Herbert Meier, »Salsomaggiore« (1984)
Typoskript

 

Eine moderne Erscheinungsform des »Hörspiels des inneren Monologs« stellt »Salso- maggiore« (DRS-2, 15.5.84) von Herbert Meier dar. Von ihm waren im Abstand von je zehn Jahren schon zwei Hörspiele von Radio Beromünster/DRS produziert worden. Im Spiel »Skorpione« (B-MW, 19.11.64), dessen Stoff der Autor vorgängig bereits als Fernsehspiel gestaltet hatte, geht es um die Unfreiheit des Menschen unter der »Herrschaft des Geldes«. (177) »Die langen Jahre der Anna Erismann« (DRS-2, 2.6.74) hat den Kampf einer entmündigten Frau zum Thema, die sich als Opfer ihres Besitzes fühlt; zu einem ihrer Anwälte sagt sie: »Was ich besitze, macht mich zu einer Gefangenen. Es ist wie ein Käfig.« (178) - »Bin wie in einem Gehäuse. Geh in einem Gehäuse, schalldicht, abgeschirmt...«, so beginnt auch der innere Monolog des Hans Ott in »Salsomaggiore« (S.3). Im Unterschied zu den früheren Hörspielen ist Ott nicht ein Gefangener seines Besitzes, sondern seiner Biographie. »Salsomaggiore« wurde 1986 mit dem »Prix Suisse« ausgezeichnet, der allerdings für die Inszenierung von Radio Svizzera Italiana (RSI) verliehen wurde.

Drei Ebenen lassen sich in Meiers Hörspiel unterscheiden: erstens die Ebene der gegenwärtigen äusseren Realität, auf der Ott mit seiner Frau und anderen Personen spricht, deren Geräusche aber auch von aussen in seinen Bewusstseinsstrom eindrin- gen; zweitens die Ebene seines inneren Monologs als Teil des Bewusstseinsstroms; drittens die Ebene der in den Monolog eingelagerten Spielszenen, die Erinnerungen an Vergangenes, an einer Stelle auch an einen Traum, durch Repräsentation vergegenwärtigen. Diese drei Bereiche wurden in der Inszenierung von Walter Baumgartner durch die Kombination von Monophonie und Kunstkopfstereophonie, deren Wirkung in Kapitel 2.53 eingehend beschrieben wurde, separiert und zugleich miteinander in Beziehung gesetzt. Die Kunstkopfstereophonie, die für alle »Aussenszenen« sowie für die Erinnerungs- bzw. Traumszenen verwendet wurde, versetzt den Hörer ins Innere der Hauptfigur und lässt ihn das Geschehen aus deren Perspektive erleben. Der innere Monolog, der in Mono aufgenommen und teils mit Hintergrundambiance in Kunstkopfstereo kombiniert ist, wird durch die Kontrastwirkung vom Hörer im Innern des eigenen Kopfes lokalisiert. »Salsomaggiore« ist also ein modernes Beispiel eines »Hörspiels des inneren Monologs«, in dem Kunst und Technik eine echte Synthese eingegangen sind, wie sie sich Ende der zwanziger Jahre einige Pioniere der Rundfunkkunst vorgestellt haben mögen. Dass es sich um einen gelungenen Versuch handelt, wurde vom Autor selbst und von der Kritik ausdrücklich bestätigt. (179) Dass sich die Illusion der »inneren Bühne« mit Hilfe der naturalistischen Stereowirkung perfektionieren Hesse, lag anfangs der sechziger Jahre, als der innere Monolog als Kernstück des monophonen Radiokunstwerks empfunden wurde, noch nicht im Bereich des Vorstellbaren.

Das Spiel setzt mit einer äusseren Szene ein, die das Geräuschpanorama einer Bahnhofshalle vermittelt. Der zweiundsechzigjährige Hans Ott wechselt letzte Abschiedsworte mit seiner Frau, die nach Salsomaggiore Terme zur Kur fährt. Eine Wahrnehmungstäuschung wird zum Bild für das trügerische Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität, das für das »Hörspiel des inneren Monologs« wesensbestimmend ist: Die Frau meint, ihr Zug fahre schon, doch es ist der Zug auf dem Nebengeleise: »Der andere fährt, und man glaubt, man fahre selbst.« (S.2) Nach der Abfahrt denkt Ott zunächst an eine frühere Italienreise zurück, während er den Bahnhof durchquert. Die Erinnerung an ein Gespräch mit seiner Frau über den bevorstehenden Kuraufenthalt blendet sich in Dialogform ein und wirkt so noch präsenter, unmittelbarer als das Selbstgespräch des Mannes. Auf seinem Weg durch eine Einkaufsstrasse macht sich Ott Gedanken über die gleissenden Kostbarkeiten in den Schaufenstern der Bijouterien und über die Sprünge in den Scheiben; er wechselt ein paar Worte mit einem Bekannten, der zufällig seinen Weg kreuzt. Ein Stück Zeit wird übersprungen. Zu Hause kramt der Strohwitwer in einer Schachtel, die »Otts gesammelte Freizeit« (S.10) auf Fotografien enthält: Erinnerungen an einen Ausflug mit der Frau werden durch solche an eine Uebesszene in jungen Jahren abgelöst. »Wühl in den Schachteln, Ott, es muss sein. Wer weiss, solche Andenken sind geheime Medikamente.« (S.10) Damit taucht der Gedanke an Krankheit auf. Vom Arzt, der seine Frau zur Kur geschickt hat, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, hat Ott in der letzten Nacht geträumt. Die Szene einer Konsultation steigt in sein Bewusstsein auf. Diagnose: Morbus Ott, multipler Liebesschwund, epidemisch; Hausmittel dagegen: Re-mi-fa-sol, zu beziehen über seine Frau. Eine Szene zeigt Ott an einem der nächsten Tage an seinem Arbeitsplatz. In einer weiteren belauscht er in einem Restaurant das Gespräch zweier Herren; das Stichwort Salsomag- giore macht ihn hellhörig, die Beschreibung ausschweifender Abenteuer mit einer Frau, deren Beschreibung auf die seine zutrifft, löst blinde Eifersucht aus. Betrunken taumelt Ott bald darauf durch die Strassen und lässt sich schliesslich von einem Taxi nach Hause fahren. Eine weitere Szene auf seiner inneren Bühne erinnert ihn daran, wie er auf die Ausbildung an einer Ingenieursschule im Ausland verzichtet hat; seine Braut hatte ihn gebeten, bei ihr zu bleiben, da ihr Vater soeben gestorben war. »Junges Paar mit totem Vater beschäftigt.« (S.20) Er liegt im Grab, »aber im Grunde nicht begraben. Lebendig ist er, kommt täglich von den Toten wieder, der urmächtige Vater.« Damit ist Ott, wie es scheint, auf die Fundamente des »Gehäuses« gestossen, das ihn einengt, ihm die Luft nimmt.

Im neunten und letzten Teil des Hörspiels ist Frau Ott von ihrem Kuraufenthalt zurück- gekehrt. Sie hat sich gut erholt, ist zufrieden, gut gelaunt; für sie war Salsomaggiore »ein Segen«. Ihn dagegen »hat Salsomaggiore ruiniert.« (S.22) Verdächtigungen gehören, wie er weiss, zum Bild der Krankheit, die rasch fortschreitet. Obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach unbegründet sind, kann er sich ihrer nicht erwehren. Die Welt dieses Hörspiels konstituiert sich grundsätzlich aus den subjektiven Wahrnehmung der Hauptfigur; das gilt auch für die äusseren Dialoge, die zwar im Verhältnis zu den erinnerten Gesprächsszenen als »objektiv« erscheinen, aber ohne Ausnahme durch den Filter von Otts Bewusstsein rezipiert werden. Dieser Effekt wird durch die technischdramaturgische Konzeption der Zürcher Inszenierung unterstützt. Im letzten Gespräch nun ist es dem unbefangenen Hörer kaum mehr möglich, die Frau, die sich offensichtlich keiner Schuld bewusst ist und die Anspielungen ihres Mannes gar nicht versteht, ausschliesslich aus dessen Perspektive zu sehen. Die Filtrierung wird aufgrund der allzu grossen Diskrepanz spürbar, was ein Abrücken des Hörers von Ott zur Folge hat. Dieser schafft es nicht mehr, sich auszusprechen, wünscht von seiner Frau nur Musik, das Heilmittel, das ihm der Arzt im Traum verordnet hat. Doch er muss sich selbst eine Platte auflegen. Nach Verklingen des Stückes, das seinen Schlussmonolog begleitet, dreht sie sich weiter, und das schabende Geräusch der kreisenden Nadel kommentiert Otts letzte Worte:

»Dann jagende Ängste, auch am Tag ... hilfloses Herumexistieren ... Wer sagt mir: Sie war es nicht, war es nicht, wer? War es nicht, sie war es nicht, war es nicht? Wer sagt mir das? Nur ich mir selbst, ich mir selbst, mir selbst, mir selbst... Aber ich glaube es nicht, glaub es nicht... kann es nicht glauben, kann nicht... kann nicht... kann nicht... kann ... nicht...« (S.23)

Die Frau, die Ott nicht helfen kann, die gar nicht weiss, dass sie ihm mit Musik helfen könnte, hilft dem Hörer in letzter Minute, der Ansteckung durch die epidemische Krankheit zu entgehen. Auch das epische Mittel der Raffung - die gespielte Zeit erstreckt sich wohl über zwei bis drei Wochen - wirkt unmerklich distanzierend. Dennoch ist der Hörer bis zum Schluss gezwungen, das Abgleiten des seelisch zerrütteten Mannes aus unmittelbarer Nähe, nach wie vor in dessen Perspektive, mitzuerleben. Der Frage, was dieser absonderliche Prozess, der in sinnlosem »Herumexistieren« endet, mit seiner eigenen Existenz zu tun hat, kann er nicht ausweichen. Eine Antwort gibt das Hörspiel: Morbus Ott - Degeneration, Trägheit, Liebesschwund - soll laut Statistiken »sehr verbreitet sein«, wird aber, wie Ott in seinem Alkoholrausch erkennt, »im allgemeinen verdrängt. Alles ist happy, nicht wahr. Schau dir die Parties an, lauter, lauter Happyehen ... Ehen mit Sekt, Schmuck und Schminke, Lächeln, Happygetue, aber alles krank.« (S.18) Doch wieweit ist Verlass auf diese Antwort eines Kranken? Der Hörer ist auf sich selbst verwiesen, seinerseits gefangen im Käfig der Subjektivität.

Ungeachtet der »überdeutlich druckfertigen Formulierungen«, zu denen Ott nach Ansicht eines Kritikers neigt (180), verfügt Meier über die sprachlichen Mittel, um den Bewusstseinsstrom seiner Figur glaubhaft zu gestalten. Die Syntax der Monologpartien ist gekennzeichnet durch Reduktion, die von der Auflösung der Kohärenz zwischen den Sätzen über Anakoluthe und Fragmente bis zu Wiederholungen führt, wie sie sich besonders im obigen Zitat des Hörspielschlusses häufen. An die Stelle des syntaktischen Zusammenhangs tritt eine motivisch assoziative Verknüpfung aller Textteile einschliesslich der äusseren Dialoge. Das Selbstgespräch im Weinrausch lässt diese Züge in verstärktem Mass hervortreten:

»Es wird nicht nach Hause gefahren. Zu Fuss, Ott, alles zu Fuss. Schritt für Schritt wird gegangen, Ott. (Schritte) Vergären statt verbrennen ... aber sie begreifen es nicht... verbrenn keine Erinnerungen, Ott, wegen der Immissionen. Lieber die Sache vergären lassen ... Die Schadstoffe sind geringer, viel geringer ... ungefährlich sozusagen. Es braucht Zeit.
(Schritte. Stille)
Keinen Schritt mehr, Ott... stehen bleiben, aufrecht, sage ich, an nichts lehnen, bitte. Frei dastehen, sage ich, weg von der Wand. Aufrecht! Salsomaggiore nochmal! (Schritte. Stille) Geht nicht, es geht nicht. Du hast den aufrechten Gang verloren, Ott. Die letzte Würde, sage ich, im Eimer, meine Herren.« (S. 16)

Die Gedanken über Vergären und Verbrennen weisen in direkter Linie zurück auf ein Gespräch mit seinem Berufskollegen über Methoden der Abfallentsorgung. Die Vorstellung des Gärens hängt aber auch mit jener von Schlamm (S.13) und Fangopackungen zusammen (S.5), die seiner Frau in Salsomaggiore - der selbstkreierte Kraftausdruck verweist darauf - appliziert werden. Seine Vorstellungen vom Treiben in einem Heilbad haben am Anfang schon das Motiv des Feuers und des Verbrennens heraufbeschworen:

»Uralte Heilquellen, römisch ... Womöglich alles nackt, wie in Pompei. Das bekannte amoralische Benehmen dort unten. Aber die Strafgerichte bleiben nicht aus ... Lavastrafgerichte ... Ausbrüche, Feuer... und alles eingeäschert, ausgebrannt. Einer versucht noch zu küssen, erreicht den Mund nicht mehr, frisst Lava. Einen Mundvoll Lava und erstickt. Seine Mumifizenz der Mensch, verneige mich.«(S,5)

Mit dem bildlich gemeinten Ausspruch: »Alte Häuser brennen heftig« (S.14) hatte einer der Herren im Restaurant Otts Eifersucht entzündet, und mit dieser Episode steht auch das Motiv der Wand in Verbindung, zu dem sich, situativ bedingt, die Assoziation des aufrechten Ganges und, ausgehend von deren übertragenem Sinn, diejenige der Menschenwürde einstellt. Beide Zitate zeigen ferner eine Neigung zum Denken in Gegensätzen wie etwa Wasser und Feuer, Leben und Tod.

Herbert Meier hat in einem Gespräch, das im Anschluss an das Hörspiel gesendet wurde, betont, dass er sich im Falle des Stoffes von »Salsomaggiore« bewusst für das Medium Radio entschieden habe, da dieses sich für die Gestaltung eines inneren Monologs eigne wie kein anderes. Das Beispiel der besprochenen Inszenierung zeigt deutlich, dass ein gutes Hörspiel in der Synthese eines überzeugenden Textes und seiner adäquaten radiophonen Realisierung besteht.

 

(177) H.M., Skorpione, In: r+f 46/64, S.12
(178) H.Meier, Bevormundet. »Die langen Jahre der Anna Erismann«, in: tvrz 22/74, S.69
(179) vgl. che., Morbus Ott, multipler Liebesschwund, in: NZZ, 17.5.84
(180) H.Strech, Aus dem Kopf heraus, in: TA, 17.5.84

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.gratis-besucherzaehler.de


Herbert Meier
(Foto: Stephan Schacher, Zürich, zVg)