Peter Bichsel , »Inhaltsangabe der Langeweile« (1972)
Typoskript

 

»nichts - erzählen
nichts - erfinden
sich nicht - erinnern
Dinge erzählen - damit nichts erzählt wird
Dinge erfinden - damit nichts erfunden wird
sich erinnern - bevor sich die andern erinnern« (S.1)

Mit Formeln der Weigerung beginnt »Inhaltsangabe der Langeweile« (DRS-2,16.4.72), das erste und einzige, mit dem »Prix Suisse« ausgezeichnete Hörspiel von Peter Bichsei. Es endet mit der Gegenposition: »ja, ich erinnere mich / wir erinnern uns und wir erzählen uns das, woran wir uns erinnern - weisst du noch?« (S.23) Die Paradoxie, die sich im Vorsatz, Dinge zu erzählen, damit nichts erzählt wird, ja früher schon im Gedankenstrich bzw. der diesem entsprechenden kurzen Pause zwischen den ersten Worten, ausdrückt, bestimmt als dialektische Spannung zwischen Form und Inhalt den ganzen »Hörtext« (351). Das Erzählen, die Erinnerung als Wert an sich ist dessen Gegenstand, der an die Stelle einer Handlung tritt. Das Dilemma ist unauflöslich, wie sich der Autor generell für den »Raum des Nicht-Entscheidbaren« ausgesprochen hat. (352) Da wir »in Geschichten leben« (353), ist ohne Inhalte nicht auszukommen. Das Geschichtenerzählen geht auf ein menschliches Grundbedürfnis zurück: auf den elementaren Drang, sich zu äussern. Der Betrunkene, der endlos über Eishockey redet, meint etwas ganz anderes, Persönliches; dem Hund steht nur eine Form des Lautgebens für den Ausdruck aller Seelenregungen zur Verfügung. »Etwas schreiben und etwas zweites damit meinen« hat für Bichsei »etwas Literarisches«. Der Zweck des Erzählens ist nicht primär »Information«, sondern »Kommunikation«, das Thema kann blosser Vorwand für eine Äusserung sein. (354) »Der notwendige Inhalt ist der Träger der Erzählung; nicht die Erzählung ist der Träger des Inhalts.« (355) Bichseis Interesse am Erzählen entspricht genau dem, was Franz Mon als Grundthematik experimenteller Hörspiele und als deren »Modellcharakter« erkannt hat: Sie »haben die kommunikative Situation direkt zum Thema«, machen auf »Phänomene und Probleme unseres Kommunizierens, unserer Sprachverfassung« aufmerksam. (356)

»Literatur ist nicht das Leben, nicht die Beschreibung des Lebens. Man kann leben ohne Literatur. Literatur ist etwas Zusätzliches. In der Literatur übernimmt die Sprache eine andere Funktion als beim Sprechen. Literatur kann durch Sprachlosigkeit entstehen, durch Verweigerung des Sprechens.« (357) Geschichten werden erzählt, »damit nichts erzählt wird«, nichts Konkretes, Wirkliches, Relevantes, nichts Aussergewöhnli- ches, aber »etwas Zusätzliches«, was in der »Sprache vieler (Vergangener und Gegenwärtiger)« mitenthalten ist (358), eine Vielzahl von Realitäten, die mithin als »Möglichkeiten« bezeichnet werden können. (359) Solche Geschichten erfordern vom Leser - und im Falle des Hörspiels vom Hörer - »Lange-Weile, lange Zeit«, »Müsse«. (360) Verwandt mit Langeweile ist der Ausdruck »Längizyt«, der auf Schweizerdeutsch »Sehnsucht« bedeutet. Bichsei meint damit eine durchaus romantische Sehnsucht des Lesers bzw. Hörers »nach einer anderen Welt« (361), die durch Erinnern, durch Erzählen um seiner selbst willen wachgerufen wird; in diesem Sinn darf sein Hörspiel als »ein romantischer Text« bezeichnet werden. (362) Urs Widmer hat den Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der bei Bichsei im Begriff der Langeweile zusammenfällt, in seinem Essay »Das Normale und die Sehnsucht« behandelt und zuvor schon in seinem Hörspiel-Erstling gestaltet. Geschichtenerzählen entspricht nicht nur einem menschlichen Grundbedürfnis, Geschichten müssen auch erzählt werden, damit »die Tradition des Erzählens [...] nicht ausstirbt« (363). Dies bezeichnet nicht eine formalistische, ästhetizistische Haltung. Bichsei meint, dass wohl nicht der einzelne Schriftsteller, aber die Literatur als Ganzes die Welt verändern könne. Als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Gegenwelt ist sie subversiv. (364) Die Möglichkeit einer Vielzahl von Geschichten steht im Gegensatz zur einen Wirklichkeit der Geschichte, deren Hauptexponenten, Politiker und Historiker, glauben, dass man sie »nicht in die Mehrzahl setzen könne.« (365)

Von den Personen, deren Namen die »subjektive, sentimentale Hörspielstimme« im Hörspiel »Inhaltsangabe der Langeweile« immer wieder nennt, kann der Hörer sich kaum eine Vorstellung machen; es sind aber die Namen von wirklichen Freunden und Bekannten des Autors. (366) Auch die Figuren von Giuseppe Verdis »II Trovatore«, dessen verwirrende Inhaltsangabe in Fragmenten nebst einzelnen Dialogpartien das einzige Moment einer Handlung in diesem Hörspiel darstellt, »sind nur Stimmen; was, für wen und aus welchem papierenen Anlass sie singen, ist ganz gleichgültig.« (S.21) Dass aber ihr Gesang zu erschüttern vermag, daran erinnert sich die »subjektive, sentimentale Hörspielstimme« (S.18; S.20), kurz bevor am Schluss sich Erinnerung als Monolog der subjektiven Stimme für einen Moment im Erleben erfüllten Daseins verwirklicht. Die Oper erscheint als Modell eines Werks, das Inhalte, Handlung primär als Anlass zum »Lautgeben«, zur »Äusserung« braucht; doch im Unterschied zum Sprachkunstwerk tritt in ihrer musikalischen Form das »Unsagbare« selbst in Erscheinung, dessen Oberfläche der Schriftsteller nach Max Frischs Bestimmung mit Sprache freizulegen versucht, so dass sie als »eine Art von tönender Grenze« wahrnehmbar wird. (367) Bichsei nennt die Form dieser Annäherung den »Erzählton«, der lange nachwirken kann, die »Erzählatmosphäre«; im Gegensatz zu einer solchen Auffassung der schriftstellerischen Tätigkeit steht die Vermittlung blosser Inhalte, etwa in der Trivialliteratur. (368) »Inhaltsangabe der Langeweile« ist als Hörtext eine Art Geschichte »über die Unmöglichkeit, eine Geschichte zu schreiben«, und damit eine »Geschichte vom Leben, das man nicht leben kann.« (369) »Längizyt« und »lange Weile« sind aufgehoben in der »Langeweile«. Die Pause zwischen »nicht« und »erzählen«, die Schnitte zwischen den Textfragmenten der Montage sind der genaue Ort der Sehnsucht nach der Gegenwelt, nach dem Leben. Bichseis Hörspiel behauptet die Beschreibung der Unmöglichkeit des Erzählens gegen die Illusion einer in sich geschlossenen, fiktiven Welt, wie sie das traditionelle Hörspiel konstituiert; dieser Prozess der Beschreibung ist nicht abschliessbar, wie die Reihung von »und« am Ende des Hörtextes andeutet.

Am Schluss fragt der Interviewer den greisen Verdi, warum er denn seine Einfälle niederschreibe, die dieser als »Experimente der Altersschwäche« (S.21) abtut. Der »Maestro« gibt eine Antwort, die eines Günter Eich würdig wäre: »Ich kann diese Dummheiten nicht ganz lassen.« Frisch hat die Frage mit einer knappen Gegenfrage beantwortet; »Warum nicht!« (370) Bichsei holt in einem Aufsatz etwas weiter aus, beharrt aber letztlich auf der »Unbeantwortbarkeit der Frage«. (371) Seine Gegenfrage lautet: »Wann und warum hast du mit Schreiben aufgehört?« (372) Dass Schreiben, Erzählen auch für ihn wie für Günter Eich ein »Übersetzen« aus einem magischen Urzustand bedeuten könnte, wo Wort und Gegenstand eins sind, darauf deuten einige Passagen, in denen der italienische Text des »Trovatore« der deutschen Übersetzung gegenübergestellt ist; auch hier markiert der Gedankenstrich den entscheidenden, nichtsprachlichen Moment des Über-Setzens, des Nicht-mehr und Noch-nicht. Eine dieser Stellen findet sich am Schluss, wo die Vorstellung heraufzieht, wie zu Verdis Begräbnis neunhundert Sänger zu dem gewaltigen Chorgesang aus »Nabucco« anheben: »Eile dahin, du Gedanke auf goldenen Flügeln - Va pensiero sull'ali dórate« (S.23): ein Bild geglückter Imagination. Bichseis Hörtext lehnt Imagination, Er-Innerung nicht ab, er macht die Spannung zwischen ihrem Gelingen und Misslingen zum Thema. Und das Misslingen steht eher im Vordergrund. Es zeigt sich im Sammeln von gedanklichen Souvenirs, »die Gegenwart zur Vergangenheit machen« (S.22), als Lebensersatz dienen, blosser Ausdruck von »Enttäuschungen« (S.7) sind: »denn weil es Erlebnisse sein sollten, die wir im Gedächtnis zu speichern hätten, wird - wenn Erlebnisse fehlen - alles, was noch gespeichert ist, zum Erlebnis« (S.4). Sprachskepsis heisst im Falle Bichseis Gestaltung dieses Spannungszustandes zwischen Gelingen und Scheitern des Erinnerns, heisst Erzählen »als beständige Reflexion und Infragestellung des Erzählens« (373). Darin zeigt sich überraschend eine tiefe Gemeinsamkeit dieses experimentellen Hörspiels mit dem nur wenig später entstandenen, formal sehr schlichten, konventionellen Hörspiel von Rudolf Jakob Humm, das das Unsagbare einer grossen Persönlichkeit im Dialog zweier Personen über Rousseau zu fassen versucht, (vgl. Kap. 3.144)

Nachdem gezeigt wurde, welche Bedeutung der Form als Thema dieses Hörspiels zukommt, muss sich das Interesse auf dessen Form als solche konzentrieren. Durch die Tendenz zur Montage von teils Vorgefundenem Material wird im Neuen Hörspiel allgemein »die formale Anordnung des Materials zum eigentlichen Problem des Hörspielschaffens.« (374) Bichseis Hörtext verkörpert insofern einen reinen Typus der Montage, als er sich auf Sprache beschränkt und auf Geräusche und Musik völlig verzichtet. (375) Das mag angesichts der Bedeutung, die Verdi und seinem Schaffen darin zukommt, vielleicht erstaunen; doch würde auch nur ein Takt des Gefangenenchores als banale Illustration wirken und alle Ansätze zur Evokation des »Unsagbaren« zerstören. Peter Bichsei hielt seinen Text gar nicht für ein Hörspiel, da darin nicht eigentlich »gespielt« werde und die fünf Stimmen nicht miteinander in Kontakt kämen, was aber so nicht ganz stimmt. »Im Grunde genommen ist es ein Monolog einer einzigen Stimme und die andern Stimmen sind eigentlich nur Projektionen dieser einen Stimme.« (376) Der Eindruck soll entstehen, als ob »der ganze Text von derselben Stimme gelesen würde.« (377) Die fünf Stimmen durch Verwendung der Stereophonie im Raum zu positionieren, wäre deshalb sicher verfehlt; in gewissem Sinne kann man sogar sagen, »Inhaltsangabe der Langeweile« sei für die »innere Bühne« des monophonen Radios wie geschaffen. Darin zeigt sich eine weitere überraschende Gemeinsamkeit mit dem traditionellen Illusionshörspiel.

In den Stimmen verkörpern sich nicht die Charaktere von Figuren; ihre Stilisierung und Typisierung wird zu Beginn ausdrücklich vorgeschrieben. Die erste ist eine männliche, »subjektive, sentimentale Hörspielstimme«, deren Sätze »nicht etwa echt oder wahr wirken müssen«, sondern eher als »sentimentaler Kitsch«; die fünfte erscheint als deren weibliche Projektion, soll aber »noch klischeehafter« klingen; die übrigen drei männlichen Projektionen werden in der gesprochenen Ansage als »dramatische Stimme«, als »Kommentarstimme im Plauderten« und als »pathetische Stimme« vorgestellt; sie alle übernehmen mehrere Rollen, etwa die des Dirigenten, des Sängers und des Komponisten im Falle der dramatischen Stimme, »wobei es nicht nötig ist, dass er sich dabei stimmlich sehr unterscheidet.« Bei der pathetischen Stimme hatte Bichsei sogar in Betracht gezogen, »die Aufnahme leicht elektronisch zu verändern«, also zu verfremden. Die Klischeehaftigkeit der Stimmen scheint für die Realisierung grossen Freiraum zu lassen, doch trügt dieser Eindruck. Zusammen mit Hugo Leber, auf dessen Bitte hin der Hörtext überhaupt entstand, hat Bichsei bei den Aufnahmen beratend mitgewirkt und so seine präzisen Vorstellungen in die akustische Endfassung mit eingebracht; laut Aussage von Hans Jedlitschka hat er die Zürcher Version allen späteren Inszenierungen durch deutsche Sender vorgezogen. (378) Unecht wirkt Fritz Lichtenhahns Interpretation der subjektiven Stimme keineswegs, sondern vielmehr berührend naiv und glaubhaft, und das verleiht dem Spiel mehr Reiz als durchgehende Verfremdung; die Form, auch die akustische, soll ja tragen.

Die Teile des montierten Textes stehen in der Regel unvermittelt nebeneinander, wie der Autor sagt, doch zum Teil sind sie auch ineinander verzahnt, wie der zweite und dritte Abschnitt im folgenden Beispiel zeigen:

»I Ich erinnere mich du hast dich erinnert er erinnerte sich wir hatten uns erinnert werdet ihr euch erinnern werden sie sich erinnert haben

II wachen sie auf, sie können hier nicht schlafen wachen sie auf, gehn sie nach Hause aufwachen habe ich gesagt hörst du - hier wird nicht geschlafen

III Als ich einschlief am Tisch, wollte er mich rausschmeissen, nur weil er dieses Mal nüchterner war, dabei ist er immer betrunken, der Wirt ist seit Jahren betrunken. Wenn ich komme, abends um fünf, dann sagt er: >Hab ich dir gesagt, dass Peter Baal hier war.« Das sagt er immer. Seit Peter Baal wieder hier war, sagt er immer: >Hab ich dir gesagt, dass Peter Baal hier war.« >Er lässt grüs- sen«, sagt er. >Es geht ihm gut«, sagt er. >Er ist verheiratet«, sagt er. [...]« (S.16)

Der dritte Abschnitt ist ein Prosatext nach dem Herzen des Autors, der zweite hingegen ein Fragment eines Dialogs. (379) Direkte, dramatische Dialoge werden in diesem Hörtext meistens zitiert, etwa in Form des Interviews mit einem Kammersänger, das sich mit Unterbrüchen über fünf Seiten (S.9-14) hinzieht, oder vereinzelt als sehr kurze, gösstenteils wörtliche Ausschnitte aus dem italienischen Urtext und aus der deutschen Übersetzung des Librettos von Verdis »II Trovatore«. (380) Im Theaterstück, das ihm zu sehr zum Aussergewöhnlichen neigt, zu aktiv ist, empfindet Bichsei den Dialog als zu direkt, da hier die Möglichkeit nicht besteht, das Gesagte durch die Redeankündigung »er sagte« zu relativieren und es damit unmerklich zu verfremden. Wie sehr er das Verb »sagen« liebt, demonstriert der dritte oben zitierte Abschnitt; solche Redeanführungen geben dem Leser bzw. Hörer die »Chance zu sagen: Vielleicht lügt der Autor.« Im Unterschied zum Theater sieht Bichsel im Hörspiel noch solche Möglichkeiten, Gesagtes zu reflektieren, in Frage zu stellen. (381) Dem Hörer wird die Freiheit zum Zweifel an seinem Textverständnis gegeben, indem er mutmassen kann: »Vielleicht meint der das gar nicht so.« In einem ähnlichen Verhältnis wie angeführter und anführender Satz stehen der dritte und der zweite oben angeführte Abschnitt zueinander: Wer in der von der »dramatischen Stimme« (II) vorgetragenen Passage spricht und in welcher Situation, wird erst durch den epischen Kontext klar, den die »subjektive« Stimme (I) nachträgt. Offen bleibt allerdings auch dann noch, weshalb der Wirt den Gast zunächst in der Höflichkeitsform anspricht und dann zum Du übergeht. Ungeklärt bleibt auch trotz aller folgenden Informationen letztlich, wer Peter Baal ist.

Der dritte zitierte Abschnitt repräsentiert einen kohärenten, erzählenden Text. Der zweite besteht in einer Häufung und Variation von Aufforderungen, die auch wörtliche Wiederholungen enthält; dies kann als Insistieren noch sinnvoll gedeutet werden. Im ersten Abschnitt wird das Hauptthema des Spiels in einem Aussagesatz variiert, indem er durch alle Personen und Tempora konjugiert und durch Inversion in eine Entscheidungsfrage verwandelt wird; dabei handelt es sich um eine Kombination von streng regelmässigen, formalen Operationen, die durch keinerlei inhaltliche Motive begründet sind. Ähnliche Sequenzen von Repetition und Variation, angewendet meist auf Satzfragmente, durchziehen das ganze Spiel. In der Mitte wird der Satz des Kammersängers: »Ich habe die Frage nicht verstanden« dreimal wiederholt und durch Einschiebung von Librettoauszügen, deren Sätze ihrerseits zum Teil wiederholt werden, der Eindruck einer hängengebliebenen Schallplatte hervorgerufen; der Effekt des Stillstands betont die Plattheit der Interviewfragen und die lächerliche Eitelkeit des antwortenden Sängers, die kaum vermuten Messe, dass sein Gesang zu Tränen rühren kann.

Bichseis radiophoner »Materialstil« zeichnet sich durch die Montage von Textfragmenten unterschiedlichster Art aus. Der innere Monolog der »subjektiven, sentimentalen Hörspielstimme« ist durchsetzt von echten und fingierten Zitaten aus Dokumenten, deren schriftliche bzw. mündliche Quelle an ihrer stilistischen Qualität deutlich zu erkennen ist. Als Textteile, die auf Schriftdokumente verweisen, sind vor allem Anlehnungen (382) an das Libretto von Verdis Oper sowie Angaben zu deren Entstehungsgeschichte und zur Biographie des Komponisten zu nennen, deren getragener, teils hochgestochener, salbungsvoller Stil sich deutlich von den Dialogpassagen des Interviews und von den persönlichen Erinnerungsfragmenten der ersten Stimme abhebt. Fragen und Statements der Interviewpartner wirken so echt, dass die Vermutung aufkommt, es handle sich dabei mindestens teilweise um die schriftliche Fixierung eines tatsächlich am Radio gehörten Gesprächs; solche Elemente weisen in Richtung Originalton-Hörspiel. (vgl. Kap.4.411) Der folgende Ausschnitt lässt die Tendenz der gesprochenen Sprache zu Redundanz und Anakoluth deutlich erkennen:

»II j-ja - ja, aber die Figur ist recht schwer darzustellen - es gibt ja dann auch viele neuere Richtungen, und diese Darstellungen, diese Schule sozusagen - sind denn auch jüngeren Leuten - und so kommt es, dass die Leute, die Sänger, die diese Rollen eigentlich spielen sollten oder könnten, dann nicht dazukommen, weil - weil eine grosse Angst vor Sentiment (sprich Sen- timang) besteht, vor echtem Sentiment.« (S.10)

Die Passagen der ersten Stimme sind im Erzählton der »Milchmann-« und »Kindergeschichten«, im schlichten Bichselschen »Schriftdeutsch« gehalten. (383) Sie unterscheiden sich von den übrigen vor allem durch häufige Aufzählungen, Wiederholungen von Wörtern, Wortgruppen und syntaktischen Strukturen sowie durch die Neigung zu einfachem, parataktischem Satzbau. Redeanführungen wie die oben zitierten und besprochenen kommen ausschliesslich in diesen Textpartien vor. Inhaltlich zeigt sich hier die grösste Variationsbreite. Meistenteils wird zwar von persönlichen Erinnerungen an Freunde, an eine Jugendliebe, an Schulerlebnisse, auch an Lerninhalte aus dem Geschichts-, Mathematik- und Literaturunterricht berichtet; daneben werden zahlreiche Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft erwähnt. Unvermittelt gleiten solche Gedanken aber immer wieder hinüber in den Text anderer Stimmen, vornehmlich in den Text von Verdis Oper und in Erinnerungen an eine Aufführung des »Troubadour«.

Darin zeigt sich eine weitere Variante der bereits oben erläuterten Technik der Verknüpfung von Textteilen, die durch mannigfaltige Formen der Vorausdeutung und Rückverweisung ergänzt wird. Disparität ist eben nur der eine Aspekt der Montage. Von der anderen Seite zeigt sie sich als kompliziertes Geflecht von Beziehungen unter Textfragmenten, als eine kunstvolle Komposition, die erkennen lässt, dass die Form der Montage alles andere als nur vom Zufall bestimmt ist. Innerhalb des Werks von Peter Bichsei nimmt »Inhaltsangabe der Langeweile« eine formal eigenständige Position ein, die darauf schliessen lässt, dass er mit den experimentellen Tendenzen im Neuen Hörspiel der BRD vertraut war und sich mehr daran als an der Gestalt seiner bisherigen Prosaarbeiten orientierte. Thematisch hingegen bleibt er sich selbst vollkommen treu und bereichert so das Neue Hörspiel um einen neuen Aspekt im Bemühen um die Reflexion des Formalen. Wieweit es von den Hörern bei einmaligem Anhören verstanden werden konnte und verstanden wurde, ist ungewiss. Was Heinz F.Schafroth über die »Jahreszeiten« sagt, dass der »Roman« nämlich »sein wohl anspruchsvollstes, subtilstes Werk« sei (384), liesse sich vielleicht sogar auf »Inhaltsangabe der Langeweile« ausdehnen. Bichsei hat sein anhaltendes Interesse am Hörspiel durch mehrere weitere Entwürfe bekundet, doch hat er trotz aller Ermunterungen bis heute keinen davon ausgearbeitet. (385) Bei einem als »Wenigschreiber« bekannten Autor darf dies allerdings nicht beunruhigen. »Ich höre regelmässig Hörspiele«, sagte er 1989, »und es ist eigentlich ein Zufall, dass ich nicht mehr geschrieben habe.« (386)

 

(351) Der Ausdruck »Hörtext«, den F.Krlwet schon 1961 in seinem Essay »Sehtexte - Hörtexte« einführte (in: Diskus 5, II.Jahrgang, 1962, abgedruckt in: Schöning, 1970, S.37 ff) und mit dem er später seine radiophonen Produktionen benannte, wird in der Ankündigung Im Hörspielprogramm auch für Bichseis Hörspiel verwendet, (vgl. Pgr 1/72, S.18; tvrz 15/72, S.72)
(352) Hoven, 1984, S.115; vgl. auch Ib., S.121
(353) Bichsei, 1982, S.42
(354) P.Bichsel, Die Geschichte soll auf dem Papier gesohehn (1968), In: Hoven, 1984, S.49
(355) Bichsei, 1982, S.10; vgl. auch Ib., S.81
(356) F.Mon, Hörspiele werden gemacht, In: Schöning, 1982, S.93
(357) Bichsei, 1982, S.23
(358) P.Bichsel, Die Geschichte soll auf dem Papier gesohehn, a.a.O., S.52
(359) Bichsei, 1982, S.20
(360) Ib., S.38
(361) Hoven, 1984, S.118
(362) Pgr 1/72, S.18
(363) Blchsel, 1982, S.68
(364) vgl. J.Baier und H.H.Schlldberg, »In Geschichten denken«. Ein Gespräch mit Peter Blchsel, In: Hoven, 1984, S.118
(365) Blchsel, 1982, S.20; vgl. auch S.79
(366) Aufzeichnung eines Interviews mit H.Jedlltschka vom 19.4.89; der Regisseur, der Blchsel als junger Schauspieler In den fünfziger Jahren kennenlernte, ist einer der Genannten.
(367) Frisch, 1976, Bd.II, S.378 f
(368) ib., S.78
(369) Blchsel, 1982, S.20
(370) M.Frlsch, Wer heute schreibt, ist sich seiner Ohnmacht bewusst. Laudatio auf Peter Blchsel, In: Hoven, 1984, S.109
(371) P.Bichsel, »Warum schreiben Sie?« Ib., S.100
532
(372) ib., S.105
(373) dlw., »Inhaltsangabe der Langeweile«, in: NZZ, 27.9.88
(374) Dedner, 1971, S. 145
(375) Das einzige Geräusch, das der Autor im Manuskript vorsah, das »Klopfen des Dirigentenstocks« (S.9), wurde bei der Realisierung des Hörspiels konsequenterweise weggelassen. Differenziert man wie Keckeis zwischen den sprachlich homogenen Typen der »Montage von Textzitaten« und der »Montage von Originaltexten« (Keckeis, 1973, S.83 f), so muss man Bichseis Hörspiel als einen Mischtypus betrachten.
(376) Pgr 1/72, S.18
(377). Stimmenverzeichnis des Manuskripts
(378) Interview mit H.Jedlitschka vom 19.4.89
(379) vgl. zum Folgenden Bichseis einleitendes Statement zu »Inhaltsangabe der Langeweile«, das bei der Ausstrahlung der Ansage des Hörspiels folgte; vgl. auch P. Bichsei, Die Geschichte soll auf dem Papier geschehn, In: Hoven, 1984, S.53
(380) Zitate aus der deutschen Übertragung des Operndialogs finden sich auf den Seiten 1,2, 8, 15, 20; auf Seite 18 wird die Übersetzung zunächst mit dem Originaltext konfrontiert; danach werden die beiden Fassungen auf gleiche Weise, aber inhaltlich voneinander getrennt weitergeführt: »In unsre Heimat - ai nostri monti kehren wir wieder - ritorneremo schmeichelnd ertönen - l'antica pace fröhliche Lieder - ivi godremo« Am Schluss (S.23) wird der erste Satz des Gefangenenchors aus »Nabucco« in deutscher und italienischer Version zitiert.
(381) zu Bichseis Eintreten für die Frage vgl. Bichsei, 1982) S.31
(382) Der Bezug auf die deutsche Übersetzung des Textbuches reicht vom wörtlichen Zitat ganzer Sätze und Satzfragmente über die Reihung von kurzen Regieanweisungen (Beispiele: S.3, S.13) bis zu Fragmenten einer sehr freien, stark raffenden Inhaltsangabe; letztere folgen in etwa der Chronologie des Librettos, weichen aber zum Teil auch davon ab.
(383) vgl. P.Bichsel, »Warum schreiben Sie?«, in: Hoven, 1984, S.101
(384) H.F.Schafroth, Peter Bichsei, 5.Nlg. (1978), S.6, in: Arnold, 1978
(385) Interview mit H.Jedlitschka vom 19.4.89
(386) Anonym, 1989

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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