Felix Bopp, »Strassenflucht. Ein Hör- und Sehspiel« (1986)

 

1979 wurde John Cage für sein »Roaratorio - Ein irischer Circus über Finnegans Wake« mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnet, der nach der revidierten Satzung für »die beste radiophonische Produktion, in der Sprache, Geräusche und Klänge nach musikalischen Formprinzipien behandelt werden«, vergeben wird. (445) Dieses Projekt, das aus Texten zu Joyce und seinem Werk sowie aus Geräuschen und Musik zu »Finnegans Wake« besteht, hat den Komponisten weiterhin während Jahren beschäftigt. Hermann Naber bezeichnet es als »>Work in progress« im klassischen Sinn«, dessen stereophone Fassung für das Radio nur eine von vielen Realisationsmöglichkeiten darstellt. »Vorstellbar für Cage wäre auch eine Mischung für vier 16-Spur-Maschinen und 64 Lautsprecher, aufzustellen rund um einen grossen Platz, wobei verschiedene Elemente, sein eigener Gesang zum Beispiel, oder die irischen Musiken wiederum live aufgeführt werden könnten.« (446) In ähnlicher Weise hat der Autor sein Werk 1985 an der »1.Acústica International« in Köln präsentiert. (447) Bei diesem Anlass war auch etwa die Klangskulptur »Metropolis Köln« des Amerikaners Bill Fontana zu hören, in welcher Geräusche von mehreren Plätzen direkt übertragen und über 24 grosse Lautsprecher zur »Symphonie einer Grossstadt« zusammengefasst wurden. Solche Aktionen stehen zwar in Beziehung zum Hörspiel, sprengen aber bewusst den Rahmen des Mediums Radio, das nur noch einen Übertragungskanal unter anderen darstellt. Durch die Möglichkeit der Live-Rezeption wird nicht nur die Dimension des Sichtbaren hinzugewonnen. Entscheidend für Künstler wie Cage ist offenbar, dass die Produktion den Charakter des Unikats verliert, dass die eine, verbindliche, aber beliebig reproduzierbare Realisierung durch eine Vielzahl möglicher Interpretationen abgelöst wird, die wie im traditionellen Konzert und Theater vom Zuhörer, je nach seiner Position, auch verschieden gehört werden kann.

Entsprechende Experimente wurden vereinzelt und in bescheidenerem Rahmen auch in der deutschen Schweiz unternommen. Den Anfang machte »Strassenflucht. Ein Hör- und Sehspiel« (DRS-2, 7.6.86), dessen akustischer Teil von Felix Bopp konzipiert wurde, zum einen für die Live-Übertragung durch das Radio, zum andern für die Quartierbewohner und Besucher, die das Experiment in der Davidsbodenstrasse in Basel an dem betreffenden Sommerabend vor Ort mitverfolgten und ihre »Perspektive« damit frei wählen konnten. Für den visuellen Teil der »Performance«, der in der Dia-Projektion von Innenansichten und Ausblicken aus Häusern der Strasse bestand, waren Urs Rickenbacher und Sämi Eugster zuständig; dieser Teil, der den akustischen nach Einbruch der Dunkelheit zu überlagern begann und schliesslich ablöste, wurde vom Basler Erziehungsdepartement sowie von der Radio- und Fernsehgenossenschaft finanziert. Trotz aller Gemeinsamkeiten der beiden Teile im Hinblick auf das Thema und den Entstehungsprozess stellt die akustische Komposition ein eigenständiges Werk dar, da sie von Anfang an als vollgültige Radiosendung geplant war; sie kann als solche deshalb auch isoliert betrachtet werden.

Als akustisches Material wurden einerseits vorbereitete Aufnahmen, »Konserven«, benötigt; andererseits bildeten die Stimmen der Veranstaltungsbesucher sowie die Ambiance der Davidsbodenstrasse eine wesentliche Komponente. Charakteristische Geräusche, Musiken, Stimmen der Anwohner waren von Felix Bopp und vom Techniker Jack Jakob auf Band aufgezeichnet und zu Kompositionen montiert worden, die am Abend der Live-Sendung von einem 8-Spur-Tonbandgerät über acht Lautsprechersäulen in einen Abschnitt der Strasse eingespielt wurden. Weitere Vorproduktionen ertönten aus portablen Kassettenrecordern, die von Helfern herumgetragen wurden. Über Mikrophone waren zusätzlich Eindrücke von bestimmten Orten, z.B. aus Innenräumen, zu vernehmen. Die gesamte Klang- und Geräuschflut wurde für die Sendung von einem Kunstkopfmikrophon aufgenommen, das im Zentrum der Lautsprecheranlage auf der Strasse installiert war. In dieser Art des akustischen »Happenings«, in welchem Aufnahme und Wiedergabe zu einem komplexen System verflochten sind, tritt der Zufall an die Stelle, die in den »Stadtgesängen« die musikalische Improvisation eingenommen hatte. Die mobilen Wiedergabegeräte können, wie eine Kritikerin schreibt, »auch als improvisierendes Orchester verstanden werden« (448); das Publikum beteiligt sich durch Standortwechsel und akustische Äusserungen an der Komposition, experimentiert hörend mit. (449) Das multimediale Happening, das in Vorbesprechungen auf Sympathie und Interesse gestossen war (450), wurde allerdings in der Rückschau weniger wohlwollend beurteilt. So warf ein Kritiker der Produktion vor, sie ignoriere die Arbeiten etwa von Luc Ferrari und von John Cage und lasse sich »zurückfallen auf Positionen, die in Experimenten längst erforscht wurden.« Das radicphone Ergebnis von Bopps »Strassenflucht« wurde zudem als »In jeder Hinsicht uninteressant, ja todlangwellig« disqualifiziert, da »ein ständig sehr hoher Geräuschpegel alles andere einebnete«. (451)

Die Mischung von Sprache, Geräusch und Musik scheint hier durch die Einwirkung von aleatorischen Operationen wieder dem Rauschen zuzustreben, das Paul Pörtner als Grundlage aller Differenzierung und Formalisierung durch Modulation erkannt hat. Dass die durch den Kunstkopf vermittelte Perspektive in diesem Fall kein besonders eindrück- liches Radio-Hörerlebnis ermöglichte, bedeutet allerdings nicht ein Scheitern des ganzen Experiments. Doch zeigt diese Erfahrung, dass dem Zufall enge Grenzen gesetzt werden müssen, wenn eine radiophone Botschaft entstehen soll, die noch ein Publikum erreichen will. Zufall, Chaos, Anarchie stehen auch in Werk eines John Cage in dialektischer Beziehung zu klaren Strukturen; »Roaratorio« ist nach Hermann Nabers Urteil »das Ergebnis unerhörter Disziplin und Professionalität« In der Auswahl und Montage unzähliger Einzelelemente. (452) Angesichts des Aufwands und der grossen Risiken kann es nicht verwundern, dass solche Produktionen im Programm von Radio DRS sehr selten sind. In der Live-Produktion »Klangdreieck Bern« (DRS-2, 13.6.90) inszenierte eine Gruppe von Musikern und Klangingenieuren unter der Leitung von Andres Bosshard eine Reise durch verschiedene Klangräume der Stadt, die während vier Stunden vom Kulturzentrum Reithalle ins Kunstmuseum, zum Eisenbahnviadukt über der Aare und hinunter zur Wasseroberfläche führte, wo die Wellen Klänge weit entfernter Posaunen reflektierten.

 

 

 

(445) zit. nach: H.Naber, Der Autor als Produzent. Der Karl-Sczuka-Preis für Radiokunst 1970-1980, in: Schöning, 1982, S.171
(446) ib., S.188
(447) vgl. N.Sf., Komponisten als Hörspielmacher. »1 .Acustica International« in Köln, in: NZZ, 27.9.85
(448) E.Wandeler-Deck, Strassenflucht. Zum gleichnamigen Hör- und Sehspiel in einer Basler Strasse, in: Zoom 11/86, S.31
(449) vgl. ib., S.32
(450) ib.; vgl. auch: psr., Eine Quartierstrasse lässt aufhorchen, in: Berner Zeitung, 6.6.86; zz., »Strassenflucht« - ein Hör- und Sehspiel, in: NZZ, 6.6.86
(451) mu., »Strassenflucht« - ein misslungenes Hörexperiment, in: NZZ, 9.6.86
(452) H.Naber, a.a.O., S.186

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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