Hansjörg Schneider , »D'Schlummermueter« (1971)
Typoskript

 

Dürrenmatt hatte den Schreibtisch noch ohne Zögern als den Arbeitsplatz des Hörspielautors bezeichnet. Von dieser bis heute vorherrschenden Auffassung und somit vom herkömmlichen Bild des SchriftsteWers muss sich ein Autor lösen, wenn er als Hörspielmacher mit Originalton, mit »tönende[r] Sprache« im eigentlichsten Sinne, arbeiten und selbst »Dinge machen« will, »die tönen«, wie Döblin in seinem berühmten Vortrag 1929 gefordert hatte. (313) Dass die meisten Autoren diesen Schritt nicht wagen, teils wohl auch aus Scheu vor den technischen Komplikationen und Reibungsverlusten, die sich durch die Zusammenarbeit mit Vertretern des Mediums ergeben können, ist sicher ein Grund, weshalb nur wenige Produktionen dieser Art entstanden sind. Ein anderer Grund mag im Zögern der professionellen Hörspielmacher von Radio DRS zu suchen sein, allzuviel von ihren Kompetenzen abzutreten und schwer kalkulierbare Risiken einzugehen. Es scheint deshalb bezeichnend, dass etwa die Hälfte der entsprechenden Produktionen, die zwischen 1970 und 1978 entstanden, ausschliesslich von Radiomitarbeitern konzipiert und realisiert wurden.

Dass die erste Produktion, die von Originalton-Aufnahmen ausging, nicht ein internes Projekt war, sondern von einem jungen Autor ohne Radioerfahrung stammte, ist erstaunlich. In der Art ihrer Entstehung, die ihr einen besonderen Charakter verleiht, drückt sich deutlich die beschriebene Neigung aus, die Sphären des Autors und der Produzenten in bewährter Art auseinanderzuhalten. Dem Dialog »D'Schlummermueter« (DRS-2, 5.9.71) liegen Tonbandaufzeichnungen zugrunde, die Hansjörg Schneider im Herbst 1970 von Gesprächen mit einer seiner ehemaligen Zimmervermieterinnen gemacht hatte. Dass die alte Frau bereit gewesen wäre, sich ebenso spontan und ausführlich zu äussern, wenn ein Techniker des Radios die Aufnahmen besorgt hätte, scheint eher unwahrscheinlich; zumindest muss angenommen werden, dass durch solche äusseren Faktoren die Unbefangenheit verlorengegangen wäre, die den Reiz dieser Produktion ausmacht. Schneider ging von eigenen Tonaufzeichnungen aus, die er im genauen Wortlaut in schriftliche Form übertrug. Aus dieser Rohfassung entstand durch Kürzung und leichte Bearbeitung das Manuskript des Dialekthörspiels, dessen »Rollen« vom Autor selbst und von Elfriede Volker unter der Regie von Joseph Scheidegger im Studio gesprochen wurden. (314) Zwei Jahre später erschien eine hochdeutsche Bearbeitung der Urfassung in Buchform, die mehr als dreimal so lang ist wie das Hörspielmanuskript und sich nun als ununterbrochener Monolog präsentiert; obwohl sich diese Übertragung stark an die Umgangssprache anlehnt, ging mit der Mundart auch viel vom Reiz der ursprünglich gesprochenen Form verloren. (315) 1976 erschien unter demselben hochdeutschen Titel auch eine Bearbeitung für die Bühne.

Obwohl diesem Projekt als authentische Zeugnisse die Lebenserinnerungen einer alten Frau zugrundeliegen, kommen keine Zweifel am fiktionalen Charakter des Endprodukts auf. Zu bedeutend ist die Bearbeitung durch den Autor, als dass dieses als dokumentarische Sendung missverstanden werden könnte. Der Hinweis in der Programmzeitschrift spricht von einem »Extrakt« aus dem wörtlichen Transkript, womit auf die beträchtlichen Kürzungen, auf bewusste Auswahl und Umstellungen hingewiesen ist; obwohl der Redefluss kaum Einschnitte und keinen Aufbau erkennen lässt, liegt also eine Montage vor. Trotz aller erhaltenen Redundanz ist offensichtlich, dass der Text auch sprachlich geglättet wurde. Der Hauptperson ist als Gesprächspartner ein Philosophiestudent gegenübergestellt, der seine Fragen und lakonischen Reaktionen aus der Verlegenheit der Situation stellt, da er »mit Frau Rudin nichts Vernünftiges reden« kann (S.1). Die beiden sind sich zufällig in einem billigen Restaurant begegnet, nachdem sie sich während Jahren nicht mehr gesehen haben. Die Frau »ist sehr froh, jemanden gefunden zu haben, dem sie erzählen kann.« Weiter heisst es in der kurzen Vorbemerkung, sie erzähle »fliessend, nicht schnell, aber an einem langen Faden. Dieser Faden ist so lang, dass er eigentlich Jahrzehnte lang anhalten könnte.« (S.1) Der Dialog beschränkt sich auf Belanglosigkeiten und geht nach wenigen Minuten in einen Monolog über, der bis zum Schluss nur noch selten von einsilbigen Äusserungen des jungen Mannes unterbrochen wird. Frau Rudin erzählt, was sie in sieben Jahrzehnten erlebt hat: von ihrem harten Beruf als Büglerin, von ihrer Ehe und der Arbeitslosigkeit ihres Mannes in den zwanziger Jahren, vom Dienst als Sanitätshelferin im zweiten Weltkrieg, von ihren körperlichen Beschwerden und vom Tod ihrer Nächsten. »Was in ihrem Kopf zu Hause ist, geht konfus durcheinander; sie lässt fast nichts aus, was die Leute beschäftigt, und im Reden springt sie von Thema zu Thema, meist ohne Übergang, gerade so, wie es sich ihr eingibt; für einen Schriftsteller ist diese Assoziationstechnik des Erzählens eine Fundgrube«, kommentiert ein Kritiker. (316)

In der Reproduktion schlimmster Vorurteile, etwa gegenüber Ausländem, in der Äusserung von Platitüden des Common sense und krasser Unwissenheit zeigt sich eine der Gefahren des O-Ton-Hörspiels: Nur der erkennbar fiktionale Charakter schützt die »Lieferanten« des »Materials« vor Blossstellung. Dieses Problem stellte sich in veränderter Form auch Paul Wühr, der seine Interviewpartner um die Erlaubnis bat, frei über die Aufnahmen verfügen zu dürfen. Um die unzähligen einzelnen Statements auf ein darin verborgenes »Gesamtbewusstsein« hin transparent zu machen, musste er einzelne Aussagen isolieren und in neue, unerwartete Zusammenhänge bringen. Das Originalton-Hörspiel bietet seiner Ansicht nach »die Möglichkeit, durch offenes Eingeständnis der Manipulation diese aufzuheben und damit auch den Glauben an die Authentizität von Dokumenten abzubauen.« (317) Aber die Methoden eines solchen Hörspiels müssen »streng gemessen werden an der Verantwortung vor dem, der das dokumentarische Material liefert.« (318) Schneiders wesentlich weniger aufwendiges Hörspiel, das zur selben Zeit entstand und nur vier Monate später gesendet wurde, ist insofern besonders exponiert, als es sich nicht aus Hunderten von Einzelausschnitten anonymer Äusserungen zusammensetzt, sondern eine Person ganz ins Zentrum stellt und damit auch charakterisiert. Sie zum Sprachrohr eines überindividuellen Bewusstseins zu machen, gelingt ihm durch die Einführung des Studenten, der in gewissem Sinn den Hörer im Spiel vertritt. Durch seine Reserviertheit, die sich oft nur im Tonfall äussert, wird bewusst, dass sich hier eine Mentalität ausspricht, der man sich nur allzu gern verschlissen möchte. Die spürbare Authentizität bewirkt, dass eine Distanzierung nicht gelingt, dass sich im Gegenteil Betroffenheit und schliesslich Verständnis einstellen. Das wurde auch in einer Kritik bemerkt, die Schneiders »Schlummermueter« als ein »ungewöhnliches und gutes Hörspiel« begrüsste: »Es entsteht aus dem Mund von Frau Rudin ein Bild der Schweiz, das ein einziges Durcheinander ist, wesentlich jedoch in seiner Alltäglichkeit.« (319)

Typologisch ergibt sich hier ein Anknüpfungspunkt zu Werner Schmidlis »Redensarten« (vgl. Kap. 4.431), die sich von Schneiders Hörspiel durch die Isolierung von »Sprachka- davern« und durch deren verfremdende Übertragung ins Hochdeutsche abhebt. Die in Schweizer Originalton-Produktionen unvermeidliche Mundart verschafft diesem Typus eine Sonderstellung im Bereich des experimentellen Hörspiels. Die bewusste Entscheidung für den Dialekt und die enge sprachliche Anlehnung an die Originalton-Vorlage unterscheidet Schneiders Arbeit von dem zweieinhalb Jahre früher gesendeten sprach- experimentellen Hörspiel Schmidlis und macht es zu einer Vorform des Originalton-Hörspiels. Es ist wohl kein Zufall, dass Schneider sich auch auf dem Gebiet des Features versucht hat; in »Johann Kaspar Pfenninger, Stäfa« (DRS-1,29.4.79) dokumentierte er den »Stäfnerhandel von 1795 bis hin zum Zusammenbruch der alten Ordnung im Jahre 1798« (Untertitel) anhand von historischen Quellentexten. Die Alltagswirklichkeit der Gegenwart gestaltete er wieder in den Kurzhörspielen seiner Zyklen »Das goht doch ned!« (DRS-1, 16.-20.11.81) und »Das esch doch öppis anders« (DRS-1,3.3.85).

 

(313) Pörtner zitiert Döblins Text und schreibt in Anlehnung an diesen: »Es geht - vereinfacht gesagt - darum, die Literatur von den Lettern, dem Buchdruck, der >Konservenkultur< (Moreno) zu lösen und sie in den Status einer lebendigen direkten Kunst des Erzählens oder Spielens zurück- oder vorauszuführen.« (P,Pörtner, Keine Experimente mehr? Überlegungen zum Neuen Hörspiel, in: Schöning, 1982, S.263)
(314) vgl. Wk, D’Schlummermueter, in: r+f 36/71, S.37
(315) Schneider, 1973
(316) Ib., »D’Schlummermueter«, in: NZZ, 7.9.71
(317) P.Wühr, Die Entstehung des »Preislieds«. Rede nach den Entgegennahme des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 14.April 1972, in: Wühr, 1973, S.52
(318) ib., S.51
(319) Ib., »D’Schlummermueter«, in: NZZ, 7.9.71
(320) vgl. G.Wiederkehr, Was wir täglich hören, »z’friede, so wie’s isch«, in: r+f 9/72, S.74 f

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.gratis-besucherzaehler.de