Jörg Schneider, »König Meier de Tuusigscht oder De Undergang vom Tuurteland« (1974)
Typoskript
Die Untersuchung wendet sich zunächst einer Produktion zu, die Mitte der siebziger Jahre, inmitten der »Abteilungs-Ära« also, entstand, einer gewissermassen archaischen Komödie, in welcher die Zeiten und Kulturen übergreifende Tradition der lustigen Person im Hörspiel auflebt. An diesem Beispiel soll zum einen, in formaler Hinsicht, der Zusammenhang zwischen dem Hörspiel und der Tradition des zum Schauen bestimmten Theaterstücks gezeigt werden; zum andern wird damit eine radikale Satire zum Thema gemacht, die einen Extrempunkt der oben genannten Möglichkeiten des komischen Genres darstellt.
Jörg Schneider, allseits bekannter Volksschauspieler, Darsteller von Schwankrollen auf der Bühne wie im Radio und Fernsehen, hatte sich seit Jahren schon beim Kinderpublikum einen Namen als Autor und Interpret von Kasperli-Schallplatten in Zürcher Dialekt gemacht (155), als er von der Abteilung »Dramatik« den Auftrag erhielt, für das Festprogramm zum Jubiläum »50 Jahre Radio« ein Kasperstück für Erwachsene zu schreiben. Sein Hörspiel »König Meier de Tuusigscht oder De Undergang vom Tuurteland« (DRS-1,9.12.74) ist nicht ohne Konkurrenz, wenn man an den »Radau um Kasperl« denkt, den Walter Benjamin schon in der Frühzeit des Radios, um 1932, veranstaltet hat. Dieses Werk war für dasselbe Jubiläumsprogramm neu inszeniert und einen Monat vor Schneiders »König Meier« gesendet worden; es scheint deshalb nicht ausgeschlossen, dass man durch diese Produktion auf den Gedanken gekommen war, einen Schweizer Autor, der als Kasperli-Fachmann dazu prädestiniert war, zur Wiederbelebung des Genres im Radio anzuregen. Das Ergebnis unterscheidet sich von Benjamins Hörspiel insofern beträchtlich, als es nicht wie dieses das Spiel mit dem Medium zum Thema macht; es ist im Hinblick auf die Handlung von Vorgängern im Radio und Kaspertheater unabhängig und vollkommen gegenwartsbezogen. (156)
Das Spiel beginnt mit dem Erklingen der Kasperglocke und einer Vorrede »Chaschpers«, der seine Zuhörer in altvertrauter Manier zuerst als »hochverkehrtes Tublikum« und »hochbeschwertes Kudlipum« anspricht, bevor ihm dann die richtige Anrede gelingt. Er kündet ein Stück »für die Grosse« an: »Nöd für d’Chind, sondern für d’Chindschöpf. Nöd für d’Goofe, sondern für d’Eltere und die na eltere.« (S.1) Und er bereitet das Publikum darauf vor, dass es ein trauriges Stück sein werde. In einer Folge von Szenen, die am Königshof des Tortenlandes spielen, wird das »elend-tragisch-schöne Spiil« exponiert. Prinzessin Vreneli hat ihren zwanzigsten Geburtstag, doch sie möchte ihn am liebsten verschlafen. Ihr fehlt es, da sie im Überfluss aufgewachsen ist, nur an einem: an Wünschen. Ihr Vater, König Meier, macht ihr mit seinem Hofstaat die Aufwartung zur Gratulation und lässt sich bei der Gelegenheit über seine Regierungsgrundsätze aus. Rechte und Pflichten, die »sogar« den Frauen zukommen, beschränken sich im Tortenland darauf, dass die Bürger ihren König wählen dürfen und ihm gehorchen müssen. Abstimmungen gibt es schon seit langem nicht mehr; der König hat nämlich erkannt, dass die Tortenländer nach dem Vorbild des stets schläfrigen Ministerpräsidenten Pfuusius am Sonntagmorgen lieber ausschlafen. »Mir händ«, wie dieser feststellt, »tüüfe Friede im Land. Kä Not, kä Sorge, kä Problem.« Die Prinzessin, die einer neuen Generation angehört, kann sich damit nicht zufrieden geben und meint doppeldeutig, es sei eigentlich ein billiges Glück: »Mir chönnd ja gar kä Wünsch meh ha. Mir händ ja alls, was me sich nu wünsche cha.« (S.8) Sie möchte nicht bloss träumen, nicht im Komfort ersticken, sondern leben. Ihr ist es langweilig, stinklangweilig sogar, und das teilt sie in einer Kurzansprache dem versammelten Volk mit. Der König ruft, da er dazu Stellung nehmen muss, alle seine Untertanen auf, der Prinzessin zu helfen, und setzt nach Art des Märchens eine Belohnung von tausend Golddukaten für denjenigen aus, der seine Tochter von der Langeweile befreit.
Unter der Leitung von Redaktor Windiker vom Tortenländer Generalanzeiger machen sich drei Herren aus Gewerbekreisen, der Metzger, der Bäcker und der Gärtner, denen eine solche Investitionsspritze für ihren Betrieb allen willkommen wäre, ans Pläneschmieden. Da keiner von ihnen das Talent zur Lösung der Aufgabe hat, einigt man sich alsbald, dem für seine »Heldentaten« weitherum bekannten »Kärlibueb« Chaschper gegen eine Provision von fünfzig Prozent, die für die Förderungskasse des einheimischen Handwerks vorgesehen sind, die Vermittlung dieses lohnenden Auftrages anzubieten. Chaschper nimmt selbstverständlich an und freut sich bereits auf ein Häuschen mit grossmächtiger Fernsehantenne und Swimmingpool, das er sich von dem Lohn bauen will. Er begibt sich auf das Schloss, erobert das Herz der Prinzessin im Sturm und erhält seine tausend Golddukaten. Chaschper wird zum stolzen Hausbesitzer; für eine Fernsehantenne mit 297 Abzweigungen reicht das Geld indes noch nicht. Nun beginnt eine Wirtschafts- und Gesellschaftssatire mit grotesken Zügen. Der Bankdirektor Zinsli besucht den erfolgreichen Helden und erfährt von ihm, dass die Prinzessin einen einzigen Wunsch hat: Sie isst gerne »Rüeblituurte«. Da das Königshaus durch sein Vorbild das Konsumverhalten aller Bürger des Landes beeinflusst, bedeutet dieser Tip für den Bankier einen Ansatzpunkt, um die stagnierende Wirtschaft in Schwung zu bringen. Er erwirkt vom König die Einführung eines offiziellen »Rüeblituurtetags« an jedem ersten Sonntag im Monat. Der Gärtner und der Bäcker erhalten von Zinsli gegen eine Gewinnbeteiligung von achtzig Prozent die Mittel zur Erweiterung und Automatisierung ihrer Betriebe, und der Redaktor wird angewiesen, nur noch positiv und ausschliesslich über Rüeblitorten zu berichten. Obwohl Chaschper Rüeblitorte nicht ausstehen kann, spielt er die Hauptrolle bei der breit angelegten Werbekampagne und vertritt Zinslis Interessen sogar in einem Radiointerview: »Die Rüeblituurte isch s’allerbescht, wo de Chaschper je vertruckt hät. Und erscht na gsund und bekömmlich und porentief sauber und kuschelweich und doppelaktivreinweiss und weiss de Gugger was na alles!« (S.50)
Der König ist zufrieden, alle sind zufrieden: Der neue Feiertag hat der Nation wirtschaftlichen Aufschwung und vermehrten Wohlstand gebracht. Nur der Metzger ist aufgebracht, da sein Umsatz gegen Null strebt. Er ruft das Volk zum Aufstand auf und wird sogleich wegen Majestätsbeleidigung vom Polizischt Wäckerli verhaftet. Propaganda und Verfolgung Andersdenkender gehen auch noch weiter, als alle Bürger und Angehörigen des Königshauses erkranken und der Doktor vor einer allgemeinen, lebensgefährlichen Karotinvergiftung warnt. Er wird zum Schweigen gebracht, indem ihn Chaschper als eifriger Famulus Zinslis mit einem »Privatspital [...] miteme Laboratisanikrematorium und eme eigne Friedhof« besticht. (S.65) Die Prinzessin stirbt, der König stirbt, der ganze Hofstaat und das Volk des Tortenlandes sterben. Nur Zinsli und Chaschper überleben, da sie keine Rüeblitorte essen. Der Bankier usurpiert die Staatsmacht und fordert am Schluss als »König Zinsli de Erscht« Chaschper quasi als seinen Hofnarren auf, ein Liedchen zu singen. Dieser ist aber gar nicht mehr fröhlich; zu spät hat er erkannt, dass das Spassmachen ohne Publikum keinen Spass macht. Er versucht zwar sein »Tratratrallalla« zu intonieren, bricht aber sogleich ab: »Ich cha nümme Herr König. Es gaat nöd! Ich bi zwar na läbig. Aber de Chaschper isch gschtorbe, eifach z’tod gschtorbe! / Schlussdibus! Fidibus! Exitus!« (S.69)
Dies die Handlung des Spiels, die mit Chaschpers Spässen und mit der behäbigen Selbstdarstellung der Bürger sehr breit ausgestaltet ist. Der parabolische Sinn der Geschichte ist so einfach, dass er nicht erläutert werden muss. Dass eine Monarchie als Staatsform vorgeschoben wird, mag etwas irritieren, da eine solche Verquickung mit dem Märchen nicht notwendig zu den Bedingungen des modernen Kaspertheaters gehört und einer unmittelbar zeitkritischen Aussage zu widersprechen scheint. König Meier ist aber, wie auch sein Geschlechtsname besagt, ein wahrhaft bürgerlicher Souverän, der nur aus Gründen des Komforts und mit Zustimmung der Bürger die Volksrechte immer mehr einschränkt und aus Naivität den Staat zunehmend den Profitinteressen des Grosskapitals ausliefert. Sein Thronfolger Krösius Zinsli dagegen, dessen Name solche Volksverbundenheit nicht mehr erkennen lässt, entspricht buchstäblich dem Typus des Alleinherrschers. Zum Herrschen braucht er nicht einmal Untertanen; ihm genügen Macht und Reichtum. Für 1974 war dies eine wahrhaft halsbrecherische Satire der sozialen, oekonomischen und politischen Entwicklung. Kein Wunder, dass der Autor »selbst erschrocken« ist, als er am Ende auf sein Werk zurückblickte. »Die Kasperlifiguren boten die Möglichkeit, Dinge so extrem und hart zu sagen, wie das bei einem normalen Stück gar nicht zu machen ist.« (157) Dass Schneider damit die Tabuschwelle wohl intuitiv richtig erkannt hat, lässt etwa eine Bemerkung vermuten, welche 1982 die Ankündigung einer Wiederholung von Jakob Bührers zweitletztem Hörspiel »Auf tönernen Füssen« im Programm-Bulletin begleitete; dieses wurde den Hörern empfohlen »mit dem stillen Verdacht, dass man sich heute scheuen würde, einen so provokativen Text zu produzieren.« (158) Vielleicht waren es auch nicht nur ästhetisch-dramaturgische Gründe, die bewirkten, dass Schneiders Spiel bis heute erst einmal wiederholt wurde und dass auch keine weiteren Kasperstücke mehr in Auftrag gegeben wurden. Beruhigendes, Positives ist an seinem Hörspiel beim besten Willen nicht zu entdecken, wenn man es, entgegen den für das Genre üblichen Gepflogenheiten der Rezeption, ernst nimmt. »Satire ist Utopie ex negativo« (159); nur insofern ist in diesem Spiel ein utopischer Gehalt vertreten. Im übrigen ist es eine Abrechnung mit der Schweizer Wohlstandsgesellschaft auf dem Gipfel einer Ära der Hochkonjunktur, eine bitterböse Zeitsatire, die nur scheinbar harmlos Im Narrengewand eines Kasperstücks daherkommt.
Jörg Schneiders Hörspiel ist das einzige Kasperstück in der Deutschschweizer Hörspielgeschichte. Hier wird am unmittelbarsten die Einwirkung einer dramatischen Grundströmung fassbar, die über den Hanswurst, Pickelhäring, Harlekin, über die mittelalterlichen Possenreisser und Teufelsdarsteller bis zum antiken Mimus zurückreicht und - wenn auch nicht ohne Einschränkung - eine Alternative zu den »komosbedingten Grundformen« bildet. (160) Mit dem Wiener Kasperl Larifari, entwickelt durch den Volksschauspieler Johann La Roche aus der Figur eines der »Asslstenz-Possenreisser« des Hanswurst, den er mit der Zeit verdrängte, war »das barocke Erbe eines vom Mimus und vom Impetus des szenischen Augenblicks abhängigen Theaters [...] über die Schwelle der Aufklärung gerettet« worden. Nach La Roches Tod 1806, vielleicht auch schon vorher, trat sein »hölzernes Double« in den Buden des Praters auf, von wo Kasperles Reise in die Welt ihren Ausgang nahm. (161) Schon in der ersten Phase seines Wirkens bildete sich der Typus seines Charakters heraus, wie er ab Mitte des 19.Jahrhunderts in die Textsammlungen des Münchner Grafen Franz Pocci einging und sich im folgenden nicht mehr wesentlich veränderte. »Nur als der eine, einmalige, unverwechselbare Kasperl Larifari hat sich Poccis Figur über hundert Jahre hinweg die Kinderbühne erobern können.« (162) Kasperl ist einerseits wie ein Kind, das sich gegen die Enge der Erwachsenenwelt auflehnt. »Seine Angst vor der Dunkelheit und vor drohenden Schlägen, sein ungezügelter, vor allen Folgen blinder Tatendrang, seine gutmütige Aufsässigkeit in allen Auseinandersetzungen fordern das Einverständnis, das Sich-Wiedererkennen bei grossen und kleinen Kindern heraus. Sein erwartbarer Triumph am Ende ist so etwas wie die unklar gehoffte Utopie einer möglichen Kinderherrschaft für den einen Tag.« (163) Andererseits beruht seine kindliche Wirkung gerade darauf, dass er als Erwachsener auftritt, der unter dem Pantoffel seiner zänkischen, alten Ehefrau steht, Zoten reisst und als Randexistenz stets um seine Integration in die bürgerliche Gesellschaft kämpft. Schneider sah ihn als »eine sympathische, alterslose, gutmütige Person, aber nicht frei von Fehlern und menschlichen Schwächen.« (164)
Die These, dass Kasperle heute nicht mehr der von den Unterhaltungsmedien geprägten Vorstellungswelt der Kinder entspreche und veraltet wirke (165), wird durch den Jahre anhaltenden, beträchtlichen Absatz von Schneiders Kasperli-Schallplatten nicht gerade bestätigt. Richtig ist aber sicher, dass die Autoren seit Max Kommereils Sammlung (166) den Kasperle und andere »lustige Personen« für die Erwachsenen wiederentdeckt haben und in ihren dramatischen Arbeiten von neuem auftreten lassen, nicht nur im Hörspiel, sondern auch auf der Bühne, im Film und im Fernsehen; in diesem Zusammenhang sei nur etwa auf Federico Fellinis »LaStrada« (1954) verwiesen. Filmkomiker wie Stan Laurel und Oliver Hardy fanden ihren Weg auf die Bühne und ins Hörspiel durch Urs Widmer, dessen »Stan und Ollie in Deutschland« (SWF, 1979) hierzulande in einer Mundartbearbeitung (»Stan und Ollie in dr Schwyz«; DRS-2, 24.5.80) vorgestellt wurde. Ein »Dorforiginal«, mehr nach dem Muster von Shakespeares weisen Narren, spielt eine nicht unwichtige Nebenrolle am Schluss von Beat Ramseyers »D’Helena vo Lampers«. Mit dieser Gestalt hat Alex Gfellers Leo Lyr vieles gemeinsam, der, gespielt vom Clown Marco Morelli, etwa zur gleichen Zeit in einer Serie von Kürzesthörspielen das Radiopublikum irritierte.
Kasper, Harlekin, Narr und Clown, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie das Theater als ihren engeren Wirkungskreis und die Gesellschaft als Ganzes in Frage stellen, indem sie sich deren Konventionen widersetzen. Die Figur des erwachsenen Kindes, in Schneiders Spiel durch das Oxymoron »Kärlibueb« (S.29) für Chaschper besonders hervorgehoben, impliziert sowohl den Protest gegen die Starrheit der bestehenden Ordnung als auch die Sehnsucht nach einem befreiten Sein jenseits allen Zwanges. »König Meier de Tuusigscht« beginnt mit einer direkten Ansprache an die Zuhörer, die der Autor zu einer, allerdings scherzhaften, »Tublikums«-Beschimpfung nutzt. In dieser Attacke gegen die Spielillusion manifestiert sich ein Stück epischer Theatertradition, wie sie lange vor Brecht schon existierte. Der rebellische, kritische Charakter der Figur äussert sich vor allem in Chaschpers sprachlichen Kapriolen, die sich nicht immer nur in sinnloser Blödelei erschöpfen. Sein Hang zu Reimassoziationen führt dazu, dass er den Redaktor Windiker als »Herr Charakter« begrüsst, was dieser sofort korrigiert. Darauf Chaschper: »Aha asewäg. Nöd Charakter!« und in doppelbödiger Reflexion: »Hat mit Charakter nüütz’tue. Begriffe. Danke beschtens! Merci elnewäg für d’Uufklärig! Also, Herr Nödcharakter, sondern Redakter, was han ich poosget, dass Ziitig öppis vo mir wott?« (S.22) Von seiner Mutter erfährt er, dass Bankdirektor Zinsli immer im dunklen Anzug Ins Geschäft geht, und schliesst daraus in scheinbar naiver Verschiebung des Attributs: »Soso macht dä immer dunkli Gschäft i sim Aazug!« (S.33) Die lange Zeit ins Kinderzimmer verbannte, als Spielzeug sanktionierte und scheinbar harmlose Kasperlifigur entfaltet in Schneiders Hörspiel für Erwachsene eine derartige kritische Eigendynamik, dass dem Autor dabei selbst nicht ganz geheuer war. Zu den besonderen Bedingungen dieses Stücks gehört es, dass sich Chaschper nicht mit Teufeln, Krokodilen und Wilden, mit seiner zänkischen Frau und mit der Polizei herumschlagen, sondern sich in einer Erwachsenenwelt bewähren muss, der er trotz allem Witz in seiner kindlichen Naivität nicht gewachsen ist. Eine solche Welt lässt keine Illusion einer »möglichen Kinderherrschaft« mehr zu. Für Chaschper bleibt nur die Rolle eines Antihelden in einer Komödie, die nach Dürrenmatts Maxime an ihrem Ende die »schlimmstmögliche Wendung« nimmt. Mit Dürrenmatt verbindet das Hörspiel auch, dass wider Erwarten die in der Kasperlefigur angelegte Charakterkomik nicht überhandnimmt, sondern sich dem Grotesk-Komischen der Handlung unterordnet.
Der distanzierende, epische Grundzug des Kasperletheaters tritt leider nur in Chaschpers Begrüssungsansprache hervor, wird aber weiter nicht genutzt und auch am Schluss nicht wiederaufgenommen. Damit wird eine vom Genre her sich anbietende Gelegenheit verpasst, die konventionelle Form des Hörspiels zu sprengen und formal mehr als nur Hörspiel-Kasperlitheater zu realisieren. Mitte der siebziger Jahre hätten auch schon ganz andere Möglichkeiten einer radiophonen Umsetzung zur Verfügung gestanden, wenn man sich zum Beispiel die akustischen Experimente von Paul Pörtner vergegenwärtigt. Er hat in einer Hörspielfassung von Alfred Jarrys absurder Kasperl-Variante »König Ubu« mittels elektronischer Filter und Modulatoren »Stimm-Masken« erzeugt, »die sich ablösen von den Naturlauten und eigene Ausdruckskraft gewinnen«. (167) So liegen etwa den Exekutoren die Stimmen ihrer Opfer, der Bürger, zugrunde, die nur mittels Vocoder verändert wurden; Ubus Stimme ist maskiert, wenn er mit seinem Gewissen spricht, das sich in seiner natürlichen Stimme verlautbart. Freilich hätte eine solche Synthese von moderner Tontechnik und auf die Tradition der Commedia dell'arte zurückgreifendem Maskenspiel ein ganz anderes Hörspiel ergeben, was wohl nicht den Intentionen des Autors und seiner Auftraggeber entsprach. Es muss aber an dieser Stelle doch einmal beklagt werden, dass solche Versuche einer Verschmelzung traditioneller dramatischer Formen mit neuen Formen des elektronischen Mediums beim Schweizer Radio bis heute nur selten unternommen wurden.
(155) vgl. L.Arkosi-Franken, Kasperli für Grosse. Jörg Schneider und sein Hörspiel »König Meier de Tuusigscht oder De Undergang vom Turteland«, in: tvrz 49/74, S.70 f; 1974 erschienen die 15. und 16.Folge von Schneiders Kasperli-Platten. Diese waren von Anfang an ein derartiger »Grosserfolg« gewesen, dass jährlich zwei Folgen mit je einem Stück auf der Vorder- und Rückseite produziert wurden.
(156) Einen Versuch mit der Form des Kasperspiels hatte 1935 schon Arthur Weltl mit seiner gegenwartskritischen Hörszene »Weihnachtsspielzeug« (Studio Zürich, Ms.14/35, 7 Seiten) gemacht. Darin treten unter anderen die »hauchdeutsche« Edeltraut von Riefenuhl, eine Aufziehpuppe mit ausländischer Theaterausbildung und Tonfilmambitionen, sowie der Teufel namens Jakob Krüppeltod auf, der den Krieg personifiziert.
(157) L.Arkosi-Franken, a.a.O.; Zitate aus einer Stellungnahme von J.Schneider
(158) Pgr 3/82, S.12
(159) H.Arntzen, Nachricht von der Satire (1964), zit.nach: W.Hinck, Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie, in: Grimm/Hinck, 1982, S.15
(160) Kindermann, 1952, S.105; zur Unterscheidung zwischen Komos- und Mimusformen vgl. ib., S.100 f
(161) Miller, 1978, S.15, S.17 und S.18
(162) ib., S.11
(163) ib., S.10
(164) LArkosi-Franken, a.a.O.; Zitat einer Äusserung von J.Schnelder
(165) vgl. Miller, 1978, S.12
(166) M.Kommerell, Kasperlespiele für grosse Leute, Krefeld 1948; vgl. Miller, 1978, S.12
( 167) P.Pörtner, Keine Experimente mehr? Überlegungen zum Neuen Hörspiel, In: Schöning, 1982, S.270