Erica Pedretti, »Badekur« (1970)
Typoskript

 

Erica Pedretti schrieb ihr erstes Hörspiel »Badekur« (DRS-2, 2.2.70) im Auftrag der Abteilung »Dramatik«, nachdem sie 1969 im »Montagsstudio« mit zwei kurzen Prosatexten erstmals vor ein grösseres Publikum getreten war; es entstand parallel zu ihrem Buch-Erstling »Harmloses, bitte«, der erst kurz nach der Ursendung veröffentlicht wurde. Dass sie damit »literarisch auffiel«, bevor noch etwas Gedrucktes von ihr vorlag, ist als bemerkenswert hervorgehoben worden. (402) Wie Peter Bichsels Hörspiel wurde »Badekur« mit dem »Prix Suisse« ausgezeichnet. Bis 1980 hat die Autorin sieben weitere Hörspiele, vier davon für das Schweizer Radio, konzipiert, zum Teil unter Verwendung von Originalton-Dokumenten und in enger Zusammenarbeit mit Studio Basel und Studio Bern, zum Teil als Bearbeitung von Texten, die in leicht veränderter Form auch gedruckt erschienen. Danach schuf sie keine weiteren Hörspiele mehr; dies entspricht der leider verbreiteten Erscheinung, dass Autoren sich vom Medium Radio abwenden, wenn sie einen gewissen Grad der Bekanntheit erreicht haben; bei Erica Pedretti mag es auch mit ihrer stärkeren Hinwendung zur bildenden Kunst in den achtziger Jahren zusammenhängen.

Durch eine Neuinszenierung in Koproduktion des Süddeutschen und des Bayerischen Rundfunks ein Jahr nach der schweizerischen Ursendung geriet »Badekur« in den Sichtkreis der bundesdeutschen Hörspielphilologie und wurde als Beispiel der Sprachkritik im »neueren« Hörspiel dargestelit, das die Klischeehafigkeit des Sprachgebrauchs im privaten Bereich aufzeige und den vergeblichen Versuch einer Figur gestalte, »dieser Welt der Pseudo-Kommunikation zu entfliehen.« (403) Damit ist zwar angetönt, dass es sich nicht um die reine Form eines sprachkritischen Hörspiels handelt, doch wird zugunsten der typologischen Systematik das Wesentliche, das im Gegenentwurf einer schöpferischen Verwendung von Sprache besteht, zu sehr marginalisiert. Kritik der allzu harmlosen Alltagskommunikation zeigt sich etwa in den zu Beginn der sieben Abschnitte regelmässig wiederkehrenden Begrüssungsritualen, deren Partitur für vier Stimmen im Manuskript wie folgt dargestellt wird:

Die senkrechten Striche markieren Pausen, die in der Realisierung jedoch nicht durchweg übernommen wurden. Die Wirkung dieses knappen Ausschnittes beruht zum einen auf dem Rhythmus, zum andern auf dem Klang der Vokalkombinationen, der Reime und Wiederholungen, die als identische Reime wirken. Eine primitive Form der Rhythmisierung wird in der Variation von »eins - zwei - drei - vier«, »links - rechts«, »hoch - tief« während der Gymnastikstunde vorgeführt (S.30); kunstvoller äussert sich die Skepsis gegenüber dem turnerischen Kollektiverlebnis in beschwingt anapästischer Diktion: »über lederne Pferde und Böcke in Hocke oder Grätsche hinweg« (S.28). Klangliche Finessen entfalten sich durch das ganze Spiel hindurch auch in unzähligen Alliterationen und Assonanzen. Leitmotivisch wird in den morgendlichen Begrüssungszeremonien mehrmals das laute Rauschen des Flusses thematisch, über welches sich die eine der alten Damen beklagt. Damit wird auf die elementare Form von Schall hingewiesen, die, wie Paul Pörtner vermerkte, »durch Modulation so präzisiert [werden kann], dass sich das Geräusch als Sprache erkennen lässt oder als Musik.« (404) Die Hauptfigur (Er) stellt fest, dass das Rauschen nur »erträglich« ist, »wenn man es beachtet / belauscht [...] / als Musik betrachtet [...], die einen mitreisst« (S.4). Auf nicht-formalisierte Geräusche und auf die reinen Töne der Musik verzichtet »Badekur« fast ganz (405), doch nähert sich die Autorin an einzelnen Stellen von der Sprache her der Grenze zur Musik, indem sie lauter einsilbige Wörter zu einem Klangteppich montiert und auch einzelne bedeutungslose Silben und Laute daruntermischt:

In den sieben Tischgesprächen wechseln sich, in kunstvoller Abstraktion, aber der Realität der Situation völlig entsprechend, solche Teile, in denen sich mehrere Stimmen überlagern, mit linearen Monolog- und Dialogpassagen ab, die oft auch über die Wortebene hinausgehen und Satzfragmente oder vollständige Sätze miteinbeziehen, gelegentlich sogar in wortreiche Äusserungen ausufern. Eine Gemeinsamkeit mit Schmidlis Hörspiel (s.o.) zeigt sich etwa in der Integrierung von Redensarten im folgenden Gespräch:

Am nachhaltigsten musste sich dem Hörer, der Erica Pedrettis »Badekur« spontan empfing, die Form dieses Hörtextes einprägen, die sich von allem Gewohnten deutlich unterschied. An das traditionelle Hörspiel konnten ihn immerhin Fragmente einer Handlung erinnern, die aber nicht im Vordergrund stehen und sich nicht auf ein Ziel hin ordnen: Als Hauptfigur ist die jüngere männliche Stimme (Er) zu erkennen, die von einer jüngeren weiblichen Stimme (Sie) gelegentlich in einen Dialog verwickelt wird; die beiden unterhalten sich etwa über eine achtzehnjährige Gelähmte, versuchen sich vorzustellen, »wie das ist / wenn man so ist« (S.11), was die Invalide empfinden muss, wenn sie von einer Krankenschwester im Rollstuhl spazierengefahren wird. Zwischen diesen beiden Figuren, deren Äusserungen sich deutlich von der oberflächlichen Konversation der übrigen Kurgäste und von den Anweisungen des Personals abheben, bahnt sich eine Beziehung an, die aber an der abweisenden Haltung des Mannes scheitert. Bei einem Spaziergang im Kurpark wird deutlich, dass er sich aus einem anderen Verhältnis zu lösen versucht, aber von Erinnerungen an vergangene Erlebnisse nicht loskommt. Über diese Ansätze einer Handlung hinaus ist es die Atmosphäre von Situationen, welche die Phantasie des Hörers anspricht. »Badekur« ist, wie die Autorin schreibt, »der Versuch, etwas einzufangen, (wieder)herzustellen, einen Kurort, ich nehme an Ragaz, ein kleines Hotel, verschiedene Kurgäste, was die so reden, bei Tisch: über das Baden, eine Gelähmte, den Park, die Liegehalle, Heilgymnastik, eine Liebelei, das Essen, über was man halt redet.« (406) Wie in »Harmloses, bitte« ist der Stoff wohl autobiographisch inspiriert, doch tritt die Autorin im Hörspiel noch mehr hinter das Werk zurück.

Schwieriger scheint es schon, beim ersten Anhören die Struktur des Hörspiels zu erfassen, obwohl diese denkbar einfach ist. Im ersten und siebten Teil steht die Hauptfigur am Fenster ihres Zimmers - eine romantische Situation - und lauscht dem Rauschen des Flusses, das einen unwiderstehlich mitzureissen droht, wenn man sich fallen lässt, die Augen schliesst. (vgl. S.4) In beiden Fällen spaltet sich die Person in eine nähere und eine fernere Stimme auf, die ein Selbstgespräch als Dialog führen; am Anfang ist es die Vorstellung eines läutenden Telefons (man hört es tatsächlich läuten), die den Mann von der Sogwirkung des Fensters zu lösen vermag und ihn dazu bewegt »weiterzumachen« (S.5); am Ende schöpft er die Kraft dazu aus einem Gedanken, den er erstmals in der Mitte des Spiels, im vierten Teil, aus einer ungenannten Quelle rezitierend, gefunden hat, während andere Gäste sich gegenseitig Werbeslogans, Überschriften und Auszüge aus Zeitungen und Zeitschriften vorlasen und mit ihren Schlagworten und Zwischenfragen seinen Gedankengang mehrfach unterbrachen:

»die unbedeutendsten Ereignisse meiner Kindheit oder längst vergessene Szenen aus späteren Jahren tauchten oft wieder zu neuem Leben herauf. Ich hätte nicht sagen können / dass ich mich ihrer erinnere, denn wäre mir [...], während ich wachte, von ihnen erzählt worden, so hätte ich sie niemals als [...] Stücke meiner eigenen vergangenen Erlebniswelt wiedererkannt.« (S.22)

Damit rückt der »Prozess der Erinnerung«, der sich als ein Hauptgegenstand von »Harmloses, bitte« erweist, buchstäblich ins Zentrum des Hörspiels; im Unterschied zum Buch wird aber hier »Erinnerung als Bewusstseinsinhalt« fast gar nicht »in Sprache umgesetzt« (407), sondern wird nur angedeutet, bleibt als Bedrohliches unausgesprochen. Das Rauschen des Flusses, das nur erträglich ist, wenn man es belauscht, wird am Ende als Symbol dieser abgesunkenen Erinnerungen erkannt, die in der oben beschriebenen Weise ins Bewusstsein zu heben sind; die zitierte Stelle wird ganz am Schluss wiederholt. Das »schöpferische Vermögen des Auges«, kraft dessen während des Lauschens am Fenster »zwischen dem wachen und dem träumerischen Zustand des Gehirns sich eine Übereinstimmung« herstellt (S.33 f; vgl. S.22), ist keine beglückende Gabe, sondern Anlass zur Furcht; aber in solcher schöpferischer Tätigkeit besteht die einzige Möglichkeit, dem Sog des Flussrauschens zu widerstehen, der den Reflektierenden mitsamt dem Fensterrahmen und dem Zimmer hinter ihm mitzureissen droht, (vgl. S.34) Das Spiel endet am selben Punkt, wo es angefangen hat; es könnte von vorne beginnen, was sich wie bei Bichsel im letzten Wort ausdrückt: »und« (S.34).

Im übrigen konzentriert sich das akustische Spiel mit Stimmen auf die direkte Umsetzung des im Moment Wahrgenommenen in Sprache. Wichtig ist dabei der »Tonfall, Rhythmus, das Spezifische der Sprachen, das nicht zu übersetzen ist, die verschiedenen Sprachgewohnheiten und ihre Entsprechung in den Denk- und Lebensgewohnhei- ten«. (408) In diesem Bestreben stimmt Erica Pedrettis Hörspiel mit der allgemeinen Tendenz zur Reproduktion von gebrauchter Sprache im experimentellen Sprachspiel überein. (409) Doch ist die Kritik des alltäglichen Geredes nur von sekundärer Bedeutung, Dass in dem Geplauder der Badegäste über sieben Runden, entsprechend den sieben Tagen eines einwöchigen Kuraufenthalts, fast nur scheinbar Harmloses zur Sprache kommt, deckt sich mit dem Titel von Erica Pedrettis erstem Buch; wie dieses zeigt aber auch das Hörspiel anhand der männlichen Hauptfigur, dass dahinter unheilbares Leiden, Angst und Isolation stehen. Aber auch die übrigen Figuren assoziieren zur Vorstellung von »Reiseberichten« ohne weiteres jene von »Kriegsberichten«, und von den Tagesnachrichten« zur Rubrik »Unglücksfälle« ist es nur ein kleiner Schritt. (S.20) Das Harmlose »erweist sich als Illusion, der Wunsch danach als so dringlich wie vergeblich«. (410) Im Vergleich zum erzählenden Text, der das Illusionäre des Wunsches nach Harmlosem auch inhaltlich durch stetes Abgleiten in die Sphäre des Bedrohlichen aufzeigt, bleibt aber das Hörspiel beharrlicher an der Oberfläche und weist beim ersten Hinhören vor allem durch die Auffälligkeit dieses Bemühens und durch die artifizielle Form der Komposition auf die Brüchigkeit dieser Oberfläche hin. Aus den Ritzen zwischen den Sprachfragmenten dringt das Unheimliche, das nicht in Worte zu übersetzen ist, wie in Mons Hörstück »das gras wies wächst« (411) , das nur zu ertragen ist, wenn man es »als Musik betrachtet«; die Autorin schreibt: »Es interessieren mich die Zwischenräume, was nicht zu benennen ist, zwischen den Erscheinungen oder zwischen einer Handlung und der nächsten.« (412) Darin zeigt sich eine tiefe Übereinstimmung mit »Why, Arizona« von Adolf Muschg und mit Peter Bichsels »Inhaltsangabe der Langeweile«.

Wie in »Harmloses, bitte« hat die Evokation erlebter Situationen mehr »mit räumlichen als mit zeitlichen Kategorien« zu tun (413), werden vor allem Umgebungen, Orte genau beschrieben, während der zeitliche Ablauf indirekt etwa durch sieben Abschnitte angedeutet wird, deren Beginn wie gezeigt mit Begrüssungszeremonien gekennzeichnet ist. In der Mitte des Spieles rezitiert die männliche Stimme (Er): »die Empfindungen des Raumes und der Zeit waren beide mächtig erregt« (S.20 f) und zeigt sich vor allem beunruhigt durch »die ungeheure Ausdehnung der Zeit«; bezeichnenderweise werden Erinnerungen an längst Vergangenes, die in der Turnstunde heraufdämmern: an die Verbindung von Turnen und Politik, an nationales Engagement der Turner und militärischen Gleichschritt (vgl. S.29 f) von der Turnlehrerin, vom Bademeister und von einem älteren Kurgast mittels Lokaladverbien zurückgewiesen: »nein das gibt es hier ja gar nicht / das gehört nicht hierher / hier gibt es das nicht« (S.29); die Reminiszenz: »da war Turnen noch mit Politik verbunden« wird dagegen durch ein Adverb mit sowohl lokaler als auch temporaler Bedeutung eingeleitet. Diese Stelle macht deutlich, wie sehr die zeitliche Dimension als Bedrohung empfunden wird und wie die meisten Stimmen versuchen, das Bedrohende durch die Bindung an räumliche Ausdehnung zu bannen, zu verharmlosen. Über räumliche Verhältnisse wird aber nicht nur gesprochen, sie werden vor allem durch Stereophonie ausgedrückt, die nun, wie Mon gefordert hat, als »syntaktisches mittel« zur Positionierung von Stimmen mit der »syntax der zeitverläufe in beziehung« tritt. (414) Im Unterschied zu den meisten bundesdeutschen Produktionen, etwa von Max Bense und Ludwig Harig, von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, von Franz Mon oder Wolf Wondratschek416, legte Erica Pedretti die Positionen der Stimmen im Hörraum nicht fest, sondern beschränkte sich auf die exakte Notierung des zeitlichen Rhythmus von deren Nach- und Miteinander; die Ursendung und auch die erste Wiederholung musste in Mono erfolgen, doch war ab 1974 immerhin die Stereo-Aufzeichnung auf Kassette im Handel erhältlich. Auch in der Gestaltung der Raumakustik liess die Autorin dem Regisseur freie Hand, was Joseph Scheidegger etwa dazu nutzte, den Bademeister aus einem Raum mit viel Hall sprechen zu lassen und damit von der Gruppe der Kurgäste zu trennen. (2.Teil, S.8 ff) Die Nähe der Sprecher zum Mikrophon hingegen, durch welche äusseres Sprechen und innerer Monolog differenziert werden, ist im Manuskript bereits festgelegt.

In ihrem Kurzhörspiel »Catch as Katz can« hat Erica Pedretti den Monolog eines Sprechers in bis zu drei sich überlagernde und rhythmisch aufeinander abgestimmte Ebenen aufgespaltet, wie dies in zwei Ebenen bereits im ersten und im letzten Teil von »Badekur« angelegt ist. Diese Form des Monologs hat auch Markus Imboden in seinem Sprachspiel »angenadelt« (DRS-2, 25.10.83) verwendet, um in einer Art fünfstimmiger Sprechpartitur die seelischen Nöte eines erfolgreichen Pianisten zu gestalten; die Mittel der Darstellung stimmen in diesem Fall besonders gut mit dem Thema überein, doch ist eine formale Weiterentwicklung nicht festzustellen.

 

 

(402) Pulver, 1974, S.355
(403) Keckeis, 1973, S.48 f; weder im Text noch im Quellenverzeichnis (S.119) wird auf die Schweizer Ursendung von 1970 verwiesen.
(404) P.Pörtner, Keine Experimente mehr? Überlegungen zum Neuen Hörspiel, in: Schöning, 1982, S.268; Pörtner fahrt fort: »Aber wie gereinigt, formalisiert das Geräusch auch sein mag, es bleibt vom Material her Geräusch: Rauschen.«
(405) Das verfremdete Klingeln eines Telefons (S.3 f) bildet die einzige Ausnahme.
(406) E.Pedretti, Badekur, in: r+f 5/70, S.71
(407) E.Pulver, Erica Pedretti, 39.Nlg. (1991), S.2, in: Arnold, 1978
(408) E.Pedretti, a.a.O.
(409) vgl. Lermen, 1975, S.169
(410) E.Pulver, a.a.O., S.3
(411) vgl. H.Vormweg, Dokumente und Collagen, in: Schöning, 1970, S.161
(412) E.Pedretti, a.a.O.
(413) E.Pulver, a.a.O., S.2
(414) F.Mon, bemerkungen zur Stereophonie, in: Schöning, 1970, S.126

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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