Jacob Fischer, »Helvetiastraass 17« (1969)

Das Duo Ruedi Walter und Margrit Rainer spielte auch die Hauptrollen in der fünfteiligen Serie »Helvetiastraass 17« (DRS-1, 6.1 .-3.2.69), die der Fernseh-Mitarbeiter und Journalist Jacob Fischer geschrieben hatte, da »so viele erstklassige, populäre Schweizer Darsteller zur Verfügung« standen, die seit 1963 in keiner unterhaltenden Zürcher Dialekt-Serie mehr hatten auftreten können. (65) »Glanzrollen« waren auch vorgesehen für Paul Bühlmann, Inigo Gallo, Fred Tanner, Jörg Schneider und Ulrich Beck, alles Schauspieler, die seit Jahren in Film, Theater und Cabaret, teils zusammen und meist in unterhaltenden Produktionen, auftraten und zu den Lieblingen des Deutschschweizer Publikums gehörten. Die Hauptfigur, Pfarrer Iseii, war inspiriert vom Amateur-Detektiv Father Brown, den G.K.Chesterton über ein halbes Jahrhundert zuvor ins Leben gerufen hatte, und auch von Don Camillo des Italieners Giovanni Guareschi. Trotz dieser ausländischen Vorbilder sollte Pfarrer Iseli ein »typischer Schweizer« sein, »der sich in unserem schweizerischen Alltag zu bewähren hat« und dank seinem kriminalistischen Gespür Entscheidendes zur Aufklärung eines Mordfalls im »Grossstadtmilieu« des Zürcher Industriequartiers beiträgt. Von seiten des Radios brauchte es wohl etwas Mut zur Produktion einer solchen Schweizer Krimiserie, wenn man bedenkt, dass zur selben Zeit die Folgen der englischen Durbridge-Krimiserie die Zuschauer in Scharen vor den Bildschirm lockten und damit einer Fernsehproduktion den Ruf eines »Strassenfegers« verschafften, wie ihn zehn Jahre zuvor noch Radiokrimis genossen hatten.

Aus Edgar Marschs schematischer Darstellung der Bauformen von Kriminalerzählungen wird deutlich, dass die seit den vierziger Jahren gebräuchliche, von Richard Alewyn definierte Unterscheidung zwischen Kriminal- und Detektivroman nur zwei von vier Grundtypen der Kriminalliteratur fasst, welche durch die von Ernst Bloch angeregten Elemente der »Vorgeschichte«, des »Falls« und der »Detektion« in ihrem Verhältnis zum »Erzähleinsatz« zu bestimmen sind. (66) »Helvetiastraass 17« entspricht insofern dem Erzählschema des Kriminalromans, als der Hörer zu Beginn des Spiels den Hergang der Tat und deren Entdeckung miterlebt. Maria, eine junge Frau, die nach einem »Eingriff« krank darniederliegt, wird von ihrem Bekannten Fred in der Silvesternacht in ihrem Zimmer mit einem Strumpf erwürgt. Vikar Huber, der ihr kurz zuvor die Beichte abgenommen hat, entdeckt das Verbrechen und meldet es der Polizei. Der junge Bündner Gaudenz, Freund der Ermordeten und Sohn des arbeitsscheuen Vinzenz Moser, der etwa zur Tatzeit von einem Beamten aufgegriffen worden ist, wird als Täter verdächtigt. Schellenbaum, genannt Schälli, Reporter beim Boulevardblatt »Morgenpost«, wittert schon zu Jahresanfang eine sensationelle Story (»en Hüüler«), und folgt zusammen mit dem Fotografen Fink dem Vater Vinzenz Moser, der sich in sein bündnerisches »Heimatdöörfli« begibt, um Pfarrer Iseli um Hilfe zu bitten. Dieser, ein Basler (weil eben von Ruedi Walter interpretiert), ist wegen seiner Herzbeschwerden zusammen mit seiner Haushälterin in das Bergdorf versetzt worden. In der zweiten Folge reist Iseli nach Zürich, um sich dem Fall seines ehemaligen Pfarrkindes Gaudenz anzunehmen, von dessen Unschuld er überzeugt ist. Gaudenz indessen hat aus Starrsinn ein Geständnis abgelegt, obwohl er nicht der Täter ist. Retardierende Elemente bestimmen die dritte und vierte Folge; Vikar Huber, der als Stellvertreter für Pfarrer Iseli in dessen Bergdorf geschickt worden ist, zieht durch sein Verschwinden den Verdacht auf sich; und auch Pfarrer Iseli fällt beim Kommissär der Zürcher Kriminalpolizei in Ungnade und muss sich der »Beihilfe zum Verbrechen« bezichtigen lassen, weil er den Vikar deckt. In der letzten Folge kommen Iseli und Schälli dem Täter auf die Spur, werden aber von dessen Komplizen in einer Villa gefangengesetzt, wo auch Vikar Huber und die Freundin des Reporters, die zuviel über das Geschehene weiss, festgehalten werden. Der Mörder Fred wartet unterdessen in Mulhouse auf den Start seiner Maschine, die ihn und seine Freundin, getarnt als Mitglieder einer Reisegruppe, nach London bringen soll. Durch einen Zufall - Pfarrer Iseli nennt es »Vorsehung« - verschlägt es Jungfer Regula, des Pfarrers Haushälterin, ebenfalls zum Basler Flughafen. Die Flüchtigen werden in letzter Minute entdeckt und gefasst. Nun fällt auch durch die Erklärungen von Gaudenz Licht auf die Vorgeschichte des Mordes: Fred, Sohn reicher Eltern und gescheiterter Medizinstudent, der auf Abtreibungen spezialisiert ist, hat den Eingriff an Maria vorgenommen; da dieser zu Komplikationen führte, bekam er es mit der Angst zu tun und beschloss, die junge Frau umzubringen, bevor sie ihn verraten würde; den Verdacht lenkte er auf Gaudenz und später auf den Vikar, um sich ungehindert ins Ausland absetzen zu können.

Im Unterschied zu Eusebius Bitterli, der gegen seinen Willen in Kriminalfälle verwickelt wird und sich so darin verstrickt, dass er auf die Hilfe der Polizei angewiesen ist, versteht sich Pfarrer Isell in gewissem Sinne als Konkurrent der Polizei, der er aufgrund seiner höheren Ziele überlegen ist: »S’lsch nitt mini Uffgoob, di wältligi Grächtigkeit herbiizfiere« (IV, S.33); das Beichtgeheimnis verschafft ihm Zugang zu all seinen Schafen, auch zu den schwarzen. In der Variante des geistlichen Amateur-Detektivs, der aus Überzeugung handelt und seine Tätigkeit als »Fortsetzung der Theologie mit andern Mitteln« (67) begreift, manifestiert sich nur fassbarer als in anderen Formen der utopische Anspruch der Gattung, der den Kriminalroman (und natürlich auch das Kriminalhörspiel) »in die Nähe der Bibel und der griechischen Tragödie« rückt. (68) Die »urtümliche »Sündhaftigkeit«, wie sie den verbrecherischen Menschen im Kriminalroman kennzeichnet«, wird in dieser Hörspielfolge besonders deutlich durch »die Versuche seines besseren Bruders« kontrastiert, »die durch die »Erbsünde« gestörte Welt zu heilen«. Pfarrer Iseli geht es im Fall Gaudenz Moser »einzig und ellei drum, en Ungrächtigkeit z’vermiide und defür z’sorge, dass en junge Mänsch nitt 's Vertraue i siich und sini Wält verliert«. (II, S.7) Im Unterschied zur Polizei, die jeden Beteiligten verdächtigen muss, bis seine Unschuld bewiesen ist, betrachtet er es als seine Pflicht, keinen einer Untat zu verdächtigen, selbst wenn er noch Anlass dazu gäbe. (II, S.22) Und auch ein Mörder hat Anspruch auf Mitleiden, »verschteens mi rächt - i sag Mit-Liide, nitt aifach Mitlaid und ufd Liebi wenigschtens vo sine gaischtlige Mitbriedere... jä!« (V, S.6) Eine solche Haltung steht dem Nachfahren von Father Brown und Don Camillo wohl an und gibt der Krimi-Serie einen menschlichen Anstrich. Dabei bleibt es aber auch. Iselis Humanität ist stets durch seine Doppelrolle als Pfarrer und Detektiv motiviert und nicht zu vergleichen mit der ethisch-sozialen Haltung eines Studer, der sich für die Gesamtheit der Verhältnisse interessiert, in deren Bereich ein Verbrechen geschieht, und dies noch mehr als für den Fall selbst. Am Schluss der Reihe »Helvetiastraass 17« wird die »Vorsehung« bemüht, um den Mörder dingfest zu machen. Diese »Pointe« geht zu Lasten sowohl der Kriminalhandlung als auch des moralischen Gehalts und macht eine Schwäche offenbar, die im Grunde genommen der ganzen Hörspielserie eigen ist.

Mit Haesers Krimi-Reihe und mit den Wäckerli-Serien ist Fischers »Helvetiastraass 17« vor allem auch durch den humorvollen Einschlag verbunden. Komik äussert sich schon in der von Chesterton übernommenen Gestalt eines Pfarrers, der, eigentlich für geistliche Dinge ausersehen, sich mit durchaus weltlichen Geschäften abgibt, und zwar so leidenschaftlich, dass beinahe die Basler Polizei arbeitslos geworden wäre, wenn der resolute Herr nicht durch höhere Fügung in einen anderen Wirkungskreis versetzt worden wäre. Wie die Hauptrolle, so sind auch andere Rollen, etwa die der pfarrherrlichen Haushälterin, des Bündnerschädels Vinzenz Moser oder des Sensations-Reporters, durch die von vornherein feststehende Besetzung in ihrer Typik determiniert. Die Komik der Situation wird breit ausgemalt, wenn etwa Pfarrer Iseli sich einen guten Tropfen gegen den Willen seiner biederen Haushälterin regelrecht erschleichen muss, um dem alten Moser die Zunge etwas zu lockern. (I, S.26f) Erheiternd wirkt auch der Stossseufzer über den jungen Vikar, den Iselis Kollege, Pfarrer Müller, vor sich hin murmelt:

»Sancta Simplizitas! Nimmers nöd übel, Herrgott, aber wänn schicksch eus eines Tages wider Lüüt wo druuschömed? Was hämmer aagschtellt, dass du sönigi Genie uf eus looslasch - alles wüsseds, vom Einstein bis zum Zeiseberg, vom Saint Exüpery bis zum Grass, vom Mozart bis zu de Beatles, oder wie die gheissed, vom Hypokrates [sic] bis zum Barnard - aber was imene Mänsch würklich vorgaht, Herrgott... wänd eismal wieder e paar Praktiker hettisch...« (I, S.10)

Durch Sprache und Situation bedingt sind auch viele witzige Effekte, die auf dem sozialen Gefälle zwischen Personen beruhen, etwa wenn der lateinkundige Pfarrer Iseli sich »per pedes Apostolorum« zum Polizeiposten begeben will und ein Detektiv dies zuhanden seines Kollegen »mit em Mercedes Dingsborum oder was« verdeutscht. (II, S.18) Von da aus ist es nicht mehr weit bis zu flotten Sprüchen, die nicht nur in Szenen zu hören sind, welche in der Quartierbeiz »Zur schwarzen Tinte« spielen.

»Die Nachfrage nach Dialekthörspielen ist ebenso gross wie die Scheu junger Autoren, Dialekt zu schreiben. In der Tat läuft hierzulande ein Schriftsteller Gefahr, in Kritikerkreisen nicht mehr ganz für voll genommen zu werden, wenn er sich auf die »Dialektbühne« begibt. Mit »Helvetiastraass 17« glaubt Jacob Fischer nun aber, einen Stoff gefunden zu haben, bei dem der Dialekt mehr ist als ein blosses Zugeständnis an den Publikumsgeschmack.« (69) So wurde die Reihe in dem kurz zuvor erst ins Leben gerufenen Hörspiel-Programm-Bulletin der Abteilung »Dramatik« angekündigt. Fischers Kriminalkomödie wurde damit in die Nähe jener Produktionen gerückt, mit denen man seit 1963 versuchte, den Dialekt literarisch »salonfähig« zu machen und ihm jenseits von Schwank, Heimatschutz und biederer Erbauung »eine direkte, ja sogar provozierende Wirkung« abzugewinnen. (70) Der Kritiker der NZZ nahm diesen Anspruch ernst und hielt fest, es gehe »weniger darum, wer der Mörder sei, als darum, ob Fischer eine mögliche, wesentliche oder gar bereichernde und erneuernde Form des Dialekthörspiels gefunden habe.« (71) Der Befund fiel positiv aus, was die »dramatische Verwendbarkeit« der Alltagssprache und die Qualität der »ungestelzte[n] Mundartdialoge« anbelangt. Erwähnt werden muss darüber hinaus, dass in dieser Serie die verschiedensten Idiome vom Baseldeutsch über Zürichdeutsch, Ostschweizer Mundart bis zu Bündner Dialekt verwendet werden, ohne dass damit, wie in den fünfziger Jahren noch oft, eine Wertung der Personen verbunden war; ein Basler als Interpret der Hauptrolle in einer Zürcher Produktion wäre wohl zehn Jahre früher noch undenkbar gewesen.

Trotz positiver Anmerkungen wurde die kritische Besprechung zum Verriss, der die offensichtlichen Schwächen der Personencharakteristik und der Handlungsführung schonungslos aufdeckte. Dass sich »die Aufklärung eines Mordes - sämtliche spannungserzeugenden Irrungen und Wirrungen mitgezählt - mühelos in neunzig Minuten hätten bewältigen lassen« (72), ist nur zu unterstreichen; Langeweile macht sich vor allem in der zweiten bis vierten Folge breit. Schwerer noch wiegt der zutreffende Vorwurf der Konventionalität und Antiquiertheit. Fischers Hörspielfolgen werden in der Tat bevölkert von sattsam bekannten Typen wie etwa der leichtlebigen Serviertochter, dem dickschädeligen Bündner Stadtstreicher, der naiv-treuherzigen Haushälterin, dem sensationslüsternen Reporter, dem Polizeikommissär mit rauher Schale und weichem Kern und dem Studenten, der sich »vorzugsweise mit Zynismus auf der schiefen Bahn bewegt und von protzigen Eltern stammt.« Diese passen zwar ins seldwylerisch-spiessige Quartierleben der Helvetiastrasse, das zwanzig Jahre früher noch niemanden gestört hätte. Mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen eines Industriequartiers in einer Stadt wie Zürich gegen Ende der sechziger Jahre aber hatte diese Szenerie so gut wie nichts gemeinsam. Harmlos erscheinen da nicht nur die Verbrecher, sondern auch die an der Aufklärung beteiligten Vertreter des Boulevardblattes und vor allem die Polizei, deren Exponenten sich hinsichtlich ihrer artigen Gesinnung und wackeren Betriebsamkeit von den Landjägern aus Polizist Wäckerlis Zeiten kaum unterscheiden. Die städtische Kulisse und der Anspruch der »Modernität« hebt diese Produktion zwar äus- serlich von den Sendespielen der Heimatschutz-Dramatik ab, doch ist sie deckungsgleich mit diesen im Hinblick auf die Vermittlung eines durchweg konservativen Weltbildes. Grass, die Beatles und der Herzchirurg Professor Barnard fungieren nur als Kennmarken einer »modernen« Zeit; eingebettet sind sie bezeichnenderweise in ein Lamento des Zürcher Quartierpfarrers über Zeiten und Sitten und über die Praxisferne des jungen Vikars. Der Vorwurf, die Kriminalkomödie verkehre sich hier in eine »verstaubte Trivialkomödie«, kann diesem gutgemeinten Versuch zur Erneuerung eines populären Genres nicht erspart werden.

Am Erfolg dieser rückwärtsgewandten Produktion änderte die unmissverständliche Kritik nichts. Einer Verfilmung schien schon aufgrund der gleichen Star-Besetzung der Hauptrollen die Gunst des Publikums sicher. Und auch die Abteilung »Dramatik« entschloss sich zur Produktion einer fünfteiligen Fortsetzung, die nun den detektivisch begabten Geistlichen und damit dessen überaus populären Darsteller, Ruedi Walter, schon im Titel hervorstrich. In der Serie »Pfarrer Iseli« (5.1.-2.2.70) geht es um die Bekämpfung einer illegalen Organisation, die sich unter anderem mit der Einfuhr von Haschisch befasst. Der streitbare Pfarrherr kann diesen zeittypischen Fall vorerst nur mit Hilfe seiner Haushälterin angehen, da er sich zur Behandlung seines Herzleidens in Spitalpflege begeben musste. Die Handlung wurde damit zunächst in ein Milieu von zeitloser Aktualität verlegt und durch Personal bereichert, welches Gedanken an trivialliterarische Vorbilder unausweichlich macht.

 

(65) B.Felix, Helvetiastraass 17, in: r+f 1/69, S.66
(66) vgl. Marsch, 1972, S.56 und S.82 f
(67) xb., Schleppende Irrungen und Wirrungen. Die Hörspielreihe »Helvetiastraass 17«, In: NZZ, 7.2.69
(68) Marsch, 1972, S.25
(69) Pgr 1/69, S.3
(70) Pgr 2/68, letzte Seite
(71) xb., »Helvetiastraass 17«, in: NZZ, 7.1.69
(72) xb., Schleppende Irrungen und Wirrungen, a.a.O.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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