Rolf Hörler, »Nekrolog« (1977)

 

Das erste sprachexperimentelle Hörspiel, das sich formal weiter vorwagte, RolfHörlers »Nekrolog« (DRS-2, 7.2.77), entstand fast zehn Jahre nach dem ersten Auftreten ähnlicher Versuche im Programm deutscher Sender, nachdem die Diskussion über deren Sinn und Grenzen unter Autoren, Rundfunkdramaturgen und Literaturtheoretikern längst geführt und die »Differenz von Intention und Rezeption« diagnostiziert war. (416) Das Hörspiel lehnt sich in seiner Struktur und in einzelnen Details so stark an »Fünf Mann Menschen« von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker an, dass es nur im Vergleich zu dieser bahnbrechenden Produktion aus dem Jahr 1968 und als deren bewusste Variation gesehen werden kann. In Entsprechung zu diesem und im Unterschied zu »Badekur« treten Musik und Geräusche neben das Wort, doch werden sie nicht als konstitutive Elemente genutzt, sondern dienen eher in traditioneller Weise als Kulissen und Hilfsmittel zur Verdeutlichung der Aussage. Die Produktion wurde im Rahmen des »Montagsstudios« einmal gesendet und seither nie mehr wiederholt.

»Nekrolog« wird von sechs Stimmen gesprochen, die auf der Titelseite des Manuskripts aufgelistet und mit den Abkürzungen »M1 / M2 / M3 / F1 / F2 / F3« (M = Männerstimme, F = Frauenstimme) bezeichnet werden. Am Anfang und am Ende trägt eine Kinderstimme dieselben zehn gereimten Zeilen über die Stufenaltern des Menschen vor. Ausser der Aufteilung in männliche und weibliche Stimmen ist keine weitere Differenzierung vorgeschrieben; die Stimmen sind völlig entpersonalisiert, verkörpern keine Figuren, sondern artikulieren lediglich einzeln oder gemeinsam ihren Text. Ihre Positionen im zweidimensionalen stereophonen Hörraum zwischen links und rechts werden bei jedem Einsatz mit Abkürzungen exakt angegeben (»ganz I.«, »4/5 I.«, »Mitte«, »1/2 r.« etc.), ebenso besondere Nähe oder Distanz zum Mikrophon (»nah«, »vordergründig«, »entfernt« etc.) sowie die Intensität bzw. deren Veränderung (»laut«, »von halber Lautstärke bis laut«, »unterstrichene Wörter lauter herausheben«, »gemurmelt anfangen - Crescendo« etc.) und weitere Finessen der Artikulation. Dem Eindruck starrer Positionen wird an einzelnen Stellen durch systematische Reihung von Positionen oder durch Bewegung von Sprechergruppen im Raum entgegengewirkt: so entsteht etwa am Schluss die Illusion einer Art von akustischer Perspektive, indem die »Gruppe ausgefächert nach hinten« zu hören ist (S.26); an anderer Stelle bewegen sich drei Stimmen im Uhrzeigersinn, die andern drei gegen den Uhrzeigersinn um das Mikrophon herum (S.11), oder es sind »Quergänge vor Mikrophon mit verschiedenen Abständen« für die beiden Halbgruppen vorgesehen (S.19).

Geräusche treten entweder punktuell auf (»Säuglingsschrei«, »Start Düsenflugzeug«, »Martinshorn vorbeifahrend«) oder werden minutenlang bestimmten Sprechpassagen unterlegt (»Säuglinge in Säuglingsstation«, »Marschier- und Exerziergeräusche«, »Schreibmaschinengeräusch mit zwei Fingern getippt«, »Kapellen-Glöcklein«, »Aus- senatmo mit Vögeln und Bienen«); am Anfang und am Schluss wird durch das Öffnen mehrerer Türen von links bis zur Mitte und durch deren Schliessen von der Mitte nach rechts der Eindruck der Bewegung von Geräuschen im Raum hervorgerufen. Orgelmusik ertönt an drei Stellen am Anfang, in der Mitte und am Ende des Spiels; als weitere musikalische Einlage untermalen die ersten Takte des Fahnenmarsches die militärische Episode.

Hörlers Sprachspiel ist in formaler Hinsicht deshalb leicht rezipierbar, weil es sich, abgesehen von den Versen am Anfang und Ende, auf zwei Arten von Texten beschränkt. Den kleineren Anteil haben mehrere Zitate des vorgedruckten Textes von amtlichen Formularen; den Rest bestreiten nach den obigen Variablen in kunstvoller Abwandlung gesprochene Reihen von Wörtern, die Franz Mon mit Rücksicht auf die simultan-räumliche Komponente als »Wörteragglomerationen« bezeichnet hat. (417) Es sind samt und sonders Partizipien von Verben mit der Vorsilbe ein- bzw. aus-, die, einander gegenübergestellt, den antithetischen Charakter des Spiels unterstreichen. Nur am Anfang und am Schluss wird der Gegensatz durch zwei entsprechende Substantive ausgedrückt: begleitet von den sich öffnenden Türen spricht eine männliche Stimme von halblinks: »Eingang«, danach, begleitet von den sich schliessenden Türen, von halbrechts: »Ausgang«. (S.1) Von ganz links ertönt darauf: »Ein« zum Geräusch mehrmaligen Einatmens, das sich von links zur Mitte hin verschiebt, worauf sich das Geräusch des Ausatmens nach rechts fortsetzt und auf »Aus« endet. (S.1; vgl. S.28) Am Schluss spricht eine Stimme in pastoralem Tonfall: »DEINEN AUSGANG SEGNE DER HERR UND DEINEN EINGANG GLEICHERMASSEN!« (S.29)

Trotz der Reduktion umfangreicher Teile des Textes auf »Agglomerationen« von infiniten Verbformen, die ganz dem Programm der konkreten Poesie entspricht, werden sich im Falle dieses Hörspiels keine »Kommunikationsprobleme zwischen Hörspiel und Hörer« (418) ergeben, da mit zunehmender Spieldauer Immer deutlicher ein Thema und eine Zielrichtung erkennbar werden, die Handlung und Charaktere zu ersetzen vermögen. Darin zeigt sich, was wiederholt festgestellt worden ist: dass sich die wenigsten experimentellen Produktionen ganz auf Form um ihrer selbst willen beschränken, sondern die aus der Montage sich ergebenden vielfältigen Wirkungen einem Hauptthema unterordnen, welches die intellektuellen Fähigkeiten des Hörers ansprechen und dessen Bedürfnis nach Sinngebung befriedigen. Würffel hat darin zu Recht eine »Parallele zum literarischen Hörspiel« gesehen. (419) »Nekrolog« beschreibt den Zyklus eines Lebenslaufes von der Wiege bis zur Bahre, was vor allem durch die Reihenfolge der zitierten Formulare deutlich wird: Es sind dies ein Geburtsschein, ein Aushebungsformular, ein Verkündgesuch, ein Helmatschein, eine ärztliche Todesbescheinigung und eine Mitteilung des Zivilstandsamtes betreffend Abdankung. Den verschiedenen Lebensstationen lassen sich auch die »Teppiche« von Partizipien mit den Vorsilben ein- und aus- zuordnen, die zudem oft durch Geräusche in einen situativen Kontext gesetzt werden; da wird, kaum ist das Säuglingsgeschrei verstummt, »eingeschärft, eingepaukt, eingeschüchtert, eingetrichtert« (S.4); kunstvoll ist ein verbaler Koitus gestaltet, der in dem von Männer- und Frauenstimme gemeinsam gesprochenen »einssein« gipfelt (S.9 ff); am Ende ist man »ausgeblutet, ausgeflossen, ausgezählt, ausgeschieden« (S.22) und wird bald schon »eingeäschert, eingesargt, eingescharrt«. (S.26) An »Fünf Mann Menschen« erinnern nicht nur die geraffte Form eines Lebenszyklus, dessen Ende mit dem Anfang kurzgeschlossen wird, sondern auch die obligaten Szenen in Säuglingsabteilung, Schule und Kaserne. Aber auch in kalauerhaften Einschüben zeigt sich die geistige Verwandtschaft, etwa im abgewandelten Sprichwort »Ausgehoben ist nicht aufgehoben«, das von einigen Takten des Fahnenmarsches begleitet wird. (S.7)

Dieses Hörspiel wäre als epigonal zu qualifizieren, wenn man es ganz ernst nehmen wollte. Betrachtet man es aber als eine Art »Divertimento«, wie Urs Widmer es vielleicht nennen würde, so kann man darin eine spielerische Abwandlung von längst »er-experimentierten« Formen sehen, welche aufgeschlossenen Hörern des zweiten Programms die noch immer nicht vollends vertrauten und akzeptierten Neuerungen auf humorvolle Art näherzubringen versuchte. Dass es nicht nur im Sinne rigider Sprach- und Gesellschaftskritik verstanden werden will, drückt sich vor allem in seiner Pointierung aus, die der Kreisstruktur eigentlich zuwiderläuft. Erst am Ende nämlich versteht man die wiederholt eingestreuten Hinweise: »Man beachte die am Schluss gegebenen Anweisungen.« (erstmals S.5) Diese fordern »Pfarrherren, Redakteure, Radio- und Fernsehkommentatoren, offizielle Sprecher, Politiker und andere Abdankungsbevollmächtigte« auf, den Angehörigen die vorliegende Zusammenstellung vor der Abdankung auszuhändigen, damit sie »die für Leben und Werk des Verstorbenen zutreffenden Wörter unterstreichen können.« Die markierten Ausdrücke werden dann »in würdiger Weise aneinandergereiht, zu Trost und Erbauung der Trauergäste«. (S.29) Das Hörspiel, das Formulare zitiert, erweist sich selbst als ein akustisch präsentiertes Formular und zugleich als Satire, die Unehrlichkeit und Förmlichkeit von Abdankungen als letzten Akt eines in Schematismus erstarrten Lebens erkennbar macht. Fritz Gafner hat dieses Thema auf konventionelle Weise in seinem Hörspiel »Eugen oder De Hamwäg« (DRS-1,13.12.67) und »Das Formular« (DRS-2, 10.4.71) behandelt.

 

 

(416) Keckeis, 1973, S.53; Keckeis referiert die Auseinandersetzung von H.Vormweg, R.Matthaei und E.Schöfer mit H.Heissenbüttels texttheoretischen Ansätzen und deren Anwendung im Neuen Hörspiel, (vgl. ib., S.57 ff)
(417) F.Mon, Vorbemerkung zu »das gras wies wächst«, in: Schöning, 1969, S.197
(418) Keckeis, 1973, S.53
(419) Würffel, 1978, S.158f

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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