Rudolf Jakob Humm, »Rousseau war ausser Hause« (1975)
Typoskript


Teilweise bis ins Detail genau hält sich Rudolf Jakob Humm in seinem vierten Hörspiel »Rousseau war ausser Hause« (DRS-2, 8.2.75) an die historische Überlieferung, und dennoch ist dieses nicht mit einer dokumentarischen Darstellung im Sinne einer Hörfolge zu verwechseln. Vor allem in einem entscheidenden Punkt weicht Humm von dem ab, was über die thematisierte Begegnung bekannt ist: Der schottische Adlige James Boswell hat Jean-Jacques Rousseau im Dezember 1764 fünf Besuche im neuenburgischen Môtiers abgestattet, aber es gibt keine Belege dafür, dass er zuvor längere Zeit allein im Gespräch mit dessen Lebensgefährtin Thérèse Levasseur verbracht hat, während Rousseau angeblich abwesend war. Dass der Philosoph nicht als handelnde Person auftritt, obwohl sein Name im Titel figuriert, ist von Bedeutung. Wie Humm aus der Spannung zwischen historischer Faktizität und fiktionalen Elementen ein Bild des Philosophen erstehen lässt, soll in der folgenden Einzelinterpretation gezeigt werden.

Das Spiel besteht aus einem mehr als einstündigen Dialog zwischen dem 24-jährigen James Boswell und der 43-jährigen Thérèse Levasseur, welche den Berühmtheiten sammelnden »Touristen« (S.4), nachdem sie ihm zunächst äusserst abweisend begegnet ist, in der Küche des Bauernhauses zu Môtiers hinhält, bis sich nicht mehr verbergen lässt, dass Rousseau gar nicht zu Hause ist. Bis dahin hat Thérèse im Gespräch über den Abwesenden den unerwarteten Gast bereits so sehr umgarnt, dass er sich nicht mehr ohne weiteres zurückziehen kann. Was die beiden einander mitteilen, nimmt mehr und mehr den Charakter von Bekenntnissen in der Art der »Confessions« an, die Rousseau soeben niederzuschreiben begonnen hat und die er sechs Jahre später abschliessen, aber bis zu seinem Lebensende nicht veröffentlichen wird. Die Geständnisse des exaltierten jungen Schotten entsprechen teils wörtlich den Aufzeichnungen in seinem Tagebuch »Boswell on the Grand Tour. Germany and Switzerland 1764« (332) und stellen sich als deren mündliche Zusammenfassung und weitere Ausdeutung dar: »Ich führe Tagebuch, Mamsell Therese [sic], notiere alles, versetze mir schallende Ohrfeigen. Ja, ich bin ehrlich. Mit mir gehe ich offen und direkt um.« (S.38). Thérèses freimütige Äusserungen entspringen ganz und gar der momentanen Situation; sie führen aber, im Unterschied zu den oft unfreiwillig komischen Selbstoffenbarungen ihres einfältigen Gesprächspartners, am Schluss des Hörspiels zu einer erschütternden Lebensbeichte.

Boswell hat auf der Reise von Utrecht nach Potsdam Lordmarschall Keith, den Gouverneur des preussischen Fürstentums Neuchâtel, kennengelernt und will nun unbedingt den berühmten Rousseau, dem »Lord Marischal« seit zwei Jahren Asyl gewährt, kennenlernen, um ihm sein Herz auszuschütten. In der Postkutsche hat er sich durch die Lektüre des »Émile« auf die Begegnung vorbereitet, des Werkes, das, zusammen mit dem »Contrat social«, seinem Autor das Schicksal der Verfolgung eingetragen hat. Die Ursache seiner inneren »Wirrnis« (S.13) stellt Boswell zunächst als Zwiespalt zwischen aristokratischem Standesbewusstsein und jugendlicher Lebenslust dar. Durch seine Erziehung, die in krassem Gegensatz zu den Idealen des »Émile« steht, ist ihm der Baron »eingeprügelt« (S.13) worden; da er von Standes wegen »hochmütig wie der Teufel« (ib.) ist, überkommen ihn hinterher stets Schuldgefühle, wenn er aus seiner Rolle gefallen ist und sich »mit dem Volk gemein« gemacht hat (S.26). Angekränkelt von aufklärerischen Zweifeln, sieht er in seiner ganzen Existenzweise nur noch »Unnatur« (S. 11). Seine eigentliche Krankheit aber spürt Thérèse im Antagonismus zwischen Sinnlichkeit und puritanischer Moral auf (S.30). Seine »unzüchtigen Gedanken« (S.33) und ehebrecherischen Affären mit Untergebenen wie auch mit adligen Damen lassen ihn immer wieder in Abgründe tiefer Melancholie stürzen, machen ihn geradezu krank vor Scham: »Wir tragen unsere Sünden in der Seele wie eine Geschwulst, wie einen Ballon.« (S.37) Aber der Puritanismus - Humm belustigt sich darüber durch die Art des Vergleichs - kennt einen »Ausweg«: Da es unwahrscheinlich ist, dass der einzelne Sünder von Gott auserwählt ist, »kommt es auf eine Sünde mehr nicht an. Wir werden mager, wir entleeren uns, unsere Seele ist wie eine Luftpumpe. Das Gefühl der Sündhaftigkeit fliesst in einen anderen Ballon über, der frei über unseren Köpfen schwebt.« (ib.) Heilung von den damit verbundenen unangenehmen Gefühlsschwankungen erhofft sich der Geplagte von Rousseau, dem Verkünder der Rückkehr zu einer ursprünglichen, natürlichen Lebensweise. Seine Zerrissenheit hat ihn bis hin zum Zweifel an der Existenz Gottes (S.41 f) und wieder zurück zum Glauben (S.45 f) getrieben. Beides gestaltet Humm als ergötzliche Satire auf puritanische Heuchelei und aristokratischen Standesdünkel.

Während er die Figur Boswells für sich sprechen lässt, hält es der Autor für nötig, Thérèse am Anfang und auch im Laufe des Spiels (vgl. S.31) zuhanden der Regie kurz zu charakterisieren, offenbar, um Fehlinterpretationen vorzubeugen. Ihr Verhalten legt er folgendermassen fest:

»Der Anblick des hübschen jungen Boswell schlägt ihr auf das Zwerchfell. Sie weiss, dass Rousseau den ganzen Nachmittag ausser Hause sein wird; die günstige Gelegenheit wühlt sie auf. In Bezähmung ihrer Begehrlichkeit behandelt sie den jungen Fremden zunächst herb bis zur Ruppigkeit; Begierde und Lüsternheit finden später nur an Boswells Puritanismus eine Schranke. Kühle, verächtliche, höhnische Repliken erklären sich aus ihrer Verbitterung über Ihr Los.« (S.1)

Als leitmotivisches Symbol dieser aufgestauten Begehrlichkeit verwendet Humm das Geräusch des Klöppelns, das nicht nur Thérèses mütterlich-haushälterische Seite akustisch umsetzt - sie revanchiert sich mit selbstgefertigten Spitzen bei all den adligen Herrschaften, die ihnen Zuflucht gewährt haben -, sondern von Boswell auch als Zeichen der Sinnlichkeit gedeutet wird: »Wie die Spulen durcheinander gleiten, das sieht ja verführerisch aus«, schmeichelt er. »Wie diese kleinen glatten Schenkel [...] sich schmiegen, sich kosen - es ist aufregend. [...] Geradezu wohllüstig. O Wohllust, Wohllust, Wohllust!« (S.16) Seine Komplimente und halbwegs ernst gemeinten Avancen ermutigen Thérèse, sich ihm schliesslich geradewegs anzubieten mit den Worten: »Sie können über mich verfügen« (S.28), was Boswell mit grösster Taktlosigkeit quittiert, indem er sich an eine entsprechende Offerte der Wirtstochter Caton im Gasthof von Colombier erinnert. (s.u.) Damit verweist er Thérèse implizit in die Schranken ihres Standes, was er allerdings mit seinen puritanischen Skrupeln zu cachieren versucht. Kurz darauf macht er Anstalten zu gehen, wird aber von Thérèse in weitere Geplänkel verwickelt, die zu seinem Eingeständnis führen: »Sie interessieren mich auch, Mamsell Therese, aber...« - »Sie schämen sich ausnahmsweise einmal vorher«, ergänzt ironisch die verzweifelte Frau, die nun einsieht, dass Ihr Spiel verloren ist. Von da an geht sie in amüsiert-gelassenem Konversationston auf den jungen Mann ein, der ihr seine seelischen Nöte bis ins Detail enthüllt. Am Schluss hält sie ihm schlicht entgegen, dass die »Qualen der Frauen« nicht im »Weltschmerz« bestünden, sondern »anderer Art« seien: »Wir Frauen stehen zur Verfügung. Werden wir verschmäht, dann leiden wir.« (S.52)

Mitten im Spiel hält Humm in Klammern fest, dass Thérèse, »das hat man wohl längst gemerkt, auch eine Puritanerin ist« (S.31). Doch sie ist eine Puritanerin aus Not. Seit drei Jahren hat ihr Rousseau, den sie als ruhebedürftig, krank, ja sogar als »hinfällig« beschreibt, »nicht mehr beigewohnt.« Diesem Bekenntnis setzt sie »sachlich, wie im Beichtstuhl« hinzu: »Ich bin ausgehungert.« (S.21) Dem zurückhaltenden Boswell zwingt sie das Eingeständnis ab, dass es nichts als natürlich sei, seinen Gelüsten nachzugeben, und sie fügt hinzu, dass »Monsieur Rousseau« schliesslich »ein Anhänger der Natur« sei (S.24), der auch gegen die sehr lockeren Sitten in Frankreich nichts einzuwenden habe (vgl. S.35). Ihr Reich im Bauernhaus ist die Küche, die Rousseau, wenn er zu Hause ist, alle Viertelstunden durchquert. (vgl. S.14) Für das leibliche Wohl des grossen Mannes zu sorgen, ist ihr Los, doch ihre eigenen sinnlichen Bedürfnisse werden nicht befriedigt. Dem Mann, der sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht geheiratet hat und der sie seit Jahren darben lässt, führt sie aber nicht nur den Haushalt, sie ist ihm - das lässt Humm unerwähnt - in seiner grössten Not auch ins weltabgeschiedene Môtiers gefolgt, obwohl sich Rousseau dessen gar nicht so sicher war. (333) Ihre Treue drückt sich im Hörspiel im »Wir« aus, in dem sie sich mit Rousseau gegen dessen Widersacher verbündet, so zu Beginn schon gegen Voltaire (S.2), dessen anonym veröffentlichtes Pamphlet »Sentiments des Citoyens« Rousseau zwei Wochen nach Boswells Abreise so empfindlich traf, dass er den Rest seiner Tage als gebrochener Mann verlebte. (334) Auch anlässlich des historischen Zusammentreffens in Môtiers war es Thérèse Levasseur, die durch die Frage, ob Boswell Herrn Voltaire besuchen werde, auf das ursprüngliche Ziel von dessen Reise aufmerksam machte. Humms Thérèse wird gegen den Fremdling Boswell »immer abweisender, versetzt sich in Rousseau«, als sie von dessen Feinden in Frankreich spricht: »Wir sind Verbannte, Flüchtlinge, Staatenlose.« (S.3) Rousseaus Vertreibung aus seinem Refugium im Val de Travers wird in einer Szene vorweggenommen, in welcher Schulkinder, im Chor »Armenier!« skandierend (Rousseau trug wegen seines Harnröhrenleidens einen armenische Kaftan), Schneebälle gegen die Fensterscheibe werfen. Thérèse sieht voraus, dass es bald Steine sein würden. Und wieder zeigt sie sich solidarisch mit ihrem »Herrn« und Gefährten: »Wir sind Verfemte. [...] Erst hier im Neuenburgischen fanden wir eine Zuflucht. Und seit nun bald zwei Jahren hatten wir Friede und Stille hier. Aber nun fängt es wieder an. Erst das Sendschreiben des Generalprokurators Tronchin in Genf. Und nun hetzt hier schon der Ortspfarrer auf der Kanzel gegen ihn. Wir bekamen schon Warnungen. Wir sind unerwünscht im Dorf. Es braut sich etwas zusammen. Wir werden auch aus dem Neuenburgischen vertrieben werden.« (S.20 f)

Den ausschweifenden Träumen Boswells hält Thérèse einen ihrer Träume entgegen, der immer wiederkehrt. Darin sucht sie »Monsieur Rousseau« verzweifelt in den Salons von adligen Herrschaften, in bürgerlichen Wohnungen, in den einfachen Unterkünften von Handwerkern, in Kellern, wo wüste Gesellen und Verbrecher hausen, die sie zu vergewaltigen versuchen. Schliesslich wird sie nach draussen verwiesen:

»Eine verschneite Wiese fällt in eine Schlucht ab. Jenseits der Schlucht, auf einem hohen Hügel, ein Herrenhaus. Dort ist Monsieur Rousseau. Nun weiss ich, wo Monsieur Rousseau sich aufhält. Ich betrete ein Gartenhaus und bereite ihm in der Küche eine Mahlzeit für wann er wiederkommt. So war es bei Madame d’Epinay, so war es bei der Herzogin von Luxembourg. Er im Herrenhaus, ich im Gartenhaus, in der Küche. Wie mein Leben, meine Träume.« (S.53 f)

Dies bewegt Boswell nicht besonders, da es seinem ständischen Denken entspricht; er sucht von dem unangenehmen Thema abzulenken, indem er Thérèse nach ihren früheren Träumen fragt. Ihre Antwort lässt ihn aufhorchen: Damals suchte sie in ihren Träumen nach ihren Kindern, die Rousseau ins Findelhaus gebracht hatte, was er nun bereut: »Auch weil man anfängt, darüber zu reden.« (S.55) Voltaire hat dies kurz nach Boswells Besuch als erster öffentlich enthüllt; Rousseaus Dementi im Januar 1765 war mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Zwecklüge in höchster Not. Der Boswell des Hörspiels ist überThérèses Bekenntnis »entsetzt« (S.56). Nie hätte er für möglich gehalten, dass der Verfasser des »Émile«, und sei es aus materieller Not, seine Kinder weggegeben hat. »Aber was tut’s«, fragt Thérèse, »für Sie und die Welt und die Leser von Monsieur Rousseau? Was zähle ich? Eine Magd hat nicht glücklich, eine Magd hat treu zu sein.« (S.57) Boswell verlässt fluchtartig das Haus, nachdem er versprochen hat, diesen Besuch in seinen Aufzeichnungen nicht zu erwähnen.

»Rousseau war ausser Hause«, so lautet der Titel des Hörspiels, eines Zweipersonenstücks, das durch die abwesende dritte Person erst möglich wird. Dem Hörer stellt sich spätestens am Schluss die Frage, wer dieser berühmte Jean-Jacques Rousseau eigentlich sei. Eine präzise Antwort bleibt der Autor schuldig, und man vermutet dahinter Absicht. In der Verlegenheit, einen Vortrag über ein Thema halten zu müssen, zu dem es ihm an Fachkenntnissen mangelte, schrieb Humm 1947:

»Es ist, als ob unser Geist wie ein Paläontologe arbeitete, der aus einem Knochen einen ganzen Elefanten aufbauen kann. Wenn wir uns über Machiavelli, Byron oder Buddha unterhalten, wir, die wir keine Spezialisten sind, so besprechen wir eigentlich nur die Vorstellungen, die wir uns aus einigen Rückständen der Erinnerung im Augenblick von ihnen wieder bilden. Wir vergleichen unsere Elefanten.« (335)

Der Dialog über den abwesenden Rousseau ist ein solches Gespräch zwischen zwei »Laien«, welche ihre Vorstellungen miteinander vergleichen. Irritierend wirkt, dass sich daraus kein Gesamteindruck von Rousseaus Persönlichkeit ergibt. Dazu sind schon die Voraussetzungen der Gesprächspartner zu verschieden. Vor allem aber sprechen sie nur selten explizit und dann meist nur in äusserlichem Sinne über Rousseau. Vielmehr ist dieser in der Art ihres Denkens und Fühlens gegenwärtig, das sich in »Bekenntnissen« von ganz unterschiedlicher Qualität äussert. Einig sind sich die Kritiker trotz ihrem im übrigen unterschiedlichen Urteil über die Nachwirkungen von Rousseaus Werk, die Arnold Hauser als geradezu »unermesslich« bezeichnet: »Am Ende des 18.Jahrhunderts gab es jedenfalls wenig denkende Menschen, die von den Ideen Rousseaus unberührt geblieben wären. Eine solche Wirkung ist nur möglich, wenn ein Schriftsteller im tiefsten Sinn der Repräsentant und der Ausdruck seiner Zeit ist.« (336) Humm scheint diese Wirkung im Moment ihres Entstehens überprüfen zu wollen. Er konfrontiert dazu einen Mann, der geistig wie im wörtlichen Sinn aus weiter Ferne hergereist ist, mit der Frau, die Rousseau während Jahrzehnten nahe stand. Was Thérèse Levasseur im Hörspiel über ihren Lebenspartner sagt, ohne ihn im mindesten desavouieren zu wollen, zeigt diesen von einer anderen, weniger vorteilhaften Seite als die gängigen biographischen Darstellungen.

»Identität. Die Metapher vermeidend, ein Wort (Worte) in den richtigen Kontext setzen. Zwischen Stoff und Sprache eine Gleichung aufstellen, deren Unbekannte herauszufinden Sache des Lesers wäre. Die Relevanz der Aussage im Spannungsfeld Leser-Autor ansiedeln, evtl, verbergen.« (337) So beschreibt Humm ein Jahr nach der Ursendung des Hörspiels das Ziel seines schriftstellerisches Wirkens. Wenn Rousseau scheinbar hinter das Gespräch zwischen Boswell und Thérèse zurücktritt, spricht dies also eher für als gegen seine »Relevanz«. Die Begegnung zwischen einem exaltierten, aufdringlichen Kulturreisenden und dem grossen Schriftsteller und Philosophen hätte den Stoff für ein spannungsvolles Porträt von Rousseau abgegeben. Doch Humm verweigert die von ihm als Autor erwartete Leistung. Er versucht nicht Bekanntes didaktisch attraktiv zu vermitteln, sondern gestaltet es als »Unbekanntes«. Das erinnert zunächst an Max Frischs quasi subtraktives Verfahren, mittels Sprache »die Leere, das Sagbare« vorzutreiben »gegen das Geheimnis, gegen das Lebendige« und damit die »Oberfläche alles letztlich Sagbaren« freizulegen als »eine Art von tönender Grenze«. (338) Doch im Unterschied zu Frisch, dem es um die Annäherung an das »Unsagbare« zu tun ist, gehört Humms »Unbekanntes« durchaus zum Bereich des Sagbaren. Durch bewusstes Aussparen veranlasst er den Hörer, aus gegebenen »Rückständen der Erinnerung« (s.o.) sich ein eigenes Bild zu machen. Damit fordert er ihn auf, nicht von bestehenden Antworten, sondern von seinem Nichtwissen auszugehen, »mitzudenken«. (339) Die Technik des Verbergens dient dazu, das zur gültigen Antwort, zum Klischee erstarrte Sagbare in Frage zu stellen, den Zugang von einer frag-würdigen Seite her neu zu ermöglichen. (340) Das verweist mehr auf Günter Eichs Bekenntnis zu einem Typus von Schriftstellern, die »Fragen und in Frage stellen«. Dass ihm Rousseau als Schriftsteller und Philosoph wichtig war, hat Humm nicht nur durch seine Übersetzertätigkeit (341), sondern auch explizit in seinen Schriften klargemacht. Rousseau gehört nach seiner Meinung mit Pestalozzi und Dunant zu den Männern, die »in der Wahrheit des schweizerischen Wesens« lebten. Er gab dem typisch schweizerischen »Empfinden für die Zusammenhänge der Macht [...] erstmals einen Ausdruck, der dann auch von anderen (ungefähr!) verstanden wurde.« (342) Aber nicht der Staatstheoretiker und auch nicht der Romancier ist es, dem das Hörspiel gilt, sondern der Mensch Jean-Jacques Rousseau, dessen Handeln in einem starken Spannungsverhältnis zu seinem Werk steht.

Rousseau ist auch in Thérèses Traum »ausser Hause«, unfassbar für sie, die ihm aus Treue auf seinen Berg folgt - um ihm den Haushalt zu besorgen. Auch in diesem jenseitigen, von der ständisch gegliederten Welt der Zeitgenossen abgetrennten Bereich ist Rousseau im »Herrenhaus« zu Gast. Dieses Bild ist Ausdruck einer Auffassung, die den berühmten Genfer nicht als Vertreter der »Armen, Unterdrückten und Rechtlosen«, als einen selbst »Deklassierte[n]« und deshalb ersten wirklichen »Revolutionär« sieht. (343) Humm findet in Rousseaus späten Schriften keine Spur der Hoffnung auf den bevorstehenden Umsturz, vielmehr Ehrfurcht vor der französischen Monarchie und ein Denken, das »keineswegs dynamisch ist«, sondern, »nach rückwärts gewandt, auf die Vorbilder des Altertums gerichtet bleibt«. (344) Dass Thérèse das Opfer der Selbstverleugnung auf sich nimmt, weil sie Rousseau in seinem innersten Wesen verstanden hat, verrät sie in einer Äusserung zu Beginn des Hörspiels. »Er ist ein Philosoph«, sagt Boswell, und sie hält ihm entgegen: »In seinem Kopf. In seinen Schriften, im Leben ist Monsieur Rousseau ein Kind.« (S.5) Damit legt Humm ihr seine eigene Deutung in den Mund, die er 1943 im Vorwort seiner Übersetzung der »Rêveries du promeneur solitaire« formuliert hat. Im zehnten und letzten, unvollendeten »Spaziergang« erkennt er den psychologischen Schlüssel zum Verständnis von Rousseaus Persönlichkeit. Das Liebesverhältnis des Jünglings zu der um dreizehn Jahre älteren Françoise-Louise de Warens, die er »maman« nannte, war nach Humms Auffassung der Ursprung und Grund seiner lebenslangen »Fixierung auf das Kindliche« (345), die sich literarisch als enorm produktiv erwies: »Dass er ein Kind blieb und damit in ein gespanntes Verhältnis zur Gesellschaft geriet, bildet den Motor, der ihn zum Nachdenken antrieb« (346), der es ihm erlaubte, »so manchen klugen und bahnbrechenden Gedanken über Kindererziehung auszusprechen.« (347) Humm sieht aber die seine Zeit überdauernde Leistung Rousseaus weder in seinen gesellschaftstheoretischen noch in seinen pädagogischen Ansätzen, sondern sucht diese primär im stilistisch-literarischen Bereich: Es ist »die Bangigkeit und die Verwirrung eines kindlichen Herzens«, »die Demut und die Ehrlichkeit des Bekenntnisses« (348), welche ihn über allen Wandel hinweg mit unserer Zeit verbindet. Fast scheint es, als ob Humm mit seinem Hörspiel über den Autor der »Confessions« die Rückkehr zu einer »neuen Innerlichkeit« in der Schweizer Literatur unserer Tage habe kommentieren wollen, die sich Mitte der siebziger Jahre abzuzeichnen begann. (349)

Rousseaus frühe Bindung an Madame de Warens wird von Humm auch als Ursache seines Versagen als Vater gesehen, das ihn in Widerspruch zu all seinen Auffassungen über Kindererziehung brachte. (350) Und es liegt, weit mehr als seine Krankheit, Rousseaus Versagen als Mann zugrunde, dessen Auswirkungen zur dramatischen Triebkraft des Hörspiels werden. Thérèse Levasseur ist als selbstlose Vermittlerin zwischen Rousseau und der Welt gezeichnet, einer Welt, der er im Grunde »nur den Vorwurf [machte], nicht Frau von Warens zu sein.« (351) Die Magd, die Haushälterin, die Gefährtin ist an die Stelle der mütterlichen Geliebten getreten und ermöglicht es ihm, seine Auseinandersetzung mit der Welt zu führen. Ein grosser Mann (vgl. S.12) wird in diesem Hörspiel gesehen aus dem Blickwinkel der Frau in seinem Schatten, ln ihrem »Flirt« mit dem hübschen, jungen Boswell spiegelt sich dasselbe Verhältnis zwischen ungleichen Partnern, jedoch mit dem Unterschied, dass den in weltanschauliche wie lebenspraktische Probleme Verstrickten die Erfüllung Ihres Verlangens versagt bleibt. Im Sprechen dieser beiden fehlerhaften Menschen, des »geprügelten« (S.11), »beschädigten« (S.30), »kranken« (S.34,47) Boswell und der »unterdrückten«, »unbefriedigten« (Titelseite), »ausgehungerten« (S.21) Thérèse, wird, quasi ex negativo, Rousseau erahnbar. Der historische Boswell verwendete viel Mühe auf sein Auftreten vor Rousseau und gab diesem in seinem ersten Brief eine Vorstellung von sich, an die er nach eigener Einsicht in Wirklichkeit »schwerlich heranreichen« konnte. (352) Humm vereitelt diesen Auftritt, verwehrt dem Besucher den offiziellen Zugang, verweist Ihn sozusagen auf die »Hintertreppe«, wo »man sich gibt, wie man ist«, und die Bewohner des Hauses »ohne Gepränge und ohne vornehmes Getue« antrifft (353), lässt ihn aber nur bis in die Küche, nicht bis zu Rousseau ins Studierzimmer vordringen.

Es ist zu vermuten, dass hinter der Gestalt Rousseaus sich der Autor Humm verbirgt, der sich zwar nicht wie dieser mit fast allen ihm Nahestehenden überwarf, der aber als streitbarer Einzeldenker stets seine Position vertrat und oft zum Widerspruch herausforderte. Um frei zu »sagen, was der Mensch empfindet, der ganz für sich allein steht« (354), hatte er sich als Organ seine literarische Zeitschrift »Unsere Meinung« geschaffen, die er als »ein Ungebundener, ein Aussenseiter, ein Individualist« (355) während beinahe dreisslg Jahren selbst herausgab und vertrieb. Entstanden war dieses geistige Unternehmen 1948 aus der aktuellen Notwendigkeit, das Recht des Individuums gegen Blockbildung und ideologische Verhärtung in Ost und West geltend zu machen. François Bondy schreibt lobend auch von einem anderen »Humm, der gar nicht Meinungen abgibt, sondern betrachtete und erfahrene Welt darstellt«. (356) Er meint damit den Autor des Romans »Die Inseln« (1936/1968), in welchem Humm von Leben erfüllte Augenblicke seiner Kindheit und Jugendzeit gleich versunkenen Inseln aus dem »Meer des Vergessenen« wieder auftauchen lässt. (357) Der Autor erweist sich hier wie in anderen seiner Romane selbst als ein Erbe des Träumers Rousseau, seine Erinnerungsbruchstücke stammen wie die »Confessions« aus »Gegenden des Ganz-Eigenen, Innerlichen« (359), die schon seit jeher bestimmend für sein Schreiben sind, und nur durch den Zufall seines späten Radio-Debüts erscheint sein Hörspiel nach einer Periode der deutschschweizerischen Literatur, die geprägt war von Sprachskepsis und Gesellschaftskritik, wie ein besonderer Fingerzeig auf das Anheben einer Literatur der »neuen Innerlichkeit«. Aber er nähert sich dieser von aussen.

Als Rudolf Jakob Humm 1972 als Radioautor »entdeckt« wurde, war er bereits 77 Jahre alt, aber er war keiner der »altbewährten« Hörspielautoren. Er hat selbst berichtet, wie seine »Einbildung, ein Dramatiker zu sein«, im Laufe der Jahre »vollkommen erloschen« sei und wie er das Vertrauen in dieses Talent erst über den Umweg seiner Arbeiten für die Puppenbühne wiedergefunden hat. (359) Sein Hörspiel über Rousseau enthält formal keine Elemente, die nicht schon in den fünfziger Jahren gebräuchlich gewesen wären. Mit Rousseaus Lebensgeschichte und Werk hatte sich Humm schon lange zuvor intensiv beschäftigt, und Boswells Reisebeschreibung lag seit 1955 in einer ausführlich kommentierten deutschen Übersetzung vor. Auch in dramaturgischer Hinsicht entspricht Humm dem damals propagierten Ideal eines Autors, der »gleichsam mit dem Mikrophon vor sich auf dem Schreibtisch« arbeitet. Seine Angaben zum Charakter der Personen im Vorspann des Manuskripts sowie zahlreiche Regieanweisungen zeigen, dass er dem »sprachlichen Gestus« ebenso grosse Bedeutung zumisst wie Frisch; doch im Unterschied zu Frisch, dessen Dialog die Geste bloss zulässt, aber nicht vorschreibt, definiert Humm mit seinen Angaben präzise, wie sein Text zu sprechen sei, und greift damit der Regie in gewissem Masse vor.

Was Humm für das Radio schuf, sind traditionelle Wort-Hörspiele im besten Sinne, die in einem bis heute von Hörspielen dieses Typs dominierten Programm nicht besonders auffielen, die aber den Durchschnitt vielleicht gerade wegen ihrer um ein Vierteljahrhundert verzögerten Entstehung überragen. Doch woran liegt es, dass von der besprochenen Rousseau-Produktion eine anhaltende Wirkung ausgeht, dass dieses Hörspiel eigenartig modern anmutet? Dass die Darstellung der unterdrückten, sich ihrer Rolle bewusst werdenden Frau eines der bedeutenden Themen der siebziger und achtziger Jahre ist, wie bereits ausführlich gezeigt wurde (vgl. Kap. 3.1331 und Kap. 3.1432), vermag dies nicht ausreichend zu erklären. Dasselbe gilt auch für die erstaunlich explizite Thematisierung weiblicher Sexualität, die am Radio aufgrund einer Ende der sechziger Jahre einsetzenden Liberalisierung erst möglich wurde. Ist es die Spannung zwischen dokumentarischer Authentizität und dichterischer Fiktion, die den Reiz dieses Hörspiels ausmacht? Zum Abschluss soll diese Frage geprüft werden, indem an einigen Beispielen gezeigt wird, wie Humm mit historischem Quellenmaterial umgeht. Bestimmend sind in dieser Hinsicht nicht nur die biographisch belegten Einzelheiten von Rousseaus Leben, sondern viel mehr noch Boswells Aufzeichnungen von seiner »Grand Tour« in deutscher Übersetzung, auf die sich Humm offensichtlich stark abstützt. Die für das Hörspiel relevanten Teile bestehen hauptsächlich aus Erinnerungsprotokollen, die jeweils unmittelbar nach den einzelnen Begegnungen mit Rousseau notiert und - im Unterschied zu anderen Werken Boswells - später nicht mehr überarbeitet wurden. Der junge Schotte nahm es mit der Wahrhaftigkeit so genau, dass sich die Begegnung als »eine unausgesprochene Komödie« darstellt (360), in welcher der Schreibende die Komik seiner eigenen Rolle nicht zu bemerken scheint. Die lebensechte Charakterisierung der Figur Boswells mag mitbedingt sein durch die starke Anlehnung und teils wörtliche Übernahme einzelner Passagen aus Boswells spontanen Aufzeichnungen, wodurch ein ähnlicher Effekt erzielt wird, wie ihn wenig später Gertrud Wilker durch ihre Variation von Chronikauszügen »in der Originaltonart« anstrebte. Ein Textvergleich soll belegen, wie sich Humm oft bis ins Detail an seine Vorlage hält:

Der Vergleich zeigt auch, wie Humm den Text sprachlich glättet und an der Stelle, da Caton sich anbietet, auf den Punkt bringt, der ihm als Leitmotiv dienen soll. Auf ähnliche Weise wird die schonungslose Analyse von Boswells Charakter aufgrund seines Reisetagebuchs zur Grundlage dramatischer Gestaltung. Die lebensechte Zeichnung der Figur gründet allerdings nur in Ausnahmefällen auf wörtlichen Anleihen der oben gezeigten Art. Boswells Beschränktheit, die sich in seinen Aufzeichnungen oft in Rousseaus Reaktionen spiegelt, setzt Humm mehrmals in völlig frei erfundenen Dialogen gekonnt in Szene und betont damit die Lächerlichkeit von dessen Egozentrik. Der Gestalt Thérèses dagegen verleiht er eher schmeichelhafte, im Verhältnis zu deren tatsächlicher Persönlichkeit beschönigende Züge. Ihr Seitensprung mit Boswell, zu dem in Wirklichkeit die gemeinsame Reise nach England im Jahre 1766 Gelegenheit bot (362), wird im Hörspiel zum unerfüllten Wunschtraum reduziert. Vor allem aber ist Humms Thérèse, die den abwesenden Rousseau gegenüber Boswell vertritt, mit sprachlichen Fähigkeiten ausgestattet und in einem Mass mit philosophisch-weltanschaulichen Fragen vertraut, wie dies von Rousseaus Lebensgefährtin, die völlig ungebildet und kaum des Schreibens mächtig war, nicht anzunehmen ist.

Die ungewöhnliche Wirkung dieses historischen Hörspiels beruht, so lässt sich zusammenfassend feststellen, zu einem grossen Teil darauf, dass der Autor sich bis ins Detail an historischen Quellen orientiert und einzelne Informationen nach Bedarf teils unverändert übernimmt, teils abschwächt oder verstärkt, vor allem aber die Charaktere der porträtierten Personen analysiert und mit grösstmöglicher dichterischer Freiheit von innen heraus gestaltet. Ihre scharfen Konturen, ihre Plastizität und Präsenz lassen den Zuhörer ein Stück weit vergessen, dass er es mit historischen Figuren zu tun hat. Und indem er sich auf ihr Spiel einlässt, entgeht ihm zunächst auch, dass dieses sich um die abwesende dritte Person dreht. Dieses berechnete Aussparen des Wesentlichen, das plötzlich ins Bewusstsein tritt, ist am ungewöhnlichsten, weil beunruhigend in der Art von Günter Eichs Hörspielwerk. Es macht Humms Hörspiel zu einem der wenigen Werke der Schweizer Hörspielgeschichte, die mehr Sorgfalt darauf verwenden, Fragen zu formulieren als Antworten zu liefern.

 

 

(332) ins Deutsche übersetzt von F.Güttinger, hrsg. und mit Anmerkungen versehen von F.A.Pottle; vgl. Boswell, 1955, S.12
(333) vgl. Durant, S.376 f
(334) vgl. die Erläuterungen des Herausgebers in: Boswell, 1955, S.227
(335) R.J.Humm, Der Gesellschaftsroman (1947), zit. nach: Humm, 1982, S.94
(336) Hauser, 1978, S.591 f
(337) »Unsere Meinung« XVIII/9/5, zit. nach: Humm, 1982, Nachwort, S.100 f
(338) Frisch, 1976, Bd.II, S.378 f
(339)»Mitzudenken« ist der Titel, unter welchem Humm eine Auswahl von Artikeln herausgab, die er für seine Zeitschrift »Unsere Meinung« geschrieben hatte; siehe Humm, 1969
(340) vgl. Weber, 1969
(341) J.-J.Rousseau, Bekenntnisse, durch R.J.Humm geprüfte und überarbeitete Übersetzung von H.Denhardt, Zürich (Büchergilde Gutenberg) o.J. [1939]; ders., Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Verdeutscht und mit einem Vorwort von R.J.Humm, Basel (Klosterberg) 1943
(342) R.J.Humm, »Ganzheit« (1948), zit. nach: Humm, 1969, S.7
(343) Hauser, 1978, S.592
(344) Humm, 1943, S.17
(345) ib„ S.15
(346) ib., S.17
(347) ib., S.14
(348) ib., S.18
(349) vgl. Pulver, 1980, S.422
(350) vgl. Humm, 1943, S. 16
(351) ib., S.18 f
(352) Boswell, 1955, S.245
(353) W.Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, München (dtv) 6/1980, S.9
(354) R.J.Humm, Zum Geleit (1950), in: Humm, 1969, S.85
(355) ib., S.83
(356) ib., Nachwort, S.368
(357) Weber, 1969
(358) ib.
(359) Humm, 1969, S.92; vgl. auch R.J.Humm, Wie aus dem Gespenst ein Mensch wurde, in: NZZ, 28.12.69
(360) Kommentar des Herausgebers in: Boswell, 1955, S.228
(361) Boswell, 1955, S.281 f
(362) vgl. Durant, S.412f

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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