen Dezennien Typische heraus, so wäre insbesondere auf jene Passagen hinzuweisen, die sich mit der kulturpolitischen Indienstnahme des Genres durch die sogenannte „Geistige Landesverteidigung" in den 30er/40er Jahren beschäftigen (S. 61ff., 262, 266), eine - literarische Qualitäten wenn nötig beiseite schiebende - Funktionalisierung von Kunst, bei der das Radio „die Rolle des Schulmeisters" (S. 65) übernahm und „Stoffe aus der Geschichte der Eidgenossenschaft" (S. 260) mit national stabilisierender Wirkungsabsicht präferierte. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang sowohl die Feststellung, daß die Flut von Bearbeitungen historischer Stoffe letztendlich nicht freigehalten werden konnte von „Anklänge[n] an die pathetische Sprache des Feindes, deren Faszination man allzu oft erlag" (ebd.), sowie die Tatsache, daß der konservativ-weltabgewandte Aspekt vieler Schweizer Hörspiele auch in der Zeit des Kalten Kriegs gewahrt blieb, was den Anschluß an internationale Entwicklungen behinderte.

Neben der Stoffressource des Historischen - „die erste dramatische Live-Sendung im Jahr 1925 griff [...] einen mythologischen Stoff aus dem Umfeld des historischen Bündnisaktes der Urkantone auf" (S. 300) - ist es wohl vor allem das Mundart-Hörspiel, welches als spezifisch Schweizerisches Produkt angesehen werden kann. Aus der "Dialektik von Mundart als Umgangssprache und hochdeutscher Standardsprache" (S. 18) lebende Radiosendungen genossen und genießen nicht nur hohe Popularität. Ihre kritische Reflexion vollzieht sich heute auch jenseits der einst automatischen Zuordnung zu den Bereichen „Schwank, Heimatschutz und biedere Erbauung" (S. 198) und erkennt einen Gutteil der Leistung des Genres eben im experimentellen Einbezug des Dialekts.

W.s Studie klingt aus mit einer kulturkritischen Betrachtung der unmittelbaren Gegenwart, konstatiert eine Stagnation in der Hörspielentwicklung und leitet daraus düstere Prognosen ab. Ob das „Radiokunstwerk Hörspiel dem Medium zum Opfer fällt, aus dem es entstanden ist" (S. 26), wird freilich entscheidend davon abhängen, inwieweit es sich generell anzupassen versteht an veränderte Funktionsweisen von und Umgangsarten mit Kunst. Insofern scheint es wenig hilfreich, einzustimmen in den elitären Klagechor über die allseitige Kommerzialisierung des Geistigen. Wesentlich wichtiger ist, was W.s Arbeit hauptsächlich leistet: das Vorliegende zu sammeln, zu ordnen, zu bilanzieren, damit es als Fundament nicht verlorengeht.

Dietmar Jacobsen, Erfurt, in: Referatedienst zur Literaturwissenschaft 29 (1997) 3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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