Adolf Muschg, »Why, Arizona« (1977)
Typoskript

 

Adolf Muschgs Hörspiel »Why, Arizona« (DRS-2, 14.5.77) ist ein Zweipersonenstück wie die zuvor besprochenen von Humm und Zopfi. Mit Zopfis »Di grüen Linie« hat es zudem gemeinsam, dass die beiden Personen unterwegs sind und dass drei der sieben »Bilder« im geschlossenen Raum eines Autos spielen. Sein grundsätzliches Interesse am Radio als literarischem Medium hat Muschg in den frühen sechziger Jahren schon gezeigt, indem er mit seinem Hörspiel »Wüthrich im Studio« (B-MW, 4.3.62) sein literarisches Debüt gab (124), drei Jahre bevor sein erster Roman erschien, und indem er 1964 eine Reihe von japanischen Hörspielen kommentierte. Sein zweites Hörspiel »Das Kerbelgericht« (WDR, 26.2.69; DRS-2, 9.3.69) wurde fast zeitgleich in der BRD und in der Schweiz produziert und erhielt den »Prix Suisse« für das Jahr 1969; es hat die Auseinandersetzung zwischen einem jungen und einem alten Mann vor dem Hintergrund der Zürcher Unruhen von 1968 zum Thema, die der Autor während seines Aufenthalts in den USA aus der Ferne mitverfolgt hatte. (125) »Why, Arizona« entstand als erster Auftrag der internationalen »Play Commissioning Group« an einen deutschsprachigen Autor; zu dieser informellen Vereinigung hatten sich die Hörspielabteilungen von neun europäischen und amerikanischen Sendern, unter anderem von Radio DRS, des WDR und der BBC, zusammengefunden, um bekannte Autoren durch angemessene Honorare für das Hörspiel gewinnen zu können. (126) Im Falle Muschgs führte dieser Vorstoss zur Wiederaufnahme seiner Radioarbeit, die er danach mit einer Bearbeitung von »Watussi oder ein Stück für zwei Botschafter« (DRS-2,15.4.78) und mit einem weiteren Auftragshörspiel, »Goddy Haemels Abenteuerreise« (DRS-2,21.3.81), fortsetzte; seither ist - zumindest in der Schweiz - kein weiteres Originalhörspiel von ihm produziert worden.

Heinz F.Schafroth bezeichnet diese »Geschichte einer Begegnung zweier Menschen, die zufällig ist und ohne erkennbare Folgen bleibt«, als den »zurückgenommenste[n], verschlossenste[n] Text, den Muschg überhaupt geschrieben hat.« (127) Ein Europäer, mit dem Mietauto in Arizona unterwegs zu einem Kongress in Los Angeles, wird in einem Restaurant von einer älteren Frau, die ihn bedient, in ein Gespräch verwickelt; ihre Namen werden während des ganzen Spiels nicht genannt. Als sich der Mann nach einem mexikanischen Ort in der Nähe erkundigt, wo er Andenken einkaufen möchte, offeriert ihm die Frau, ihn mit ihrem Auto dorthin zu bringen, da sich so angeblich Grenzformalitäten vermeiden liessen. Er willigt eher zögernd ein und bleibt während der Fahrt einsilbig, gibt nichts Persönliches von sich preis. »Sinnliches Interesse ist bei ihm nicht im Spiel, so viel weiss er«, kommentiert Muschg im Vorwort. »Deshalb nimmt er etwas geniert, auch etwas schuldbewusst ihre Mitteilungswünsche zur Kenntnis«. (128) Die Frau erzählt ihm ihre ganze Lebensgeschichte, zeigt manchmal zu deutlich, dass sie an einer Annäherung interessiert ist. »Die Grenzüberschreitung nach Mexiko ändert nichts. Die wahre Grenze ist noch lange nicht überschritten, die zwischen den Personen.« (129) Die Frau bietet ihm im Souvenirladen Geschenke an, die er nicht annehmen kann. Im Gegenzug lädt er sie zum Drink in eine Bar ein, wo das Gespräch etwas persönlicher wird. Das Programm, das er erfunden hat, löst, wie er hofft, »die Probleme von Computern«, was sie veranlasst, nachzufragen: »Aber... welche menschlichen Probleme?« (S.24) Hier zeigt sich, dass es um denselben Zwiespalt geht wie schon in Muschgs Hörspiel-Erstling, wo »ein technischer Zwischenfall« im Radiostudio, dem Ort der Handlung, »unversehens zu einem menschlichen wird.« (130) Die Brüche zwischen Konversation und Intimität werden spürbarer. Der Dialog nimmt inquisitorische Züge an:

»Frau Was haben Sie gegen Gefühle?
Mann Dass sie weh tun.
Frau In Ihrem Beruf kommen Gefühle nicht mehr vor.
Mann Sagen wir so: mein Beruf gibt mir Gelegenheit, nicht wissen zu müssen, was die Leute aus meiner Arbeit machen. Ich habe es nicht mit Inhalten zu tun, sondern mit Abläufen, nicht mit Einzelheiten, sondern mit Mustern.
Frau Sie sind eine Einzelheit, Sie selbst.
Mann Richtig.
Frau Was schliessen Sie daraus?
Mann Nichts.
Frau Was passiert, wenn Sie Ihr Programm in Los Angeles nicht verkaufen können?
Mann Dann war die Arbeit zweier Jahre umsonst.
Frau Und Sie?
Mann Gute Frage.
Frau Sind Sie dann traurig?
Mann Erledigt.
Frau Sind Sie dann traurig?
Mann Ja.« (S.25 f)

Auf die wie beiläufig eingeflochtene Bemerkung der Frau, sie habe Krebs, ihr Arzt gebe ihr noch zwei, drei Jahre zu leben, gerät das Gespräch nur kurz ins Stocken und schwenkt dann zu den Reiseeindrücken des Mannes:

»Frau Und haben Sie gefunden, was Sie suchten?
Mann Ich wusste nicht, was ich suchte ... Darum habe ich’s wohl gefunden. Ja.
Frau Manchmal haben Sie doch Gefühle, wie?
Mann Aber ich brauche eine sehr strenge Landschaft dazu.
Frau Kakteen und nochmals Kakteen?
Mann Vielleicht.
Frau Ich mag die Kakteen nicht, diese Orgelpfeifen. Wie die an den kahlen Hängen herumstehen - ein einziger Friedhof. Ein Kriegsfriedhof. Aber Friedhof ist Ihnen wohl streng genug für Ihr Gefühl, wie?
Mann Reden Sie nicht so.
Frau Ich lebe gern, wissen Sie. - Bleiben Sie ein paar Tage hier - Sie können bei mir wohnen. Sie brauchen sich nicht um mich zu kümmern. Sie werden mich kaum zu Gesicht bekommen. Sie können jeden Abend nach Mexiko fahren und sich dort vergnügen. Dort gibt es viel mehr Kakteen als hier, soviel Sie wollen, Souvenirs jede Menge - (Sie schreit) Bitte fassen Sie mich an. Bitte. Ich habe nicht genug geliebt, wissen Sie. Ich sag nicht, ich bin nicht genug geliebt worden, ich nehme an, die haben getan, was sie konnten, es war nicht ihre Schuld, dass es nie genug war. Aber ich, ich habe nicht genug geliebt. Da kommt es her. Die Krankheit. Das frisst einen auf. Bleiben Sie. Nur ein paar Tage. Vergnügen Sie sich. Machen Sie den Fehler nicht. Sie werden ja nicht merken, wenn mir was weh tut -
Mann Das merke ich.
Frau (sehr laut). Und wenn schon! - (Gefasst.) Dann bleiben Sie lieber gar nicht erst. Feinfühlig, wie Sie sind.« (S.28 f)

Eine momentane Irritation des Mannes macht sich bemerkbar in der aussergewöhnlich wortreichen Schilderung seiner Fahrt durch das Bergbaugebiet in der Nähe der Stadt Why. Nachdem die Bedeutung dieses Namens geklärt ist, hat sich die Frau soweit gefasst, dass die Konversation ihren Fortgang nehmen kann. Die Fahrt zurück wird durch den einzigen grösseren Zeitsprung überbrückt. Der Abschied im letzten »Bild« ist kurz; der Mann schenkt der Frau eine Münze aus seinem Land, Adressen werden keine ausgetauscht. Zu einer körperlichen Berührung ist es nicht gekommen, äusserlich hat die Begegnung tatsächlich keine Folgen. Dass ihm der Ausbruch der Frau unter die Haut gefahren ist, kann nur indirekt aus dem Verhalten des Mannes erschlossen werden. Der Hörer hat diesen einzigen dramatischen Vorfall, der durch den Kontrast zu der »manchmal hohl, manchmal angestrengt« klingenden Konversation (131) an Wirkung gewinnt, wegen der Kürze der letzten Szene noch im Ohr, nachdem die Abschiedsworte verklungen sind. Eruptionen dieser Art ziehen sich durch Muschgs ganzes Werk. Die physisch eindrücklichste findet sich in dem »ungeheuren Knall« mit dem Brämi sich und sein Heim in einer der Erzählungen in die Luft sprengt, die kurz vor der Entstehung von »Why, Arizona« erschienen sind. (132) Eine politische Dimension hat sowohl das abendfüllende Schweigen wie der Zornausbruch Gottfried Kellers im Stück »Kellers Abend«. (133) Und auch im Hörspiel »Das Kerbelgericht« steht ein Schuss im Zentrum, mit dem sich die aufgestaute Spannung entladen hat.

Was der Hörer auf dieser Fahrt beobachten kann, sind »alles recht kleine Bewegungen«, wie Muschg anmerkt. (134) In den Äusserungen der beiden Personen offenbaren sich nur Fragmente ihrer Subjektivität, die aber ahnen lassen, was alles vorenthalten, verschwiegen wird. (135) Das gilt auch für die Frau, die im Gegenzug zur Verschlossenheit des Mannes sehr viel von ihren Lebensumständen preisgibt. Ihr Insistieren auf der Frage: »Sind Sie dann traurig?« im ersten der oben zitierten Ausschnitte lässt für einen Moment erkennen, wieviel da verschwiegen wird; darin zeigt sich auch ein ohnmächtiger Versuch, dieses Schweigen zu durchbrechen, der auf die kommende Eruption vorausweist. 1970 hat es Muschg als sein Ziel erklärt, mit Sprache Bestand aufzunehmen, »aus dem Winkel wegzukommen, wo meine Sprache die Sache blendet, statt sie zu zeigen.« (136) Der auslassende Stil, der für seine Erzählungen von Anfang an kennzeichnend war, konstituiert in »Why, Arizona« eine fragmentarische Oberfläche, die mehr und mehr transparent wird, je länger das Spiel dauert. Als dieser »Konversationsschleier« (137) reisst, wird der Blick frei auf den Tod, auf das unbändige Verlangen nach Berührung und menschlicher Nähe angesichts des Todes.

Das Bestreben zu verschleiern geht bis in die dramaturgischen Überlegungen hinein, die Muschg dem Manuskript seines Hörspiels vorangestellt hat. Ähnlich wie in Zopfis Hörspiel sind für alle Szenen »Geräuschkulissen« vorgesehen, die jeweils zu Beginn sehr exakt beschrieben werden. Für das sechste »Bild« gelten zum Beispiel folgende Anweisungen: »Bar im Hotel, charakterisiert durch ein Orchester, das im Leeren spielt; Astor Piazzolla: Tangita. Manchmal das Klicken eines Feuerzeuges. Sonst kein Geräusch, auch nicht das Geräusch der Gläser.« (S.22) Dass der fast permanente Geräusch- und Musikteppich demselben Zweck dient wie die asketische Sprache des Dialogs, wird in der letzten Szene deutlich, als der Mann die Frau bittet, das Radio abzustellen; sie lehnt dies ab mit den Worten: »Ich mag auch Musik, wenn ich allein bin. Zu allem: Musik. Bei meinem Doktor gibt’s überall Musik, sogar auf dem Klo.« (S.31) Am Schluss begründet sie ihr Bedürfnis: »Ich kann Stille nicht gebrauchen, verstehen Sie? Stille hat man immer noch genug. Bis man nur eingeschlafen ist - eine Wüste von Stille. Und dann: Nur nicht aufwachen!« (S.32) Die Hintergrund-»Berieselung« im Hörspiel wird aber durch jähe Unterbrechungen gelegentlich bewusst gemacht. Muschg hat im Manuskript Stellen markiert, an denen die gesamte Ambiance für Sekunden aussetzt; dieser drastische Effekt, der eine frühe Entsprechung in Urs Widmers Hörspiel »Wer nicht sehen will, muss hören« (vgl. Kap.3.125) hat und auf Montagetechniken des Neuen Hörspiels verweist, lässt sich »illustrieren mit dem Aufschrecken eines Reisenden im Zug oder Flugzeug, der erst am ruckweisen Wiedereinsetzen der Geräusche innewird, dass er eben eingenickt sein muss.« (138) Damit dürfen aber nicht bedeutungsvolle Stellen unterstrichen werden; indem so die Kontinuität des Mediums unterbrochen wird, soll vor allem eine realistische Wirkung des Spiels verhindert werden. Muschg betont, dass er sich den Dialog von »Realismus (Verismus)« ebenso unberührt wünscht wie von »Surrealismus« im Sinne eines Trips. (139) Demselben Zweck dienen auch die harten Schnitte zwischen den »Bildern«.

Muschgs Hörspiel basiert, wie Schafroth überzeugend darlegt, auf einer »Dramaturgie des Schweigens«, die sich mit Günter Eichs späterer hörspieldramaturgischer Auffassung vergleichen lässt. (140) Wie bei Eich dient der zum Programm erhobene Verzicht auf Handlungsdramatik und spektakuläre Dialoge dazu, vorschnellen Antworten vorzubeugen und Fragen zu provozieren. »Die Kunst der Regie bestünde darin, den Hörer ab und zu fragen zu lassen: Was soll’s?« (141) Why heisst die Stadt, die dem Hörspiel den Titel gegeben hat, weil sich dort zwei Strassen in der Form eines Y trennen. Die Form eines Ypsilon nimmt auch der Weg des Reisenden durch seinen Abstecher nach Mexiko an. Why steht aber im übertragenen Sinn auch für die Frage nach dem Sinn unserer Lebensweise, die das Hörspiel repräsentiert, aber nicht beantwortet.

Zweifellos ist »Why, Arizona« ein dramatisches Hörspiel der offenen Form, obwohl man keineswegs sagen kann, dass seine Handlung in einer Folge kurzer, stets vorausweisender Spielabschnitte rasch vorangetrieben werde. Die Szenen folgen chronologisch aufeinander und gehen trotz der harten Schnitte fast unmittelbar ineinander über. Die geringfügigen Zeitsprünge zwischen den ersten sechs »Bildern«, die ein »episches Element in äusserst reduzierter Form« darstellen (142), genügen keineswegs, um eine Zuordnung zum epischen Typus zu rechtfertigen. Wie im Falle der vorgestellten Beispiele für den geschlossenen dramatischen Typus geht es in »Why, Arizona« darum, mit minimalem Aufwand an äusserer Dramatik, die sich letzten Endes auf die Fahrt mit dem Auto beschränkt, einen inneren Konflikt hervortreten zu lassen, der in der Krankheit der Frau am Ende körperlich manifest wird. Wenn Frank unter Dramatik »die Repräsentation einer Handlung zwischen Menschen« versteht, »die sich in je gegenwärtiger Entwicklung gleichmässig-stetig aus einem Konflikt heraus entrollt« (143), so entspräche Muschgs Hörspiel also der Umkehrung dieser Bestimmung: Die Handlung »entrollt sich« nicht aus dem Konflikt, sondern dieser wird allmählich durch den Dialog enthüllt, ohne dass sich daraus Konsequenzen ergäben. Hierin scheint sich anhand dieses wichtigen Beispiels für das moderne dramatische Hörspiel eine Verlagerung in Richtung Innerlichkeit zu zeigen, deren Mangel bis dahin stets Anlass zu Vorbehalten und zur Abgrenzung des »eigentlichen Hörspiels« gegenüber dem dramatischen Typus gegeben hatte. (144)

 

(124) vgl. A.Muschg, Wüthrich im Studio, in: r+f 9/62, S.10
(125) vgl. den aufschlussreichen Artikel von A.Muschg, Das Kerbelgericht, in: r+f 10/69, S.70 ff; abgedruckt auch als Nachwort zur Buchausgabe, Zürich (Arche) 1969, S.49 ff
(126) vgl. P.Imhof, Seelenwüste. Hörspiel von Adolf Muschg: »Why, Arizona«, in: tvrz 18/77, S.20
(127). H.F.Schafroth, Adolf Muschg, 12.Nlg. (1982), S.8, in: Arnold, 1978
(128) Manuskript, Radio DRS, S.1; die Seitenzahlen der Zitate aus dem Hörspieltext werden hingegen nach der allgemein greifbaren Ausgabe im Reclam-Verlag (Muschg, 1982) angegeben, in der nur eine kurze Passage aus diesem Vorwort abgedruckt ist.
(129) ib.
(130) A.Muschg, Wüthrich im Studio, a.a.O.
(131) Vonwort im Manuskript, S.1
(132) A.Muschg, Brämis Aussicht, in: Entfernte Bekannte, FfM. (Suhrkamp) 1976
(133) A.Muschg, Kellers Abend. Ein Stück aus dem neunzehnten Jahrhundert, Seelze (Friedrich) 1975; Uraufführung: Basel, 7.5.75
(134) Vorwort im Manuskript, S.1
(135) vgl. H.F. Schaf roth, Alles recht kleine Bewegungen (Nachwort), in: Muschg, 1982, S.89 f
(136) Bucher/Ammann, 1970, S.167
(137) Vorwort im Manuskript, S.2
(138) ib.
(139) ib., S.3
(140) vgl. H.F.Schafroth, Alles recht kleine Bewegungen, a.a.O., S.91; vgl. G.Eich, [Abgekürzte Dramaturgie des Hörspiels], in: Eich, 1973, Bd.4, S.411
(141) Vorwort im Manuskript, S.1
(142) Frank, 1963, S.136
(143) ib., S.142
(144) vgl. Schwitzke, 1963, S.76 ff

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.gratis-besucherzaehler.de