Felix Bopp, »Stadtgesänge« (1984)

 

Unter den Produktionen, die musikalische Elemente und Geräusche zu einem Hör-Spiel integrieren, ragen die fünf einzeln im »Montagsstudio« gesendeten, unter der Leitung von Felix Bopp entstandenen »Stadtgesänge« (DRS-2,1.-29.10.84) in mehrfacher Hinsicht heraus. Sie stellen den ersten einer Reihe ähnlicher Versuche dar, die in grösseren Abständen folgten, und wurden von der Presse mit entsprechend grosser Aufmerksamkeit bedacht. In der Kritik äussern sich deutliche Vorbehalte, solche Produktionen überhaupt noch der Gattung Hörspiel zuzuordnen. Durch eine Ehrengabe anlässlich der Verleihung des Zürcher Radio-Preises für 1984 wurde diese Produktion nebst einer anderen Reihe von Kurzhörspielen der Abteilung »Dramatik und Feature«, Alex Gfellers »Leo Lyr«, besonders hervorgehoben.

Den Ausgangspunkt der Arbeit bildeten nicht etwa musikalische Kompositionen, sondern akustische Situationen, »Klangräume« einer Stadt, deren Geräusche von den Musikern vor Ort »sozusagen umspielt«, instrumental »weitergeführt« wurden. (433) An verschiedenen Örtlichkeiten, etwa in einem Parkhaus, einem Kraftwerk, einem unterirdischen Kanal, einem Spielwarengeschäft, einem Vogelhaus, wurden Aufnahmen der im Moment ertönenden Geräusche und der darauf reagierenden musikalischen Improvisationen gemacht. Ungewöhnlich muten dabei an der Filmproduktion orientierte Vorgehensweisen an, deren Ergebnisse allerdings nur durch genauestes Hinhören zu bemerken sind. Felix Bopp erwähnt »Schwenks« mit dem Mikrophon, die Veränderung des »Hörwinkels« und einen »natürlichen Übergang«, der etwa durch Dislozierung des Aufnahmegerätes von einem verkehrsreichen Platz in die benachbarte Kirche zustandekam. (434) Die zuletzt beschriebene Technik ruft in Erinnerung, dass bereits in den dreis- siger Jahren mit der Veränderung der Raumakustik experimentiert worden war, wofür damals von Welti der Begriff des »akustischen Wechsels« geprägt wurde. Die auf Band fixierten Studien der Basler Musiker wurden zum Teil unverändert übernommen, zum Teil im Studio bearbeitet und durch weitere Instrumentalimprovisationen ergänzt. Dabei wurde auch auf Effekte zurückgegriffen, wie sie Pierre Schaeffer und die Exponenten der »musique concrète« seit dem Ende der vierziger Jahre - zunächst in Form von geschlossenen Schallplattenrillen - verwendeten. (435) Maschinengeräusche auf Endlosbändern dienten beispielsweise als Rhythmuselemente und wurden bei Bedarf auch elektronisch verfremdet. Wichtig war allen an der Produktion Beteiligten, »dass technische und inhaltliche Vorgänge ineinandergriffen, in den kreativen Prozess Musiker und Techniker gleichermassen einbezogen waren.« (436)

Während die eine Besprechung die als »musikalische Kurzhörspiele« deklarierten Produktionen dem Bereich der »improvisierten Musik« zuweist und die Autoren in den Kontext entsprechender Gruppierungen in Zürich, Bern und Genf stellt (437), bezeichnet ein anderer Kritiker das Ergebnis als »fünf in sich geschlossene Musikstücke«, an die »eigentlich nur mit musikalischen Kriterien heranzukommen« sei (438); ein dritter spricht von »Quasi-Kompositionen« und von »Etüden über >natürliche< und >künstliche< Klänge«, in denen das Instrumentalspiel dominiert. (439) Tatsächlich ist die Frage, ob hier noch von Hörspielen gesprochen werden kann oder ob die Grenze zur Musik schon überschritten sei, kaum schlüssig zu beantworten. Bedenkt man, dass der Abbau von Dialog und Handlung, die Musikalisierung sprachlichen Materials sowie die Verselbständigung von Geräuschen zu den erklärten Zielen von verschiedenen Richtungen des Neuen Hörspiels gehören, so können die Basler »Stadtgesänge« als konsequente Realisierung eines Hör-Spiels in diesem Sinne betrachtet werden. Die bewusste Einbeziehung des Raumklangs, der im oben beschriebenen Effekt des »natürlichen Übergangs« eine sozusagen dramaturgische Funktion erhält, weist sogar zurück auf das traditionelle Hörspiel. (440) Andererseits spricht die tragende Funktion der instrumentalen Komponenten für eine Zuordnung zum Bereich der Musik.

Das Wesentliche der fünf »Stadtgesänge«, auf das auch im Programmtext hingewiesen wird, erkennt ein Kritiker zu Recht in den »charakteristischen Raumresonanzen, in denen sich die Musikinstrumente bewegen.« (441) Das von Ernesto Molinari (Klarinette) gespielte erste Stück beschreibt er folgendermassen:

»In den knapp neun Minuten gelangt die Klarinette, die zunächst in normaler Zimmerakustik zum Geräusch eines draussen wegfahrenden Autos spielt und nachher auch im Duett mit einer von Molinari im Playback hinzugespielten zweiten Klarinette musiziert, in einen schon recht halligen Raum - in eine Kellerräumlichkeit vielleicht -, um dann für den Schluss in einem ausserordentlich stark hallenden, aber weit entfernten Raum wieder auf ein startendes Auto zu antworten und in der Ferne gleichsam zu verschwinden.«

Damit sind als formale Charakteristika über die Veränderung der Raumakustik hinaus auch der Dialog zwischen instrumentalen Soli und Geräuschen sowie der Kontrast zwischen Vordergrund- und Hintergrundbereich genannt, die sich oft durch verschiedene Nachhalleigenschaften unterscheiden; mit akustischer Perspektive dieser Art war bereits in den dreissiger Jahren experimentiert worden, (vgl. Kap.2.36) Hinzu kommt - etwa im zweiten und dritten Stück - der von experimentellen Worthörspielen längst bekannte Kontrast bzw. die Bewegung zwischen rechts und links, (vgl. Kap.4.433) Zum Hörspielcharakter dieser Produktionen tragen die mehrdeutigen Titel entscheidend bei. Die Überschrift »Parkierte Vögel« stellt die erste Studie in ein thematisches Spannungsfeld, dessen Pole die Stimmen - »Gesänge« - exotischer Vögel einerseits, der Lärm des in der modernen Stadt dominierenden Verkehrsmittels Auto andererseits darstellen. Solchen strukturellen Gegensätzen liegt entstehungsgeschichtlich die Suche nach verschiedenen akustischen Situationen und deren wohl ziemlich spontane, spielerische Kombination bei der Montage zugrunde. Das Pfeifen von Zoovögeln, das einerseits durchaus realistisch als Ambiance einer idyllischen Insel im Stadtlärm gehört werden kann, wird andererseits zur Metapher für die Autos, die quasi als laute, bunte Vögel die Stadt bevölkern. Diese bilden als eigentlicher Gegenstand, dem das Kurzhörspiel gilt, den Rahmen, indem am Anfang ein startendes, am Schluss wiederum ein startendes, während einiger Zeit fahrendes und schliesslich anhaltendes Auto und das Geräusch der Handbremse zu hören sind. Die Andeutung von Schritten am Anfang und am Schluss gestatten dem Hörer aber auch, dieses Stück im Sinne einer fortlaufenden Geschichte zu verstehen, indem er sich an solchen fragmentarischen Hinweisen auf eine Figur orientiert.

Solche Anspielungen auf das traditionelle Hörspiel und eine derart geschlossene Struktur lassen die anderen vier Stücke nicht erkennen. Das zweite Kurzhörspiel mit dem Titel »Stromlinie« ist von den Rhythmen verschiedenster Perkussionsinstrumente, gespielt von Günter Müller, geprägt, die an das Scheppern und Rattern von Maschinen erinnern. Zusammen mit dem langgezogenen Heulen einer Schiffs- und einer Fabriksirene stellt sich assoziativ das Bild einer Hafenlandschaft ein. Kontrastierend dazu werden Klänge einer Kirchenorgel eingeblendet. Am ungewöhnlichsten erscheint das Stück »Zeit, ungehört«, das insofern hohe Ansprüche an den Hörer stellt, als über längere Strecken nur eine subtile Hintergrund-Ambiance erklingt; diese bildet die Folie für einzelne vordergründige Klangereignisse. Stimmen, die allerdings bis zur Unverständlichkeit elektronisch verzerrt sind, schaffen einen unauffälligen Bezug zum Worthörspiel, Instrumental wurde das Stück durch den Schlagzeuger Mani Bielser gestaltet, und zwar, wie schon das vorige, so, dass »nicht mehr klar auszumachen ist, aus welcher Klangquelle nun die Töne kommen«, was als besonders reizvoll empfunden wird. (442) Als zu hart wurde dagegen der Kontrast zwischen Verkehrslärm und instrumentalen Teilen im vierten Stück kritisiert. (443) Mit dem Titel »Windfall« korrespondiert Ueli Derendingers Spiel auf der Shakuhachi, einer weitdimensionierten japanischen Bambusflöte, deren langgezogene Klagetöne sich durch luftreiches Anblasen mit Naturklängen zu vermischen scheinen. Am weitesten von einem Hörspiel entfernt ist die letzte Produktion, in der Felix Bopp die Klänge eines mit verschiedensten Materialien präparierten Klaviers mit normalem Klavierspiel und den Tönen einer Drehleier mischt, welche der Komposition den Titel gab.

Trotz aller akustischen Reize wirkt die letzte Produktion etwas einschichtig und unverbindlich, da hier die musikalischen Elemente dominieren. Diese Beobachtung macht bewusst, dass es der semantische Aspekt der Geräusche, der Tierstimmen und der solche Phänomene imitierenden musikalischen Motive ist, der die fünf Montagen zu Hörspielen macht. Hierin überschneiden sich diese mit traditioneller Programmusik, die ebenfalls die Phantasie des Hörers in eine bestimmte Richtung lenken, Bilder und Stimmungen evozieren oder gar eine als bekannt vorausgesetzte Geschichte nachvollziehen will, und auch die Nähe zu Luc Ferraris »anekdotischer Musik« liegt auf der Hand. Die Tendenz zur Abstraktion, die in Wortproduktionen des Neuen Hörspiels zu beobachten ist, scheint hier umgekehrt zu sein. Ausgehend vom asemantischen Bereich der Musik regen diese Stücke durch »Semantisierung des klanglichen Geschehens« (s.o.) zur Imagination von Hörräumen an, die man in herkömmlicher Terminologie als »innere Bühne« bezeichnen könnte. Darin drückt sich eine Tendenz zur Konkretisierung aus, die aber nicht so weit führt, dass der Hörer wie im Worthörspiel In eine Handlung hineinversetzt wird und sich mitten unter den Akteuren wähnt. An die Stelle solcher Konkretisierung durch das Wort tritt die relative Bestimmtheit des stereophonen Raumes, die einen äusseren Rahmen für die Phantasietätigkeit des Hörers schafft; diese kann sich nun im Unterschied zum traditionellen Hörspiel auf den Entwurf von äusserem oder Innerem Geschehen und allenfalls auch von Figuren richten, worin ihr ein viel weiterer Spielraum sich eröffnet, als dies beim traditionellen Hörspiel je möglich wäre. Musik als Hörspiel, wie sie von Felix Bopp und seinen Kollegen vorgestellt wird, aktiviert in diesem Sinne den interessierten Hörer, macht ihn zum Mitproduzenten, was einer alten Forderung von Vertretern des Neuen Hörspiels entgegenkommt.

 

 

(433) sda, Felix Bopps Radiosendungen mit improvisierter Musik. Die musikalischen Kurzhörspiele »Stadtgesänge«, in: Vaterland, 15.11.84
(434) ib.
(435) vgl. R.Frisius, a.a.O, S.137 f
(436) sda, a.a.O.
(437) ib.
(438) mu, Experiment »Stadtgesänge«. Fünf musikalische Hörspiele, in: NZZ, 15.10.84
(439) Th.Meyer, Stadtgesänge, in: züri-tip, 28.9.84
(440) vgl. Frank, 1963, S.114 ff und S.134
(441) mu, Experiment ‘»Stadtgesänge«. Fünf musikalische Hörspiele, in: NZZ, 15.10.84
(442) ib.
(443) ib.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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