Franz Böni, »Der Radfahrer« (1985)
Typoskript

 

»Hörspiele der subjektiven Epik« kommen weit seltener vor als »objektiv epische Hörspiele«. Im folgenden wird kein eindeutiger Repräsentant dieses Typus vorgestellt, sondern eher ein Grenzfall, der sich besonders gut eignet, um zu zeigen, dass das Strukturprinzip der subjektiven Epik »eine Übergangsform, eine Form der Schwebe [ist], die nicht mehr die Objektivität der Epik hat, aber auch noch nicht die introvertierte Weitsicht eines stream-of-consciousness-Spiels aufweist.« (157) Mitentscheidend für die Wahl von Franz Bönis erstem und bisher einzigem Hörspiel »Der Radfahrer« (DRS-2, 12.11.85) war auch der singuläre Charakter und die besondere Qualität dieser Produktion, die nach Auffassung des Regisseurs, Mario Hindermann, »gegen den Strich geht« und »eine neue Farbe in den Radio-Spielplan bringt« (158)und die von der Kritik mit gebührendem Interesse aufgenommen wurde. Mit Schmidli ist dem Autor, der bis dahin ausschliesslich Romane und Erzählungen veröffentlicht hatte, seine Neigung zum Epischen gemeinsam; mehr noch als »Die Geschichte des Matthias« ist Bönis »Radfahrer« geprägt von zuvor schon publizierten epischen Werken. (159) Dass in diesem Hörspiel die Grenzen zwischen Objektivität und Subjektivität verfliessen, wurde im Hörspiel-Programmheft mit folgenden Worten vorweggenommen:

»Einsam und daher unbeholfen, zu überzeugender Selbstdarstellung kaum fähig, beschränkt sich Eiler darauf, minutiös seinen Alltag zu protokollieren oder aber Geschichten zu erzählen: erlebte, erlauschte, erfundene. Sachliche Information und poetische Vision verschmelzen so zu einem ebenso faszinierenden wie beunruhigenden Weltbild, in welchem Realität sich leicht als Sinnestäuschung, der Wachtraum als Wirklichkeit erweist.« (160)

In Besprechungen wurde, je nach Blickwinkel des Interpreten, entweder Bönis »epische Auffassung« (161) oder der Charakter des »inneren Monologs« (162) und die »Dimension des Träumerischen« (163) hervorgehoben; beide Aspekte erfasst eine Kritikerin am genauesten, die feststellt, dem Monolog hafte »etwas Instruktives« an, doch bleibe Bönis Radfahrer nur »das Abgleiten in eine Vorstellungswelt« als »einzige Möglichkeit zu überleben.« (164)

Das beinahe 75 Minuten lange Hörspiel »Der Radfahrer« besteht aus zwei etwa gleich umfangreichen, gleich gebauten Teilen, deren äussere Handlung je eine Tour der Hauptfigur Anton Eiler als Telegrammbote und als Nachtwächter repräsentiert. Das Spiel beginnt mit sonoren Saxophonklängen, die Eilers nah am Mikrophon gesprochene Worte, eine Art kurzen Prolog, untermalen. Die Stimme bleibt unverändert, vom Musikhintergrund wird in Strassenambiance übergeblendet, von der sich das nahe, leise Knarren von Velopedalen, vielleicht auch des im Rhythmus des Tretens sich bewegen den Sattels, abhebt. »Seit Monaten bin ich unterwegs - als Eilbote«, erzählt Eiler (S.1), und er nennt Ziele seiner früheren Botengänge. »Am liebsten aber bin ich unterwegs hier in den Kalkbreiten.« Man hört den kurzen Pfiff einer Lokomotive und, einmal während der folgenden Worte, das leise Quietschen von Eisenbahnrädern auf den Geleisen.

»Eiler: [...] Güterbahnhof.
Die Gegend kenne ich gut.
Hier hat Ruckstuhl mich seinerzeit angelernt.
Eine Woche waren wir unterwegs.
Er ist parallel neben mir hergefahren
und hat seine Lehranweisungen
in die Luft gerufen:
Ruckstuhl: Trag immer genügend rote Anzeigeformulare auf dir!
Und vergiss nie den "Leitfaden für Eilboten"!
Er ist nützlich.
Ich geb dir den guten Rat:
Lies den Ratgeber gut durch,
dann kann dir nichts passieren!
Eiler: Nun bin ich schon fünf Monate dabei.
Meistens fahr ich jetzt allein.« (S.2)

Immer wieder bezieht sich Eiler auf die äusseren Umstände seiner momentanen Fahrt, die teils, wenn auch betont zurückhaltend, durch Geräusche signalisiert werden. Einen wesentlicheren Anteil am Aufbau der Vorstellung von der Umgebung haben Wortkulissen wie hier etwa »Güterbahnhof«; im Zusammenspiel mit entsprechenden Geräuschen evozieren sie trotz der Reduktion auf zeichenhafte Andeutungen das Bild einer durchaus realen, sinnlich wahrnehmbaren Aussenwelt, in der sich Eiler auf seinem Fahrrad bewegt. Den Anschein von Konkretheit verstärken noch die zahlreichen Gebäude- und Ortsnamen - das »Hotel Baur au Lac«, das »Kaffeehaus >Zum grünen Heinrich««, die »Kalkbreiten«, der »Bullingerplatz«, »die Gegend von Herdern und Hardturm« -, die den wirklichen Verhältnissen der Stadt Zürich entsprechen oder sich doch daran anlehnen.

Eilers Monolog, der vier Fünftel des ganzen Spiels ausmacht, ist nicht an einen bestimmten Gesprächspartner gerichtet, aber er ist zumindest in den Teilen, die sich auf die Aussenwelt beziehen, auch kein reines Selbstgespräch; dazu enthält er zuviele sachliche Informationen, die für den Sprechenden selbst von untergeordneter Bedeutung sind und von den Bilder- und Gedankenfolgen eines Bewusstseinsstroms mit Sicherheit überdeckt würden. In seiner instruktiven Art gleicht der Monolog stellenweise sogar den »Lehranweisungen«, die Eiler selbst von Ruckstuhl in der im obigen Zitat eingebetteten Rückblende erhält. »Ein Blindenführer protokollierte dem Blinden, was es zu sehen gab«, heisst es am Anfang der Erzählung »Die Kalkstecher«, die dem ersten Teil des Hörspiels zugrunde liegt. (165) Der Adressat all dieser Schilderungen, Berichte und Gedanken ist niemand anders als der Hörer, der damit zum »blinden« Weggefährten des Radfahrers wird. Dieser unterscheidet sich von einem objektiv epischen Erzähler einerseits durch die Vertraulichkeit und den persönlichen Charakter dessen, was er erzählt, und andererseits durch seine Nähe zum Hörer. Die Intimität dieser subjektiv epischen Erzählsituation wird dramaturgisch durch den geringen Abstand des Sprechenden vom Mikrophon und damit vom Ohr des Hörers unterstrichen.

Der Monolog des ersten Teils bezieht sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern greift auf Erlebnisse der vergangenen fünf Monate zurück, die teils in rudimentären Dialogszenen dargestellt werden. Etwa in einem Drittel dieser Rückblenden kommt Eher selbst zu Wort; in den restlichen ist er entweder als Angesprochener oder bloss als ein Zuhörender unter anderen vorzustellen. In der Regel bildet, wie im obigen Zitat, der Name eines Kollegen und eine damit verbundene Erinnerung den Anlass zur szenischen Repräsentation der betreffenden Episode, die auch mit der entsprechenden Ambiance versehen ist; im ersten Teil spielen die meisten im halligen Raum der Telegrammzentrale, der vom Ticken der Telegraphen erfüllt ist, im zweiten Teil sind das Wachtlokal und die Büros von Vorgesetzten die häufigsten Spielorte. Gelegentlich geht die monologische Präsentation auch fliessend in die Repräsentation einer aktuellen Handlung über, deren Hauptfigur Eiler selbst ist, so zum Beispiel, als er ein Telegramm dem Empfänger nicht persönlich übergeben kann und den Verwalter anzurufen versucht, um Instruktionen zu diesem Problem zu erhalten, das in seinem »Leitfaden« nicht vorgesehen ist. (S.22 ff) Während dieser Etappe seines Botenganges konzentrieren sich seine Gedanken ganz auf die Lösung seiner Aufgabe, was durch eine Folge von realistischen Geräuschen und den dreimaligen Wechsel der Raumakustik verdeutlicht wird: Die Saxophonklänge, die nebst dem knarrenden Fahrgeräusch und dem Verkehrslärm seine schweifenden Gedanken begleitet haben, dauern noch an, während man hört, wie Eiler die Türe öffnet und die Treppe emporsteigt; danach ist ohne musikalische Begleitung in einer Art kommentiertem Hörfilm zu vernehmen, wie er an der Türe läutet, die Treppe wieder hinuntersteigt, das Telegramm in den Briefkasten wirft, im »Leitfaden« blättert, mit dem Fahrrad durch verkehrsreiche Strassen fährt und schliesslich eine Telefonkabine betritt, deren gedämpfte Ambiance sich merklich von der lärmigen Umgebung draussen abhebt; das Telefongespräch mit der Zentrale, das nach kurzer Dauer unterbrochen wird, ist als realistischer Dialog gestaltet. Die radiophone Ausgestaltung dieser Folge von Spielszenen, in die Eilers Monolog fliessend übergeht, erinnert an das Verfahren des »akustischen Wechsels«, das Arthur Welti 1938 bereits angewandt hat.

Solche Passagen der Repräsentation gegenwärtigen Geschehens kommen nur vereinzelt vor. Sie rufen für kurze Zeit die Vorstellung konkreter äusserer Wirklichkeit wach, die ansonsten durch die diskrete Folie der Fahrgeräusche, des Verkehrs und signalartig eingesetzter einzelner Schallereignisse einerseits und durch die Nennung der verschiedenen Stationen der Fahrt andererseits mehr angedeutet als vergegenwärtigt wird. Oft knüpft sich an Beobachtungen während der Fahrt eine Kette von Assoziationen, die teils szenisch dargestellt, teils erzählt werden. Eilers Missgeschick beim Telefonieren etwa bringt ihn über den allgemeinen Satz: »Keine Erfindung ist so unfertig wie das Telefon« (S.24) auf das Beispiel einer falschen Verbindung, das er kürzlich selbst erlebt hat; das betreffende Gespräch wird ohne Überleitung in seinen Monolog eingeblendet. An einer anderen Stelle fährt er am »Wilden Mann«, dem »Parteilokal der »Schwarzen«« vorbei. (S.18) Das lenkt seine Gedanken auf die »Kardianer«, die Partei der Eilboten, und auf die »Grünen«, zu denen eine junge Frau gehört, die er gerne kennengelernt hätte. Einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen »Kardianern« und »Grünen« hat er sich neulich entziehen können, weil er auf den betreffenden Nachmittag bereits mit seiner Tante verabredet war. Damit schiebt sich die Erinnerung an diesen Ausflug und an missratene Fotoaufnahmen als kleine Groteske in die Schilderung des Parteienzwists ein. (S.19) Die Sequenz wird abgeschlossen durch eine Szene im Parteilokal der Eilboten, gegen deren Vonwürfe sich Eiler verteidigen muss; in die Enge getrieben, hält er den Kollegen den bemerkenswerten Satz entgegen: »Die Parteien bekämpfen sich gegenseitig nur und vergessen den gemeinsamen Feind.« (S.20) Dieser bleibt als sein Credo stehen, da nun die Waschanstalt als neuer äusserer Fixpunkt auf Eilers Fahrt in Sicht kommt. Dass er unterwegs ist, wurde während des gesamten Gedankenganges mit Ausnahme der Dialogszene durch das verhaltene Geräusch des Fahrrads markiert.

Obwohl Bönis Radfahrer dies alles erzählt, als ob er sich unmittelbar an den Zuhörer wendete, wirken solche Gedankensequenzen wie Teile eines Bewusstseinsstroms, dessen Subjektivität ja auch durch die Wahrnehmung äusserer Vorgänge nur noch intensiver zur Geltung kommt. In Herbert Meiers Hörspiel »Salsomaggiore« (vgl. Kap.4.231) sind beide Züge beispielhaft verwirklicht. Aber aus dem Vergleich mit dieser Produktion gehen auch die Unterschiede deutlich hervor. Während in Bönis Hörspiel die Gedanken sich zu Assoziationsketten fügen, die früher oder später abreissen und durch die äussere Realität wieder verdrängt werden, verbinden sich in Meiers Hörspiel die immer wiederkehrenden Gedanken zu einem alles überspannenden Geflecht. Das hat seine Entsprechung in einer starken Tendenz zur syntaktischen Reduktion, wohingegen Eilers Äusserungen aufgrund ihrer sprachlichen Präzision mit der Bezeichnung »Protokolle« treffend charakterisiert werden. Während »Salsomaggiore« durch seine durchgehend subjektive Perspektivik zu einem reinen »Hörspiel des inneren Monologs« wird, scheinen in Bönis Hörspiel die Verhältnisse gerade umgekehrt: Hier sind alle Gedankengänge, die das Innere der Hauptfigur auf ähnliche Art wie in einem inneren Monolog hörbar machen, auf die gegenwärtige äussere Situation bezogen. Dennoch ist Böni, wie Samuel Moser feststellt, »kein Realist, sondern ein Hyperrealist: ein Kritiker des gegebenen Realen, das Ihm zunehmend unwirklich, unwahrscheinlich und damit auch unwahr wird.« (166)

Die innere Welt, in die Eiler sich in Gedanken absetzt, stellt für ihn, wie Ruth Gisi festhält, die einzige Möglichkeit dar, »einer schnellen, technisierten und automatisierten Welt« zu entfliehen. (167) Eiler ist Einzelgänger aus freiem Willen. Seine Kollegen, die Ruckstuhl als »Kleinbürger« bezeichnet, betrachtet er aus grosser Distanz; ihre Kleidung, ihre Haartracht, ihre Sprache, ihr gesamtes Verhalten erscheinen in seiner Schilderung und auch in den Spielszenen, die ja seiner subjektiven Auswahl unterliegen, als fremd, ja geradezu grotesk. Die Entwicklung seines Verhältnisses zu ihnen beschreibt er so:

»Eiler: [...] Am Anfang habe ich mit meinen Kollegen
noch geredet.
Heute will Ich meine Ruhe haben.
Ich habe zuerst geglaubt, ich könne sie
wachrütteln, sie beeinflussen.
Doch warum soll ich sie beeinflussen?
Seit ich schweige,
sind sie allerdings unsicher.
Offenbar beeinflusse ich sie
jetzt erst recht.
Deshalb drängen sie sich so auf.
Ich hasse es, wenn sie plötzlich
neben mir herfahren
und mich aus meinem Grübeln herausreissen.« (S.2 f)

Im anfänglichen Vorsatz, die Kollegen wachzurütteln, sie zu beeinflussen, zeigt sich, dass all den Beobachtungen und Grübeleien nicht ein von vornherein apolitisches, bloss auf das eigene Private gerichtetes Bewusstsein zugrunde liegt. In der Schilderung der beengten sozialen Verhältnisse, in die Eiler durch seinen Job mitunter Einblick erhält, ist seine Anteilnahme durchaus spürbar. Indem er während der Arbeitszeit einen entlassenen Kollegen besucht, der in seiner Verzweiflung dem Alkohol verfallen und zum Kriminellen geworden ist, nimmt er sogar aktiv Partei für einen Deklassierten und verstösst damit bewusst gegen die Dienstvorschriften. Seinem Vorgesetzten, der ihn wegen seiner Abwesenheit zur Rede stellt, begegnet er sehr keck und leugnet seine Verfehlung. »Er glaubt«, so denkt Eiler rückblickend, »die Angst vor Ihm sei riesengross, man wage gar nicht, ihn zu beschwindeln.« (S.12) Eilers Rückzug aus der Kleinbürgerwelt, in der er lebt, ist nicht durch Hochmut, sondern durch eine philosophische Haltung motiviert. Über die schwankende Stimmung seiner Kollegen sagt er:

»Eiler: [...] Sie erwarten eine Steigerung,
und wissen nicht,
dass es für bewusstes Leben
gar keine Steigerung gibt.
Egal was passiert,
wichtig ist allein,
dass man mit all
seinen Sinnen diesen einen Moment lebt und erkennt.
Das Leben - das ist der Alltag
und nicht der aussergewöhnliche Tag.« (S.15)

»Bewusstes Leben« besteht für Eiler in seinen Fahrten, die den Alltag bedeuten. Das rhythmische Pedalen versetzt ihn in einen quasi meditativen Zustand, in dem Ort und Zeit aufgehoben sind und sein ganzes Leben im Moment gegenwärtig erscheint. Die Sinnlosigkeit des Strebens nach äusseren Zielen ist in der letzten Beobachtung des Nachtwächters kurz vor dem Ende des Spiels festgehalten, die als Parabel zu verstehen ist. Eiler beschreibt das Verhalten der ersten Pendler am Bahnhof, die alle vorne in den Zug einsteigen, weil sie hoffen, dort allein zu sein. »Doch weil fast niemand hinten einsteigt, sind die vordersten Wagen immer voll besetzt.« (S.51) Durch beobachtendes Abwarten unterscheidet sich der Einzelgänger von der Masse. Seine Freizeit verbringt er mit Vorliebe am Fluss, wo er den Fischern zuschaut. Trotzdem ist der Weg nicht das Ziel, denn die äusseren Ziele von Eilers Botengängen sind ja nicht die seinen. Sein Revier, das er als Nachtwächter durchstreift, das Eidental, ist hinten durch eine ihm unüberwindlich erscheinende Felswand abgeschlossen, die ihn zum Gefangenen macht: »Den Berg werde ich nie überwinden. Dort ist die Grenze meiner Tour«, bemerkt Eiler resigniert. (S.43) Ebenso unüberwindbar sind die Grenzen seiner engen Welt, einer »Welt der Abhängigkeiten«, in der er und seine Berufskollegen wie Robert Walsers Geholfen und Franz Kafkas Untergebene einem Apparat von anonymen Kräften und Interessen ausgeliefert sind. (168) Diese literarische Verwandtschaft äussert sich während des ganzen Spiels auch In der Darstellung der äusseren Welt, in die Eiler anscheinend nie eindringt und die doch auf befremdliche Art Züge einer inneren Welt an sich hat. Von hier aus ergibt sich eine Verbindungslinie zu Jürg Amanns Hörspiel »Der Sprung ins Wasser« und zum »Hörspiel der poetischen Realität«, das im Kapitel 4.26 behandelt wird.

Eilers Unterwegssein auf dem Fahrrad drückt aus, dass er keinen festen Boden unter den Füssen hat, ein Entwurzelter Ist wie so viele Figuren des Autors. Doch ist er nicht der einzige Einsame in diesem Spiel; er lebt in einer Gesellschaft von Sonderlingen: Telegrammboten und Nachtwächtern, die ihre Arbeit nicht lieben, aber dennoch stets Angst haben, sie zu verlieren. Fallen lauern hinter allen Türen; Vorgesetzte, deren Gesichter niemand kennt, lassen sich Telegramme zustellen, um das Benehmen der Boten zu kontrollieren. Bleibt einer mit knurrendem Magen erwartungsvoll vor der Villentüre stehen, so gibt sich der Empfänger als Chef zu erkennen, »ergreift den »Leitfaden« und zitiert daraus: »Der Bote hat pünktlich und zuverlässig zu sein. Er soll nie nach einem Trinkgeld schielen.«« (S.8) Der Verlust der Steile kommt einer Ausstossung aus der Gesellschaft gleich: »Wer entlassen wird, verkommt In kürzester Zeit.« (S.15) Ihm bleibt nur noch die Arbeit auf dem Schlachthof oder das Absinken In Alkoholismus und Kriminalität. Als Nachtwächter beobachtet Eiler eine ausrückende Polizeistreife. In seinem Kommentar spiegelt sich die Hoffnungslosigkeit des Opfers angesichts der Vertreter von Recht und Ordnung:

»Eiler: [...] Zu viert werden sie irgendeinen kleinen
Einbrecher festnehmen,
der gerade ein Lager ausrauben wollte -
um auf seine Welse das Eidental
zu überwinden.« (S.46)

Wenn in diesem Werk eine merkliche Veränderung stattfindet, dann im Übergang vom ersten zum zweiten Teil. Am Ende seines Botenganges begegnet Eiler einem ehemaligen Kollegen, der jetzt Nachtwächter ist: »Man verdient dort besser. Und die Nacht ist gnädiger als der Tag.« (S.27) Er beschliesst überraschend, ab nächster Woche als Nachtwächter zu arbeiten, nachdem ihm bewusst geworden ist, dass einem »in der Stille der Nacht« mehr Zelt bleibe, »sich selber zu erkennen und den Sinn des Lebens zu finden.« Entstehungsgeschichtlich ist dieser Einschnitt durch den Wechsel der Vorlage bedingt. Der zweite Teil beginnt wie der erste mit einem Prolog, der seine neuen Berufskollegen charakterisiert; sie sind noch menschenscheuer als die Telegrammboten, kommen wie viele von Bönis Gestalten »von den Bergen herunter« (S.28), fühlen sich tagsüber unter Städtern »mindenwertig«, die älteren »sind vom Leben enttäuscht, suchen in der Nachtwelt ein besseres Leben, eine Welt, in der sie von keinem verletzt werden.« Zwischen der Tour, die Eiler in diesem Teil fährt, und dem Botengang des ersten Teils sind ein paar Wochen vergangen, so dass er über neue Erfahrungen während seiner Anlehrzeit berichten kann. Bönis Hörspiel beschreibt also zwei zeitlich geraffte Rundfahrten seiner Hauptfigur und weist damit dieselbe zyklische Struktur auf wie etwa Gerold Späths Hörspiel »Heisse Sunntig« (vgl. Kap. 4.251); in der Bauform dieser insgesamt durchaus konventionellen Hörspiele zeigt sich damit eine Verbindung zu experimentellen Typen, deren oft kreisförmige Anlage im »Sondercharakter«« der Radioarbeiten von Frisch und Dürrenmatt in den fünfziger Jahren bereits vorgebildet war, wie Dedner zeigt. (169)

Die Saxophonklänge, die schon im ersten Teil über weite Strecken die Aussenambiance überlagert und ihre realistische Wirkung gedämpft haben, sind im zweiten Teil etwas seltener, reduzieren sich gelegentlich auf eine Folge einzelner verklingender Basstöne mit Pausen dazwischen, welche die Stille bewusst machen. Die andere Seite der Stille, die Eiler gesucht hat, besteht in der Angst, die hinter Fässern und in dunklen Kellerräumen lauert. In der Nacht scheint sich der Monolog mehr nach innen zu verschieben, Das drückt sich etwa unscheinbar in einem Gedankengang aus, der mit entsprechenden Geräuschen unterlegt wird (S.32); erstmals erscheint damit ein innerer Vorgang so wirklich wie sonst nur Passagen, in denen die Aufmerksamkeit des Radfahrers der Aus- senwelt gilt. Diese Tendenz nimmt auch eine der letzten Spielszenen auf, in welcher sich Eiler als Grossvater sieht, der seinen Enkeln aus seiner »Nachtwächterzeit« erzählt: »Wenn einmal das Fahrrad zusammenbrach«, so phantasiert er, »fuhr ich ohne Lenkstange weiter - wie ein Akrobat im Zirkus« (S.46), fast wie einer von Kafkas Künstlern, möchte man dazusetzen. Nicht nur musikalisch, sondern auch durch das Ticken einer (imaginären) Standuhr werden diese Schwärmereien von der empirischen Realität nun vollends abgehoben. Vom »Hörspiel des inneren Monologs« ist Bönis Arbeit immer zu unterscheiden, aber an solchen Stellen steht sie dem »Hörspiel der poetischen Realität« sehr nahe. Allerdings folgt bald darauf die Rückkehr in die - freilich auch als recht poetisch-phantastisch beschriebene - Realität des nächtlichen Eidentals, wo in der »Obermühle« die Lastwagen »wie grosse Tiere im Stall« stehen. (S.48)

 

(157) Frank, 1963, S.155
(158) zit. nach U.Siegrist, Beklemmende Rundgänge, in: Solothurner AZ, 12.11.85
(159) vgl. S.Moser, Franz Böni, 34,Nlg. (1990), S.7, In: Arnold, 1978; Moser verweist darauf, dass »Die Kalkstecher« und Teile aus »Die Alpen« Eingang in Bönis Hörspiel gefunden haben.
(160) Pgr 3/65, S.12
(161) B.Eichmann-Leutenegger, Franz Bönis Hörspiel »Der Radfahrer«. Eine Welt der Abhängigkeiten, in: Vaterland, 15.11.85
(162) U.Kägi, Erstes Hörspiel des Zürcher Autors Franz Böni. Das leise Girren der Pedale, in: zürl-tip, 8.11.85
(163) che., Die Einsamkeit des Radfahrers, in: NZZ, 14.11.85
(164) R.Gisi, Monolog eines Radfahrers, in: Basler Zeitung, 14.11.85
(165) F.Böni, Die Kalkstecher, in: Alvier, FfM. (Suhrkamp) 1982, zit. nach: Am Ende aller Tage, FfM. (Suhrkamp) 1989, S.77
(166) S.Moser, a.a.O., S.5
(167) ib.
(168) B.Eichmann-Leutenegger, a.a.O.
(169) Dedner, 1971, S.137

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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