Beat Ramseyer, »D'Helena vo Lampers. Eine Komödie in berndeutscher Umgangssprache« (1974)
Typoskript

 

Im Auftrag der Abteilung »Dramatik« entstand »D'Helena vo Lampers. Eine Komödie in berndeutscher Umgangssprache« (DRS-1, 3.11.83) von Beat Ramseyer. Wie in »König Meier« spielt in diesem Hörspiel nebst der Hauptfigur ein Kollektiv, hier eine Dorfgemeinschaft, eine wichtige Rolle. Mit Eschlers Hörspiel ist es durch die Hauptfigur, eine in gewissem Sinne »widerspenstige« junge Frau, verbunden, deren Bedeutung in diesem Fall durch den Titel unterstrichen wird. Von beiden zuvor behandelten Produktionen unterscheidet sich diese durch einen starken utopischen Grundzug, welcher dem »Prinzip Hoffnung« verpflichtet ist. Komik resultiert hier wesentlich daraus, dass die Lamperser Bürger sich nur zum Schein solidarisch verhalten und damit eine konventionelles Denken transzendierende Norm verfehlen, welche von der Hauptperson Helena gesetzt wird.

Das Spiel beginnt mit der Einfahrt des Zuges auf dem Bahnhof von Lampers. Helena, die neue Serviertochter, steigt aus und wird von Susanne, der Wirtin des »Schtärne«, abgeholt. Schon während des ersten Gesprächs auf der Fahrt zum Wirtshaus erhält Helena den gutgemeinten Rat, sich vor den Lampersern am besten von Anfang an in acht zu nehmen. Helena wird von den Gästen sofort angenommen und bewirkt mit ihrem heiteren, freundlichen Wesen sogar, dass der Umsatz merklich ansteigt. Aus einem Streit des Wirtsehepaars wird aber klar, dass selbst diese erfreuliche Wendung den finanziellen Ruin nicht abwenden kann: Der bis anhin schlechte Geschäftsgang hat Schulden auflaufen lassen, die nur durch die Ablösung der zweiten Hypothek im Wert von Fr.50’000.- getilgt werden können. Die Beziehung zwischen den Ehepartnern wird nebst diesen Sorgen durch Eifersucht belastet, da Susanne sich gerne zu einem Gläschen mit Karl, dem Chorleiter, genannt »Carusokäru«, zusammensetzt. Die Einwohner des Dorfes sind im Spiel hauptsächlich durch die Mitglieder des gemischten Chores vertreten, welche in akustisch ergiebigen Szenen beim Proben und beim jeweils anschliessenden Kegeln vorgestellt werden. Dass der »Schtärne« abgerissen werden soll, da der Wirt die Forderungen der Bank nicht erfüllen kann, schlägt unter ihnen wie eine Bombe ein. Auf den Schock folgt eine erste Reaktion: »Wenn dr Schtärne verschwindet, geit das üs au öppis a, ganz Lampers, quasi.« (S.13) Aus den Reihen des gemischten Chores bildet sich ein Krisenstab »pro Sternen«, der alsbald seine Aktivitäten aufnimmt.

Dass Helena das Problem nicht »in Globo« (S.14) betrachtet, sondern im ersten Moment an einzelne wie Tobias, das Dorforiginal, denkt, die mit dem »Schtärne« ein für sie besonders wichtiges Stück Geborgenheit verlieren würden, wirft ein Schlaglicht auf den Charakter der jungen Frau. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich am liebsten mit Daniel, dem elfjährigen blinden Sohn von Franz, dem Präsidenten des gemischten Chors und Besitzer des Vege-Ladens. Sie schafft es spielend, das Selbstvertrauen des Jungen, der von seiner Umgebung zuwenig Anregung erhält, zu stärken und ihm sogar seine Angst vor dem Wasser zu nehmen. Von ihm vernimmt sie, dass die Leute im Laden über ihr angebliches Verhältnis mit Karl, dem Chordirigenten, tratschen. »Weisch Dani,« erwidert Helena, »i cha scho uf mi säuber uufpasse, und was d Lüüt rede, isch mir gliich. Uf z Greed söu me nid goo, das isch gfährlecher aus d Scheume und het scho meh Lüüt uf em Gwüsse aus d Pescht!« (S.37) Als Helena gegenüber Karl äus- sert, sie nehme sich des Jungen einfach gern an, meint dieser: »Uf das chunnts nid aa, z Lampers, was me gärn macht.« (S.28)

Unterdessen hat das Komitee zur Rettung des »Sternen« erste Schritte unternommen. Vorschläge zur Überreichung einer Petition an die Bank sowie zur Einschaltung des Heimatschutzes werden erwogen, erweisen sich aber als untauglich. Das Dorf als Ganzes soll bei der Hilfsaktion einbezogen werden. Karl äussert scherzhaft den Vorschlag, man könnte Helena, die sich schon als Serviertochter als »ä Guldvogu für e Schtärne« (S.31) erwiesen hat, »versteigern«. Die Idee wird weiterverfolgt, und man wird sich einig, die »gute Fee von Lampers« (S.26) mitsamt einem Sessel auf einer Balkenwaage mit Fünflibern aufwiegen zu lassen. Ein richtiges Volksfest mit Festhalle, Lunapark, Schiessbuden und allen möglichen Vereinsveranstaltungen soll dem Anlass das nötige Gewicht verleihen. Für die Organisation stellt sich Franz zur Verfügung, der es sogar fertigbringt, das Fernsehen für die Sache zu interessieren. Otto, der Gemeindepräsident, erwirkt das Einverständnis der Exekutive. Die Lamperser stehen plötzlich zusammen wie ein Mann und entwickeln einen Feuereifer, zumal seit publik wurde, dass eine Fernsehübertragung stattfinden soll. Doch es brechen auch Konflikte auf, die schon lange unter der Oberfläche geschwelt haben. Susanne, die von Anfang an gegen die »Versteigerung« Stellung bezogen hatte, wendet sich an der letzten Versammlung vor dem Fest massiv gegen das Vorhaben: »Das ganze Züg isch doch scho lang nümm das, was es eigentlich hät söue wärde: Ä Rettigsaktion für üs, jede wo so schtosst a däm Chare, gseht doch nume sis Bier, und mir isches z wider, z Deckmänteli für au das Gschtürm z sii.« (S.49) Ihr wird per Ordnungsantrag das Wort abgeschnitten. Dennoch lässt sich nicht verhindern, dass nun die Diskussion zu einem heiklen Punkt abschweift. Es stellt sich heraus, dass der Gemeindepräsident Franz vor zwei Jahren eine Bewilligung zum Verkauf von Bier erteilt hat, obwohl diese bis dato nicht von der Alkoholverwaltung bestätigt ist; auf diese rechtswidrige Konkurrenz führt der Sternenwirt seinen starken Umsatzrückgang zurück. Ein handfester Streit entsteht deswegen unter den Mitgliedern des Organisationskomitees.

Helena, die bei all diesen Vorbereitungen im Hintergrund steht, serviert am Vortag des Festes Tobias sein Mittagessen. Durch das offene Wirtshausfenster sind die Anweisungen des Regisseurs zu hören, der mit seinem Fernsehteam die Liveübertragung probt. Tobias vermisst seinen Zweier Roten, doch der Wirt hat verboten, ihm Alkohol auszuschenken. Er war es gewesen, der in einer der Versammlungen den Gemeindepräsidenten wegen der »Bieraffäre« angegriffen hatte und von diesem, angeblich wegen Trunkenheit, aus dem Saal gewiesen wurde. In der folgenden, der zweitletzten Szene hat der kauzige Einzelgänger seinen ersten Auftritt im Hörspiel:

»H [Helena]: Hätsch gschiider nüüt gseit, ar Versammlig.
T [Tobias]: I säge ar Versammlig, was ig wott, und das isch d Wahrheit.
H: Äbe.
T: Was äbe?
H: Drum si si äuä so toube worde.
T: Und du, bisch du ou toube?
H: I bi ömu ke Chue, Tobias!
T: Wiso losch di de Io verchoufe wi eini?
H: Das verschteisch du äbä nid.
T: Nei.
H: Mi chouft doch niemer richtig, däm seit me symbolisch.
T: Mit de Füüfliber?
H: Die si doch für e Schtärne, wo wettsch de du süsch ässe, he?
T: U de dä wo gwinnt?
H: (ärgerlich) Eh, mit däm tanzeni de haut dr ganz Obe, das isch aues.
T: Äbe, ä Chuehandu.
H: Tobias!
T: Meinsch, die gäbi ihri schöne Föifliber für e Schtärne?
H: Dr Schtärne berchunnt se ömu, oder?
T: Und eine berchunnt di, vor em Fernseh, und aui gsehs. Gisch ihm de ou äs Müntschi, he?
H: Hör doch uf!
T: Dr Karuso Kari sig scho i d Schtadt go Füfliber... (wächsle)
H: (wütend) Das isch doch aues blöds, bösartigs Gschwätz!
T: Äbä.
H: Was?
T: Jetz wirsch verrückt.
H: Wenn du so wiiterfarsch scho, jo!
T: D Wahrheit macht d Lüüt verrückt.
H: Du verdräisch d Wahrheit, Tobias.
T: D Lüüt säge, i sig verdräit.
H: (verzweifelt) Das hani doch gar nie wöue, mit däm Tanze und so...
T: Aber das isch doch dr Priis... dr ersehtP riis, i däm Handu.
H: Ds Fernseh wär jo grad no so gange, jetzt aber mit däm Tanze, das isch... (mer scho nid rächt).
T: Ä höche Priis, gäu?
H: Was söu i de, Tobias?
T: Mir e Zwöier Beaujolais gä!
H: Was?
T: De säge drs, was söusch mache.
H: (lacht amüsiert auf) Du bisch ä Schlaumeier (geht zur Theke, kommt mit einem Glas zurück, schenkt ein)
T: I bi ä verträite Schlaumeier, proscht Helena!
H: Proscht, Tobias.
T: (zufrieden) S het aus sii Priis, z Lampers, Helena.« (S.52 ff)

In der letzten Szene steht Helena mit Daniel am Bahnhof und verabschiedet sich von ihm. Als Geschenk überreicht sie ihm ein kleines Tonbandgerät, mit welchem er ihre Kassettenbriefe anhören und eigene Aufnahmen machen kann, um sie ihr zu schicken. In letzter Minute vor Abfahrt des Zuges kommt Tobias gerannt und überreicht Helena ihren Preis: eine Schleife mit der Aufschrift »Miss Lampers«. Das Fest wird am folgenden Tag stattfinden. Ausser den beiden weiss niemand von Helenas Abreise.

»D’Helena vo Lampers« unterscheidet sich von den beiden zuvor besprochenen Komödien insofern, als die Handlung kaum mit Pointen aufwartet, die zum spontanen Lachen reizen. Abgesehen von einigen lockeren Sprüchen, die zur Ambiance der gehobenen Wirtshausstimmung gehören, beschränkt sich das Spiel auf die humorvolle Zeichnung einzelner Personen und deren Charakterzüge. Nebst dem Mutterwitz des Dorforiginals Tobias verleitet vor allem der verletzbare Künstlerstolz des Amateurmusikers »Caruso- käru« und dessen ständige Rivalität mit dem Praktiker Franz zum Schmunzeln. Drollig wirkt auf den aussenstehenden Hörer auch der Enthusiasmus der Lamperser, der sich mit grösster Selbstverständlichkeit in das Korsett von Traktandenliste und Protokoll zwängt und mit einem dem Resultat widersprechenden Ernst ans Werk geht, obwohl alle wissen, dass die wichtigen Beschlüsse jeweils nach der Polizeistunde, draussen »vor em Schprützehüsli« (S.23) gefasst werden. Einen grotesken Höhepunkt bildet der Vorschlag, Helena symbolisch zu versteigern, und vor allem die Tatsache, dass er fast einhellige Zustimmung findet. Keineswegs komisch sind dagegen die zutage tretenden politischen Machenschaften sowie die von Helena so kritisierte Neigung der Dorfbewohner zur üblen Nachrede. Auch über Helena gibt es nichts zu lachen. Sie wird, obwohl sie den Lampersern samt und sonders moralisch überlegen ist, als eine bescheidene junge Frau dargestellt, die nur durch die Gabe heraussticht, ihre eher durchschnittlichen Fähigkeiten konsequent zum Besten der Mitmenschen zu verwenden. Das Bild einer anderen guten »Fee« aus ferner Zeit, der Gilberte de Courgenay, scheint gelegentlich aufzuleuchten, verflüchtigt sich aber sofort, als deutlich wird, wie diese Flelena fähig ist, aus eigenem Entschluss und wenn nötig gegen den Willen der Mehrheit zu handeln; sie gleicht eben doch eher einer Figur der griechischen Sage als einem christlichen Heiligenbild. Aber auch mit Dürrenmatts alter Dame hat trotz der Bahnhofszenen am Anfang und am Schluss die »Glücksfee« von Lampers nichts zu tun. (176) Dem widerspricht nebst vielem anderem die Unauffälligkeit der »jungen Dame«, die das Dorf besucht; diese drückt sich strukturell darin aus, dass Helenas Stimme in einer grösseren Zahl von Szenen, die insgesamt etwa 40 Prozent des Spielumfangs ausmachen, gar nicht präsent ist. An ihrer Bedeutung als Hauptperson kommt dennoch kein Zweifel auf.

Im Gegensatz zu »König Meier de Tuusigscht« ist in diesem Hörspiel vor allem der Gang der Handlung und insbesondere deren Ausgang das tragende Element der komischen Wirkung. Was sich aus der Sicht der Lamperser als katastrophales Ende ausnehmen muss, wirkt aus der Perspektive des Hörers, der sich mit Helena identifiziert, als glücklicher Ausgang, der desto befreiender wirkt, als eine solche Wendung aufgrund von Helenas scheinbar bedingungsloser Hilfsbereitschaft nicht zu erwarten war. Ein schadenfrohes Lachen über die Geprellten kann niemandem verübelt werden, ist es doch durch Susannes treffende Feststellung gerechtfertigt, der zufolge jeder nur seine eigenen egoistischen Ziele verfolgt. Der Widerspruch partikularer Interessen konvergiert in dem Hauptwiderspruch, dass Bürger, die gegen die Ansprüche einer als anonyme Macht empfundenen Bank kämpfen, sich einer ebenso anonymen Institution, dem Fernsehen, ausliefern, um ihr Ziel zu erreichen. (177) Doch ist die Satire bloss gestreift, nicht ausgespielt. Sie verwirklicht sich in der Phantasie des Hörers, der sich die Bestürzung, Empörung und Blamage ausmalt, wenn beim Fest am folgenden Tag die Hauptattraktion ausfällt. Vorbereitet ist dieser Effekt freilich durch subtile Hinweise auf den zwiespältigen Charakter der Bürger, die es dem Hörer ermöglichen, sich die Reaktionen vorzustellen.

Im Unterschied zu Eschlers Karlini lässt sich Helena nicht einfach in den »Chomet« und vor den Karren einer Sache spannen, die ihr nicht zusagt. Es bedarf auch keines rebellischen Gebahrens, um ihren Anspruch auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Helena emanzipiert sich von einem Vorhaben, mit dessen Form sie nicht mehr einverstanden ist, indem sie sich - nicht ganz ohne fremde Beihilfe - Klarheit über ihre Bedürfnisse verschafft, einen Entschluss fasst und danach handelt. In diesem unspektakulären Akt verwirklicht sich der utopische Sinn der Komödie, der das Hörspiel in klaren Gegensatz zu Eschlers rückwärtsgewandter Utopie wie auch zu Schneiders reiner Satire setzt. Eine weibliche Hauptfigur, die entschieden nein sagt zu einem Unternehmen, durch welches sie zum Objekt degradiert wird, darf sicher als eine - wenn auch bescheidene - Projektion der Hoffnung gelten. Doch ist dies nur als Ansatz einer Utopie der Emanzipation zu werten, der sich in der Negation des bestehenden Zustandes erschöpft, ohne einen besseren Entwurf, und sei es den eines noch so unvollkommenen Wölkenkuckucksheim (178), vorlegen zu können. Dennoch muss betont werden, dass Beat Ramseyer mit seiner Stellungnahme zu dieser Frage einen vorgeschobenen Posten bezogen hat. Helena markiert einen Anfang. In ihrer Freundlichkeit drückt sich eine menschliche Haltung aus, die Frau und Mann umfasst, die dem Ideal der »fraternité« nachstrebt und dieses ein Stück weit verwirklicht; die Solidarität Susannes mit ihrer Untergebenen und in gewissem Sinne sogar Rivalin ist ein konkretes Produkt dieses Strebens. Doch Helena ist bezeichnenderweise Serviertochter. Ihre Aufgabe ist es zu be-dienen, während andere ihre Voten abgeben, Antrag stellen, das Wort erteilen, die Diskussion abbrechen und Beschlüsse fassen.

»Das Wegfahren, die Desertion ist ein Hauptthema, aber nie ist sie als Lösung propagiert worden«, schreibt Martin Schaub, der diesem Thema ein ganzes Kapitel in seiner kritischen Wertung des neuen Schweizer Films seit 1963 widmet. (179) Auch Ramseyers Helena ist eine solche »Deserteurin«, die sich den Plänen ihrer Mitbürger entzieht, ohne damit etwas ändern zu können. Dennoch ist ihr Weggehen alles andere als selbstverständlich. Ihre Schwäche zeigt sich aber deutlich im Vergleich zu einer ihr verwandten Frauengestalt in Hans Peter Treichlers Hörspiel »Tisch vier bis sibe: Personalwieh- nachte« (DRS-1,25.12.87), deren Persönlichkeit ein solches Ausbrechen erübrigt. Die Serviertochter Denise Brügger, Hauptfigur in Treichlers Spiel, in deren Perspektive das Weihnachtsbankett einer Sportartikelfirma dargestellt ist, ruht, ohne überheblich zu wirken, so in sich selbst, dass »Nervosität und Aggressionen der Gäste [...] an ihrer Freundlichkeit« abprallen. (180) Dies scheint allerdings nur möglich zu sein, indem aggressives Verhalten - in gemässigter, kontrollierter Weise - erwidert wird. Am Schluss bildet sich, während die Männer mit ihren Zigarren den Saal verpesten, im Foyer eine Gruppe von Frauen - Personal und Gäste -, die sichtrotz anfänglicher Auseinandersetzungen verstehen und »fasch e gschlossni Gsellschaft« bilden, wie der Chef de Service scherzhaft-naiv feststellt, im gleichen Atemzug das Lob weitergebend, der »Service segg tipptopp gsy.« (S.60) Denise ist im Unterschied zur Ausbrecherin Helena eine Integrationsfigur, die zwischen hoffnungslos in ihren Problemen verstrickten Menschen vermittelt und sogar den alkoholisierten Junior-Chef aus den Fängen seiner blamablen Tischrede rettet: fast ein leibhaftiges Christkind, das unbemerkt die Fäden dieser Weihnachtsfeier in die Hände nimmt. Treichlers »Personalwiehnacht« ist eine positive Utopie, die weiter geht als Ramseyers Wirtshausgeschichte, so weit, dass sie trotz realistischer Dramaturgie mit der gegenwärtigen sozialen Realität kaum vereinbar scheint. Dem Hörspiel fehlt trotz erheiternder Momente die Voraussetzung zur Komödie, weil Denises Sicht Satire nicht zulässt. Das Spiel klingt auch aus, ohne dass irgendeine entscheidende Wende eingetreten wäre.

Helena steht trotz ihrer dienenden Funktion nicht auf der untersten sozialen Stufe in Ramseyers Spiel. Diese ist dem Dorforiginal Tobias Vorbehalten, der von den Bürgern nicht nur, wie Susanne, zum Schweigen gebracht, sondern förmlich aus der Gemeinschaft der Festplaner ausgestossen wird. Das Wirtshaus bedeutet für ihn ein öffentliches Zuhause, was allein Helena anerkennt, die ihm seine Mahlzeiten serviert. Die unprätentiöse Befriedigung dieses Grundbedürfnisses weist auf seine Vorfahren hin, auf Hanswurst, Pickelhäring, Stockfisch, Jack Pudding und Jean Potage, die den Hunger nach einfacher Nahrung im Namen führen (181) und deren »Unbehaustsein - nicht immer freiwillig - zu mehr als nur einer Standesnotwendigkeit wurde: zur Metapher für das menschliche Dasein allgemein, für das ständige Unterwegssein ins Ungewisse, Unvorhersehbare.« (182) Von ihm stammt bezeichnenderweise der Rat, Helena solle Lam- pers den Rücken kehren und ihr Glück anderswo versuchen. Er verdreht angeblich die Wahrheit; doch wenn Lüge sich als Wahrheit gibt, so wird durch die Verdrehung des weisen Narren die tatsächliche Wahrheit offenbar. »S het aus sii Prils, z Lampers« (S.54), so lautet seine Erkenntnis (183): Letzten Endes geht es immer ums Geld. Dass davon auch die Häuser der Behausten abhängen, macht das Spiel deutlich. In Ramseyers neuntem Hörspiel »Wos rouchnet, brönnts« (DRS-1,28.8.88), seiner zweiten Lam- perser Dorfgeschichte, bringt einer durch eine faustdicke, offenkundige Lüge ein Geschäft in Schwung, ohne dies zu wollen; und wieder ist es Tobias, der als einzige aus dem früheren Hörspiel übernommene Figur eine wichtige Nebenrolle spielt. Eine gute Fee fehlt in dieser Komödie; »Wos rouchnet, brönnts« ist eine bittere Satire auf Geldgier und Verlogenheit.

 

(176) vgl. che., Der Besuch der jungen Dame, in: NZZ, 5.11.83
(177) vgl. rri., Die Geschichte einer Dorfwirtschaft. »D’Helena vo Lampers«, Hörspiel von Beat Ramseyer, in: Der Bund, 8.11.83
(178) vgl. W.Hinck, Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie, in: Grimm/Hinck, 1982, S.7; Aristophanes’ Komödie »Die Vögel« wird als Modell vorgestellt, das die Entstehung eines utopischen Staates (Wölkenkuckucksheim) aus einem kritischen, satirischen Motiv und zugleich das Scheitern dieses Zwischanreiches zwischen Himmel und Erde darstellt, worin sich ein »gegenutopischer Zug« ausdrückt.
(179) Schlappner / Schaub, 1987, S.111
(180) H.P.Treichler, Exposé zum Hörspiel »Personalwiehnacht« (Manuskriptarchiv Radio DRS, Studio Zürich)
(181) vgl. Berthold, 1979, S.61
(182) ib., S.63
515
(183) Sie ging in den Titel von Beat Ramseyers nächstem Hörspiel »S’het aues si Priis« (DRS-1,3.2.85) ein; es handelt von einem Milchmann, der sich suspekt macht, weil er die Bewohner einer Neubausiedlung jahrelang gratis mit Milch beliefert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Beat Ramseyer
(Foto: dftg 2008)