Jürg Amann, »Der Sprung ins Wasser« (1982)
Typoskript

 

Jürg Amanns Hörspiel »Der Sprung ins Wasser« (DRS-2,27.3.82) soll im folgenden als Beispiel eines »Hörspiels der poetischen Realität« interpretiert werden. Der Text ist im gleichen Jahr in einer Sammlung von Prosatexten des Autors im Druck erschienen. (217) Die Hervorhebung dieses Werks rechtfertigt sich vor allem auch wegen der besonderen Art der Realisierung, die ein ungewöhnliches radiophones Experiment darstellt und zugleich die Problematik der Interpretation von Amanns Parabel offenbar macht, wodurch auch wirkungsästhetische Aspekte des entsprechenden Hörspieltypus ins Blickfeld gerückt werden sollten. Die Mehrzahl von Amanns Hörspielen ist durch ausländische Sender, vornehmlich durch Radio Bremen, produziert worden. »Verirren oder Das plötzliche Schweigen des Robert Walser« (DRS-2, 16.12.80) entstand als Koproduktion unter Beteiligung von Radio DRS; diesem Hörspiel liegt ein zwei Jahre zuvor erschienener Prosatext zugrunde, der vom Autor für das Radio bearbeitet wurde. Ein reines Originalhörspiel ist hingegen »Max Daetwyler, Friedensapostel oder Der lange Weg nach Genf« (DRS-1,16.3.86), das im Rahmen einer Jubiläumsreihe im Auftrag von Radio DRS entstand; die experimentelle Tendenz, die dem Hörspiel »Der Sprung ins Wasser« durch die Besonderheiten der Inszenierung zukam, äussert sich hier auch in der Montageform des Textes, vor allem in der wirkungsvollen Kontrastierung von Dialekt und Standardsprache.

»Der Sprung ins Wasser« ist ein Kurzhörspiel, das nur wenig länger als eine Viertelstunde dauert, ein Monolog, der nicht ohne weiteres als innerer kenntlich ist, obwohl durch die »vorsätzliche Unwahrscheinlichkeit« (218) der Situation schon nach wenigen Worten klar wird, dass sich der an einen Verkehrspolizisten gerichtete Bericht des jungen Mannes mit den gewohnten alltäglichen Verhältnissen nicht vereinbaren lässt. Er beginnt folgendermassen:

»Ich hatte, Herr Polizist, nur meiner Bekannten die Stadt zeigen wollen, da war sie plötzlich in ein Meer getaucht, mitten in der Stadt. Man muss sich das vorstellen.« (S.1)

Die Redensart: »Man muss sich das vorstellen« ist, beim Wort genommen, der Schlüssel, doch wird im Unterschied zu Silja Walters Hörspiel (vgl. Kap.4.241) hier nicht unterschieden zwischen einem Vorstellenden und der vorgestellten Welt; charakteristisch für das »Hörspiel der phantastischen Realität« ist eben das Fehlen jedes Hinweises auf eine Objektivierung innerer Wirklichkeit, der Zusammenfall von Subjektivität und Objektivität. Das Ineinanderfiiessen von innerer und äusserer Wirklichkeit ist im Fall dieses Hörspiels auch entstehungsgeschichtlich bedingt, wie der einführende Text im Hörspiel-Bulletin verrät:

»Am Anfang zu diesem Hörspiel stand ein Traum, in dem eine junge Frau mitten in der Stadt vom Randstein herunter ins Wasser des offenen Meeres sprang, in das sich die Stadt plötzlich verwandelt hatte. Später, vor dem Hintergrund einer inzwischen wirklich in die Krise geratenen Beziehung einerseits und einer aus scheinbar heiterem Himmel heraus tatsächlich aufgebrochenen Stadt andrerseits, bekam dieser Traum unversehens seine konkrete Bedeutung. Aus seiner schichtweisen Ausdeutung in schmerzvoller Trauerarbeit durch den betroffenen, doppelt verunsicherten Mann entstand eine Partitur für eine Stimme und die Geräusche einer Stadt.« (219)


Der Mann schildert im folgenden die genaueren Umstände des Untertauchens seiner »Bekannten«, seine Hilflosigkeit, seine anfängliche Hoffnung, sie werde ihren Koffer loslassen, den sie sich nicht hatte abnehmen lassen und der sie nun in die Tiefe zog. Alptraumhaft wirkt auch die Beschreibung der Nöte, in die ihn der Versuch gestürzt hat, sich seiner Kleider zu entledigen: Schuhsenkel, Hose, Hemd, Kravatte, alles an ihm hatte sich »verknotet«, so dass an eine spontane Rettung der Frau nicht zu denken war. Dazwischen schiebt sich die Erinnerung an die vorhergehende Nacht, die er mit ihr verbracht hat; aus der expliziten realistischen Darstellung, die zur befremdenden Wirkung des bisher Erzählten im Gegensatz steht, wird deutlich, dass sie weit mehr als eine »Bekannte« sein muss; der Ausdruck schien am Anfang durch die Situation der Zeugenaussage gerechtfertigt, doch wenig später erfährt man, dass es sich um seine langjährige Freundin und Geliebte handelt. Am Springen hindert den Mann auch die Erinnerung an einen Schulfreund, »der niemals zuvor einen Toten gesehen hatte und dann beim Begräbnis der Grossmutter ins Grab hinein-, ins Grab hinuntergesprungen war, ohne zu zögern, seiner Grossmutter nach.« (S.3) Die Beziehung, die mit dem Sprung ins Wasser ihr Ende gefunden hat, wird nun Schicht für Schicht freigelegt; zunächst stellt sich die Angst ein, sexuell versagt zu haben; danach die Erinnerung an einen Strauss langstieliger Rosen unbekannter Herkunft, Anflüge von Eifersucht auf den mutmasslichen Rivalen, der Verdacht, die Entschwundene habe ihren Auszug von langer Hand vorbereitet, habe »womöglich längst schon, seit Wochen, kofferweise, mal für mal, ihre Sachen von [ihm] weggeholt und zu dem anderen Mann gebracht«. (S.5) Da stellen sich auf einmal Fragen über Fragen ein:

»Aber warum hatte ich nicht gefragt? [...] Wusste ich überhaupt, welche Schuhgrösse sie trug? Welche Farben die Augen hatten? Hätte ich den Wellenschlag ihrer Tage angeben können?« (S.5)

Hat sie ihn tatsächlich ohne Vorwarnung verlassen, oder hat er die Anzeichen überhört, nicht hören wollen? In der untersten Schicht, die er aufdeckt, stösst der Fragende auf sich selbst. Seine Mutmassung, vielleicht habe er sie »vor lauter blindem Vertrauen aus den Augen verloren«, klingt wie eine Erkenntnis; von daher scheint es ihm nun sogar möglich, dass er die Frau »geradezu selber ins Wasser gestossen habe«. (S.6) So gesehen spiegelt der Bericht eine Kehrtwendung von der anfänglichen Perspektive des Mannes, der in der vermuteten Untreue der Frau die Ursache des Scheiterns der Beziehung sieht, zur Übernahme der möglichen Perspektive der Frau, die er vielleicht selbst in seiner »Blindheit [...] vom Randstein gestossen« hat. Am Schluss sieht sich der Monologisierende, wie er auf der Strasse stand: »Ich hatte die Manschettenknöpfe endlich vom Hemd abgerissen, die Kravatte war aufgebunden, die Schnürsenkel waren gelöst.« (S.7) Er scheint mit seinen »Verknotungen« (S.2) fertig geworden zu sein. Der »Herr Polizist« wird noch einmal direkt angesprochen, der offenbar ungerührt den nun wieder zirkulierenden Verkehr regelt. Die Frage: »Warum sprang ich nicht? Warum war ich denn nicht gesprungen?« (S.7) bleibt unbeantwortet.

Der letzte Satz aber lautet: »Ich stand am Randstein, hatte die Jacke natürlich ausgezogen und erkannte die eigene Stadt nicht mehr.« (ib.) Durch die ganze Rede hindurch zieht sich das Bild der Stadt, der »Geburtsstadt«, der »Heimatstadt« (S.7), die durch den überraschenden Aufbruch der Frau plötzlich »aufgebrochen [war], ohne die leiseste Ankündigung, die immer ein Ort des sicheren Bodens gewesen war, seit Menschengedenken, jedenfalls seit ich auf der Welt war.« (S.4) Diese sichere Stadt hatte der Berichtende seiner »Bekannten« - nach fast sechs Jahren des Zusammenlebens »zum erstenmal« (S.7) - zeigen wollen, und nun erstreckte sich vor seinen Augen das »offene Meer, zu dem sie die Stadt [...] gemacht hatte.« (S.4) Auf einer ersten Ebene kann »Der Sprung ins Wasser« als Darstellung des Endes einer Beziehung, die allmählich eingeschlafen ist, vor dem Hintergrund einer Stadt im Aufbruch - der Zürcher Jugendunruhen der beginnenden achtziger Jahre - verstanden werden, doch erschöpft sich das Hörspiel nicht in dieser zeitgeschichtlich-biographischen Dimension. Zur Parabel wird es durch die Überlagerung der beiden Bilder der Stadt und des Meeres, die dem Strukturprinzip des »Hörspiels der poetischen Realität« genau entspricht: Die empirische Realität der Stadt mit Ihrem Verkehr und die poetisch-phantastische Realität des Meeres fliessen ineinander. Die Ambiguität des Textes wirkt bis in die hochpräzise Sprache dieses sonderbaren Unfallrapports hinein: Die »Insel«, auf welcher der Polizist steht (S.7), kann sowohl metaphorisch als Podest zur Verkehrsregelung als auch im eigentlichen Sinn als Insel im Ozean gesehen werden; die Rück-Verschiebung von der phantastischen zur realistischen Perspektive vollzieht sich am Schluss in einem Satz:

»Ich starrte ins Wasser, aufs offene Meer hinaus, die Schaumkronen auf den sich brechenden Wellen betrachtete ich, wo Sie jetzt stehen, auf Ihrer Insel, Herr Polizist, wo nun der Verkehr wieder rollt, als ob nichts geschehen wäre, der Schwerverkehr, der Stossverkehr, der Werktagsverkehr.« (S.7)

Diese Doppeldeutigkeit hatte sich zuvor schon in der Metapher vom »Wellenschlag ihrer Tage« (S.5) und auch, in starker Konzentration, auf dem Höhepunkt der Selbsterkundung bemerkbar gemacht: Die Wörter »Strasse«, »Strand« und »Strassenrand« überschneiden sich im Hinblick auf ihr »signifiant« wie die bildlichen Wendungen »blindes Vertrauen«, »aus meinen Augen verloren« und »in ihren Augen« hinsichtlich ihres »signifiés«. In den Formulierungen »vor den Kopf gestossen« und »ins Wasser gestossen« überlagern sich die metaphorische und die lexikalische Bedeutung des Verbs »stossen«. In dieser Passage - sie wird anschliessend zitiert - ist Sprache ins Gleiten geraten:

»Aber sie hatte nichts gesagt. Oder ich hatte es überhört. Vielleicht hatte ich es einfach nicht hören wollen. Jetzt stand ich da, auf der Strasse, am Strand, am Strassenrand. Vielleicht war mein Vertrauen einfach zu blind gewesen, dachte ich, einfach zu blind gewesen für sie. Vielleicht hatte ich sie vor lauter blindem Vertrauen aus meinen Augen verloren. In ihren Augen. Vielleicht, musste ich plötzlich denken, hatte ich sie durch meine Blindheit vor den Kopf gestossen. Vielleicht hatte ich sie geradezu selber ins Wasser gestossen, in meiner Blindheit, ohne es freilich zu merken. Am Ende war sie vielleicht gar nicht gesprungen. Am Ende hatte ich meine Bekannte beim Gehen mit meinem Ellbogen vom Randstein gestossen.« (S.6)

Dem Fluss der Gedanken, der sich hier sinnfällig sprachlich äussert, und dem gleitenden Wechsel der Perspektive widersprechen die Erstarrung und Verknotung, aus der sich der Berichtende nur mit Mühe befreien kann, und sein Zurückbleiben am Strassenrand, auf dem Randstein als der äussersten Grenze zwischen dem festen Boden der Stadt und dem Meer. Grosse Distanz zum Geschehenen drückt sich vor allem auch in der Vergangenheitsform des Berichts und in der Monologsituation aus. Für den Mann bedeutet der Sprung Trennung durch »die Tiefe des Meeres, das sich plötzlich zwischen uns aufgetan hatte« (S.3); im Wasser sieht er eine tödliche Bedrohung. Gemeinschaft mit der Frau stellt sich erst nachträglich und nur vorübergehend im denkenden Nachvollzug ein, der den Sprung ins Wasser und das Abtauchen spiegelt. Für sie hingegen scheint es ein Akt der Befreiung, ein Aufbruch, eine Chance zur Erneuerung zu sein.

Der Mann am Rande des »Abgrunds« (S.3) ist in derselben Situation wie der Artist in der Erzählung »Der Traum des Seiltänzers vom freien Fall«, der aus Verzweiflung über sein Versagen seinen Beruf aufgeben will; »die wahre Meisterschaft« und »den höchsten Gipfel« seiner Kunst sieht er nicht in der fehlerlosen Beherrschung des Seiltanzes, sondern im Sturz, im freien Fall: »Nur wenn man ihn beherrscht, als einen Kunstschritt unter Schritten, nur dann hat Seittanz einen Sinn, beherrscht man sich, ist man der Meister seiner selbst. Sonst nicht.« (220) Eine Fortsetzung seiner Darbietungen scheint nur möglich durch die Einführung des Netzes, eines Hilfsmittels, durch das der Balanceakt wenigstens andeutungsweise um die Dimension des Sturzes erweitert wird. Der Monolog des Mannes auf dem Randstein entspricht dem Traum des Seiltänzers vom freien Fall ebenso wie dem Wunsch von Kafkas Trapezkünstler nach einem zweiten Trapez in der Erzählung »Erstes Leid«. Die Vollendung dieser Kunst besteht in letzter Konsequenz darin, das Seil, die Trapezstange, den Grund unter den Füssen zu verlieren: Der schöpferische Akt bedeutet in letzter Konsequenz den Tod, was im Hörspiel durch die Erinnerung an den Sprung des Schulfreundes ins Grab der Grossmutter angedeutet wird.

Die Titelerzählung, ein weniger von Kafka abhängiger Text, der die Sammlung »Die Kunst des wirkungsvollen Abgangs« abschliesst, fasst das Motiv des Meeres in der Stadt als Chiffre für die Antithese von Kunst und Leben: »Venedig ist eine konkrete Stadt mit pulsierendem Alltagsleben, eine Stadt, die das Leben verkörpert. Gleichzeitig ist Venedig ein Kunstwerk an sich, auf Nichts gebaut, und sichtlich vom Untergang bedroht.« (221) Dem Anfang des Hörspielmonologs entspricht das innere Erleben des Dichters in Venedig: »Das plötzlich steigende Wasser [...], aus Rissen in Plätzen, Gassen und Bodenplatten der Kirchen ist es heraufgesickert« (222); mit dem Stück, das er schreiben will, muss er in seinem Hotel »von Stockwerk zu Stockwerk höher steigen« (223); die Szene des Stücks besteht aus einem »offenen Pfahlbau, in den aufgehängt auf verschiedenen Höhen sich ruinöse venezianische Fragmente befinden, so dass der von Bild zu Bild höhere Spielort auch das nachsteigende, an den Pfählen und den früheren Spielorten fressende Wasser symbolisiert und die Zuschauer eigentlich die schon Überfluteten sind.« (224) Der Text, der sich als Entstehungsbericht des 1976 uraufgeführten Stückes »Das Ende von Venedig« gibt, endet mit der Flucht des Autors aus der untergehenden Stadt. Im Vergleich damit erweist sich »Der Sprung ins Wasser« als verschlüsselte Variation des Themas, das Amanns ganzes Werk durchzieht, was zusätzlich durch den Hinweis des Autors bestätigt wird, die aufgebrochene Stadt sei auch als »Chaos im schöpferischen Sinn« zu verstehen. (225) Der unauflösbare Widerspruch zwischen »einer durchgehenden Stimmung des Todes und des Untergangs« in seinen Werken und der Tatsache, dass Amann gleichwohl Kunstwerke schafft (226), ist im Hörspiel »Der Sprung ins Wasser« in der Situation des Mannes auf dem Randstein aufgehoben. »Spuren sichern«, so denkt der fiktive Autor in Venedig, »sich auf die Spur kommen, eine Spur hinterlassen, das ist alles, was wir noch können.« (227)

Dass man in den fünfziger Jahren das anspruchsvolle Hörspiel als eine literarische Gattung betrachtete, fand seinen Ausdruck unter anderem in zahlreichen gedruckten Hörspiel-Anthologien. Damit war der Autor zwar in den Rang eines Dichters erhoben, aber dies bedeutete zugleich, dass seine Funktion sich im »Lieferantentum« erschöpfte, das Brecht in seinen radiotheoretischen Schriften kritisiert hatte; die Regisseure verstanden sich dementsprechend häufig als »Re-Produzierende« im Dienste der Autoren. (229) Dieses Verhältnis hat sich bis heute in der Schweiz nicht grundsätzlich verändert, da Autoren im Sinne von »Hörspielmachern«, die mit dem Metier der Produktion vertraut sind, die seltene Ausnahme darstellen. Immerhin hat sich das Selbstverständnis der Regisseure und der Autoren unter dem Einfluss der experimentellen Tendenzen seit Ende der sechziger Jahre gewandelt. Grundlage der Produktion ist in der Regel nach wie vor ein ausformulierter Text, der aber nicht selten aufgrund der Beratung durch den Regisseur vom Autor modifiziert wird. Dieser versteht seine dramaturgischen Vorstellungen als Vorschläge, die dem Regisseur bei der konkreten Realisierung einen grossen Freiraum lassen. Jürg Amann hat sein Manuskript mit detaillierten Angaben zu den Geräuschen (Sirene eines Notfallwagens, fahrende und läutende Trams, Polizist mit Trillerpfeife, Autohupen, Fahrradklingeln, aufheulende Motoren) versehen. Der Wechsel von Text- und Geräuschblöcken sollte dazu dienen, dem Hörspiel einen Rhythmus zu verleihen.229 Zur Veränderung der Intensität beider Komponenten heisst es am Schluss:

»(War seine Stimme am Anfang noch laut gewesen, um den Verkehrslärm zu übertönen, ist sie dann, während der Verkehrslärm lauter geworden ist, immer leiser geworden, bis er nur noch zu sich selbst gesprochen hat. Nun schwillt der Verkehrslärm noch einmal an, um dann ganz sanft von der Meeresbrandung weggespült zu werden.)« (S.7)

Die Regisseure Walter Baumgartner und Franziskus Abgottspon reizte es, ausgehend vom Vorschlagscharakter dieser »Partitur für eine Stimme und die Geräusche einer Stadt«, unabhängig voneinander mit verschiedenen Darstellern ihre je eigene Interpretation des Textes akustisch zu realisieren. Da es sich um ein Kurzhörspiel handelt, konnten die beiden Versionen nacheinander gesendet und durch ein Gespräch unter Beteiligung der beiden Regisseure und des Autors ergänzt werden. Schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass alle Vorschläge des Autors in beide Inszenierungen eingegangen sind, dass es also die Art und Weise der Verwendung dieser Elemente, der Regiestil, Ist, der zwei den Beteiligten als »gegensätzlich« (230) erscheinende Produktionen entstehen liess. Walter Baumgartner hat sich an Amanns Hauptvorgabe gehalten und die Einschnitte zwischen den Textblöcken durch Geräusche einzelner Verkehrsmittel markiert, die zum Teil kurz ein- und wieder ausgeblendet, zum Teil auch angeschnitten werden; während des Monologs ertönen zusätzlich an bestimmten Stellen Tramglocken, Veloklingeln, Autohupen und eine Trillerpfeife, die wie akustische Interjektionen wirken. Sein Konzept Ist ganz auf den oben zitierten zentralen Abschnitt (S.6) ausgerichtet, bis zu welchem die Lärmintensität und die Häufigkeit der Unterbrechungen durch Geräusche zunimmt. Das Mikrophon vertritt die Stelle des Polizisten, zu dem der Mann aus verschiedenen Positionen zwischen rechts und links, nah und fern spricht; die anfänglich grössere Distanz, die ihn zu lautem Sprechen zwingt, verringert sich im Laufe des Spiels und wird von einer eindringlicheren Sprechweise abgelöst, die den Eindruck zunehmender Intimität vermittelt. Am Schluss geht der Sprechende wieder auf Distanz zum Mikrophon. Bis etwa zur Mitte des Spiels sind zwischen den Textblöcken Fahrzeuge zu hören, die sich von links nähern und nach rechts davonfahren oder umgekehrt. Darauf nähern sich verschiedene Verkehrsmittel und halten an; zugleich nehmen die Hup- und Klingelzeichen in ihrer Häufigkeit und Intensität zu, so dass der Eindruck eines Verkehrsstaus rund um den Polizisten entsteht; hierin hält sich der Regisseur ebenso an den Wunsch des Autors, wie er dessen Anweisung: »der Verkehr setzt sich wieder in Bewegung« befolgt, indem er die Fahrzeuge kurz vor dem Ende einzeln wegfahren lässt. Am Schluss ertönen der Reihe nach kurzes Vogelzwitschern wie schon am Anfang, das Geräusch eines ins Wasser fallenden Körpers und schliesslich starke Brandung.

Franziskus Abgottspon hat mit seiner Inszenierung den ganzen Spielraum der interpretatorischen Freiheit ausgeschöpft. Seine Version spielt vor einem permanenten Geräuschhintergrund wie die spätere Produktion »Di grüen Linie« von Emil Zopfi (vgl. Kap. 4.211). Zu Beginn ist kurz ein Martinshorn zu hören, wie im Manuskript des Autors vorgesehen; aus dem Verkehrslärm heben sich von Zeit zu Zeit intensivere Motorengeräusche, Hupen, Tramglocken, Pfiffe einer Trillerpfeife heraus. Schon nach dem ersten Drittel sind zudem Wellengeräusche zu vernehmen, die wieder verebben; der Gedanke des Mannes, er habe möglicherweise die Frau ins Wasser gestossen, ist ganz von sanftem Wellenschlag untermalt; und am Schluss mischt sich der Verkehrslärm mit Möwengeschrei und dem Tosen von Brandung. Die einschneidendste Veränderung besteht in der bis zu dreifachen Wiederholung einzelner kürzerer Textpassagen in verschiedener Sprechweise und Nähe zum Mikrophon wobei es gelegentlich sogar zu Überschneidungen solcher Monologteile kommt. Dadurch wird der Monolog in drei Ebenen von verschiedener Qualität differenziert: An den Polizisten richtet sich die rufende, distanzierte Stimme; eine andere setzt dagegen den Ton eines nüchternen Berichts; dazu kontrastiert besonders stark die Intimität einer leisen, nahen Stimme, die als innere Stimme des Mannes erlebt wird. Diese Wiederholungen hemmen den Fluss des Textes anfangs stark und bilden ein dramaturgisches Pendant zu den »Verknotungen« des Mannes; parallel zu seiner äusseren Befreiung und inneren Inspiration nehmen diese Stauungen ab, verflüssigt sich der Monolog; statt der Rückgriffe auf bereits gesprochene Sätze werden dem Text nun synchron geflüsterte Passagen unterlegt; durch diese Reduktion fällt desto mehr auf, dass der Abschnitt, in dem sich die gedankliche Wende vollzieht, - er wird zudem durch leise Trillerpfiffe signalisiert - in seiner ganzen Länge wiederholt wird. Die Fragen am Schluss: »Warum sprang ich nicht? Warum war ich denn nicht gesprungen?« werden in der Art eines Echos im Hintergrund dreimal nachgesprochen, wodurch eine insistierende Wirkung entsteht.

Zur Charakterisierung dieser beiden unterschiedlichen Realisierungen behalfen sich die Teilnehmer der Gesprächsrunde vornehmlich mit Metaphern aus dem Bereich der Musik und der bildenden Kunst. Die Version Baumgartner wurde mit Kammermusik verglichen und als zeichnerisch, zeichenhaft, schmal, scharf konturiert, asketisch bezeichnet. Der Regisseur assoziierte Bilder von Magritte mit diesem Werk. Einem Kritiker erschien seine Inszenierung »wie zentralsymmetrisch aufgebaut um eine imaginäre Mitte, in der die Stille stehen würde.« (231) Die Version Abgottspon dagegen wurde als reich instrumentiertes Orchesterstück empfunden, als Weg, der nicht geradlinig, sondern spiralförmig verläuft, den Gegenstand einkreist, als ein grüblerischer Denkprozess, als surrealistisches Gemälde mit starken Traumelementen, das dem Regisseur selbst wie eine Mischung zwischen Dali und Hieronymus Bosch vorkommt. Dem Autor liegt die erste Version näher, die mehr mit dem Verstand aufgenommen werden könne, während er sich der zweiten Version mehr ausgeliefert fühle. Trotz der provozierenden Wirkung erklärt er sich rückblickend auch mit dieser freieren Interpretation einverstanden, bemerkt aber, dass wohl die scharfen Zeichen der asketischen ersten Version mehr »weh tun«, das heisst wohl: eine stärkere Wirkung entfalten.

Die stilistischen Unterschiede zwischen den beiden Regieversionen haben ihre Entsprechung in der typologischen Differenzierung des experimentellen Hörspiels, die im folgenden (Kap.4.4) beschrieben wird. Der permanente Geräuschhintergrund, die relativ diskret eingesetzten Signale sowie die weichen Übergänge zwischen Verkehrslärm und Brandung in Franziskus Abgottspons Fassung umgeben den Monolog mit einer realistischen Ambiance, wie sie in einem Feature oder Originalton-Hörspiel auftreten könnte; Parallelen zeigen sich auch zu Geräuschkompositionen in experimentellen Musikhörspielen. Da auffällige Brüche fehlen, kann der Eindruck einer geschlossenen Realität sui generis entstehen, was dem »Hörspiel der poetischen Realität« in idealer Weise entspricht. Walter Baumgartners Inszenierung hingegen betont durch den rhythmischen Wechsel zwischen Text- und Geräuschblöcken, durch Sprünge zwischen verschiedenen Sprecherpositionen, durch harte Schnitte und teils schrille Signale den artifiziellen Charakter der Montage und erzielt so, zusätzlich zur befremdenden Wirkung des Monologs, einen verfremdenden Effekt. Dies entspricht eher dem Montagehörspiel und dem experimentellen Sprachspiel, deren Dynamik sich aus der Disparität der Teile entwickelt und die gedankliche Aktivierung des Hörers zum Ziel hat. Dieser nimmt die Position des Polizisten ein, von der aus die ganze Szene perspektivisch wahrgenommen wird. Der Eindruck, im Zentrum des Geschehens zu stehen, wird durch das stetige Näherrücken des Mannes und parallel dazu durch die Entstehung eines Verkehrsinfarkts verstärkt. Diese Anordnung hat eine entfernte Ähnlichkeit mit der Inszenierung von Meiers »Salsomaggiore« (vgl. Kap. 4.231) mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass keine innere Stimme zu vernehmen ist; der Hörer erlebt sich als der angesprochene Aussenstehende, als stummes Gegenüber des Mannes. Alles, was er hört, dringt von aussen auf ihn ein. Dem Gefühl von Distanz, das dadurch entsteht, wirkt die Tatsache entgegen, dass es aus dieser eher unangenehmen Situation kein Entrinnen gibt. Der Hörer sieht sich so einer surrealen Welt gegenübergestellt, in der innere und äussere Wirklichkeit als scharf voneinander getrennt, aber doch in geheimnisvoller Weise aufeinander bezogen erscheinen.

In Abgottspons Inszenierung ist der Hörer von einem weiten Raum umgeben, der durch die Kulisse der Verkehrsgeräusche während des ganzen Spiels präsent ist. In diesem Raum spricht der Monologisierende aus verschiedenen Positionen, ohne dass deren Wechsel besonders betont wird. Entscheidend ist die Differenzierung in drei Stimmen, deren eine als intime, innere Stimme wahrgenommen wird. In solchen Passagen wird damit dem Hörer in der Art eines inneren Monologs die Möglichkeit der Identifikation mit der Figur angeboten. Alternierend dazu erlebt er die Stimme aber auch als objektive, von aussen an sein Ohr dringende. In dieser Version ist der Hörer also selbst in das Oszillieren zwischen Subjektivität und Objektivität hineingenommen, das er in Baumgartners Version von aussen beobachtet. Hier soll er nicht in kritischer Distanz gehalten, sondern ins Geschehen miteinbezogen werden, Stauung und Lösung miterleben, sich betroffen fühlen; entsprechend suggestiv wirken die Fragen am Schluss. Sie stellen auch das Verhalten des Hörers in Frage. Vielleicht war es das, was der Autor an dieser Fassung, der er sich mit Grund mehr ausgeliefert fühlt, als besonders schmerzhaft empfand. Zusammenfassend darf man sagen, dass die beiden Regieversionen tatsächlich gegensätzlich sind und dass sich in dieser Gegensätzlichkeit die Bandbreite der wirkungsästhetischen Möglichkeiten eines »Hörspiels der poetischen Realität« manifestiert. Diese reichen von der Einbindung des Rezipienten in eine traumartige Wirklichkeit bis zur quasi objektiven Darstellung einer surrealen Wirklichkeit; eine stark befremdende Wirkung ist beiden Fassungen eigen. Die Version Abgottspon scheint der traditionellen Form des Typus näherzustehen, während sich Baumgartners Realisierung in Richtung auf eine experimentelle Erneuerung bewegt.

 

(217) J.Amann, Das Meer in der Stadt, in: Amann, 1982, S.83 ff
(218) che., Nicht zweimal das gleiche: »kontradiktorische« Inszenierungen desselben Texts, in: NZZ, 29.3.82
(219) Pgr 1/82, S.14
(220) J.Amann, Der Traum des Seiltänzers vom freien Fall, in: Amann, 1979, S.27
(221) R.Williams, Jürg Amann, )17.Nlg. (1984), S.5, in: Arnold, 1978
(222) J.Amann, Die Kunst des wirkungsvollen Abgangs, in: Amann, 1979, S.103
(223) ib., S.104
(224) ib., S.100 f
(225) Gespräch im Anschluss an die Sendung des Hörspiels
(226) R.Williams, a.a.O., S.6
(227) Amann, 1979, S.96
(228) K.Schöning, Hörspiel als verwaltete Kunst, In: Schöning, 1970, S.252
(229) Gespräch im Anschluss an die Sendung des Hörspiels
(230) vgl. Pgr 1/82, S.14
(231) che., a.a.O.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.gratis-besucherzaehler.de