Werner Schmidli , »Die Geschichte des Matthias« (1966)
Typoskript

 

Als Beispiel für das »objektiv epische Hörspiel«, das bis heute einen sehr beliebten, wenn auch nicht durch viele überdurchschnittliche Werke hervorragenden Typus darstellt, wird im folgenden »Die Geschichte des Matthias« (DRS-1, 13.8.66) von Werner Schmidli behandelt. Der epische Charakter, der sich schon im Titel verrät, ist auch entstehungsgeschichtlich bedingt, war doch seine »Geschichte« in ihren Grundzügen bereits in der Erzählung »Die Lügen des Matthias« angelegt, die schon vor der Ursendung des Hörspiels in der Basler »National-Zeitung« vorabgedruckt worden war und im Herbst 1966 in Schmidlis erstem Erzählband »Der Junge und die toten Fische« veröffentlicht wurde. (153) Schmidli selbst verstand sich, zumindest in seiner ersten Schaffenszeit, »primär als Epiker« (154) und hatte vor 1966 auch schon Preise für seine Kurzgeschichten erhalten. Er hat bis 1983 vier weitere Hörspiele geschaffen, die teils an die sprachliche Problematik seines Erstlings, teils an dessen soziale Thematik anknüpfen.

»Die Geschichte des Matthias« wird von einem »Erzähler« vorgetragen, der die Spielhandlung sehr häufig unterbricht und dessen Ausführungen etwa ein Drittel des ganzen Textes ausmachen. Der Anfang des Hörspiels wird von heulenden Sirenen, absterbenden Baggermotoren und Krankreischen untermalt:

»Erzähler: Im Sommer hocken sie in der halbstündigen Mittagspause auf selbstgezimmerten Bänken; Rolf, der Vorarbeiter!,] und die Leute seiner Gruppe; im Rücken das Areal sieben mit Schwefelhaufen, Ölfässern und Öltanks, mit den Kranen und Baggern; vor sich den Rhein, öliges Wasser und Lastkähne mit müden Flaggen; und auf der anderen Rheinseite im Strandbad, fliegen bunte Bälle durch die Luft, Wasser spritzt, Kinder kreischen, aus zwei Lautsprechern stöhnen Schlagersänger.
Und Rolf, der Vorarbeiter, hat sich abgewöhnt zu sagen:
Rolf: E so wie die deet äne söt me’s jetzt ha - - -« (S.1)

Die fernen Lautsprecher des Strandbads, die vom Müssiggang der Privilegierten künden, wird als Leitmotiv im Kontrast zu den Hafengeräuschen die Geschichte durchziehen und abschliessen, die nun, nachdem Rolf und seine drei Kollegen eine Zeitlang in Andeutungen darüber geredet haben, in immer weiter zurückgreifenden Rückblenden aufgerollt wird. Den Übergang signalisiert der Erzähler, indem er das Tempus wechselt und fortan bis zu seinen Schlussworten Präteritum verwendet. (S.4) Damit leitet er über zu einer Szene, die zwei Tage vor dem Jetzt-Zeitpunkt anzusetzen ist: Matthias, der Held der Geschichte, versucht seine Kollegen, Rolf und die Hafenarbeiter, mit Geld zu beeindrucken, das er angeblich in der Lotterie gewonnen habe; doch er wird von diesen nur als Angeber verspottet. Die Handlung wird in stetem Wechsel zwischen Erzählerpräsentation und Repräsentation im Dialog der fünf Figuren entwickelt. Einer der Arbeiter gibt dem Erzähler das Stichwort, um noch weiter zurückzublenden:

»Max: ... du wirsch jede Dag besser, sicher, du machsch di ... Die [diese Geschichte] isch no viel besser, als dy Autogschicht ... viel besser! Du hätsch sötte Conférencier wärde ...
(laut meckernd)
Erzähler: Die Autogeschichte ... ja, der Matthias hatte sich einen Wagen gekauft, Occasion, Jahrgang 1959, fuhr wie ein Graf zwischen Benzin- und Öltanks durch, [...]« (S.6)

Nun wird die »Autogeschichte« erzählt. Die Geschichte des Hochstaplers Matthias, so zeigt sich schon hier, ist unspektakulär, obwohl sie zu einem Mord führt, dient nur dazu, das Verhalten einer Gruppe von Arbeitern gegenüber einem Aussenselter bis ins sprachliche Detail auszuleuchten. Matthias verlor seine Glaubwürdigkeit endgültig, als durch Zufall bekannt wurde, dass sein Amerikanerwagen nur gemietet war. Für die Art der epischen Präsentation in diesem Hörspiel kennzeichnend ist der Kommentar des Erzählers an dieser Stelle:

»Benno: [...] mer rede so mitenand, und doo seit er [der Garagist] mer denn, dä blau Studebaker sig nit zverkaufe, das sig e Mietwage und ebe schiints sid zweiehalb Wuche an e gwüsse Matthias Hofbauer vermietet- - - -
Erzähler: Alles nur Fassade ... eine Hauswand ohne etwas dahinter, alles nur Mache. Angeberei.
Rolf: (schnell wie oben) Blöff...! Wie sini gwölbti Bruschttäsche jetzt wider, won’es dicks Portmone stecke soll- (kurzes, überlegenes Lachen)
Erzähler: Sie lachen ihn aus mit zufriedener Schadenfreude. Matthias, klein und weiss, das verlegene Gesicht eines hilflosen Lügners, Matthias mit den viel zu grossen Händen, die so gar nicht zu seinem Körper passten.« (S.9)

Im Präteritum des Verbs »passen« drückt sich die auktoriale Distanz in versteckter Form aus; damit ist angedeutet, was der Hörer noch nicht weiss, dass nämlich Matthias im Jetzt-Zeitpunkt des Erzählens bereits tot ist. In seinem ersten Kommentar nimmt der Erzähler die Sprache seiner Figuren auf, nur zum Schein sie bestätigend, in Wirklichkeit sie bloss nachahmend. Die nötige Distanz schafft hier sein »Schriftdeutsch«, das sich vom Dialekt der meisten Figuren des Spiels abhebt; als Bindeglied dient Morlock, der als »Fremdarbeiter« ein dialektal nicht spezifiziertes Hochdeutsch spricht; vom Vorarbeiter Rolf, dem einzigen Zürcher, unterscheiden sich Matthias und die übrigen Arbeiter durch ihr Baseldeutsch. Die Vorbehalte des Erzählers gegenüber dem Verhalten der Arbeitskollegen und sein Verständnis für die Hauptfigur Matthias drückt sich deutlich in seinem zweiten Kommentar im obigen Zitat aus. Doch die »Autogeschichte« war nicht Matthias' erster gescheiterter Versuch, den Respekt und die Bewunderung seiner Kollegen zu erlangen. Zu einer früheren Episode wird direkt aus einer Spielszene der zweiten Zeitebene zurückgeblendet. Rolf erzählt dem »Neuen«, der eben erst der Gruppe zugeteilt worden ist und die Vorgeschichte noch nicht kennt, wie er mit den Kollegen in einer etwas zwielichtigen Taverne gesessen sei, als Matthias das Lokal betreten und sich zu einer kastanienbraunen Schönen mit langen Beinen und toupierter Frisur gesetzt habe:

»Rolf: [...] Mir hinder däm Holzwändli, wo die beede Tisch vonenand trennt, spitzed d'Ohre (Kneipenlärm mit Orchester)
Matthias: Kaim wünsch ich, was ich mitgmacht ha, Lydia. Kaim! [...]« (S.13)

Die angeblich respektable Freundin hat sich damit als Halbweltdame entpuppt, der Matthias unter anderem vorspiegelt, er sei Hafeninspektor. Die Kollegen machen sich ein Vergnügen aus seiner Entlarvung. Eine andere Lügengeschichte, an der einer von ihnen aus Mitleid sogar mitgewirkt hat, wird nur im Gespräch erwähnt. Als Matthias nach all diesen Niederlagen einen Lotteriegewinn von 17’000 Franken vorweisen kann, bleibt nur sein Intimfeind Rolf skeptisch. Die anderen Arbeiter und vor allem der Neue lassen sich durch seinen fingierten Beleg täuschen und vereinbaren schon ein Fest auf Kosten des Gewinners. Es kommt zum Streit zwischen Rolf und dem Neuen, der schliesslich mit der Verstossung des Neuen aus der Gruppe endet. Das dramatische Ende der Geschichte wird vom Erzähler berichtet: Matthias’ Leiche wurde noch am selben Abend gefunden; das Tatwerkzeug, ein schwerer Schraubenschlüssel, wie der Neue ihn stets mit sich getragen hatte, lag in geringer Entfernung, und der ganze Platz war übersät von einseitig bedruckten Hunderternoten aus einer Werbekampagne. Matthias ist das Opfer seiner letzten Lügengeschichte geworden. Der Blick des Toten scheint »Erstaunen« und »ungläubige, unwirkliche Freude« (S.25) auszudrücken; sein erster Erfolg ist aber mit der Schuld verbunden, einen Kollegen zum Verbrecher gemacht zu haben. Der Schluss spielt wieder in der Gegenwart. Der Erzähler verbirgt seine Deutung von Rolfs Husten in der scheinbar neutralen Schilderung der Situation, und auch dessen Überreaktion auf die Bemerkung von Morlock, dem Deutschen, lässt nur indirekt auf seine Schuldgefühle schliessen.

»Erzähler: Nicht einer lacht mehr, sie nicken nur vor sich hin, und Rolf kaut selbstvergessen auf irgendetwas herum, kaut und kaut und hustet, und gibt dem Schwefelstaub die Schuld.
Morlock: Der Kranführer sagte, er hätte zuerst noch gedacht: Da hat ihn einer umgelegt und lässt die Menge Geld liegen - -
Rolf: Morlock..! Gottverdammi, hör ändli uf demit. du...du Huere Usländerschnur- re... hör doch uf!« (S.25)

Der Ausbruch von Hass gegen den Ausländer Morlock entpuppt sich hier deutlich als Kompensation schwerer Schuldgefühle. Im Gegensatz zwischen diesen beiden Figuren ist der Kern von Schmidlis Beschreibung der Dynamik einer Arbeitergruppe angelegt. Dem Wortführer Rolf, der auf seinem Urteil beharrt: »Blöffer mues me fertig mache, suscht bilde sich die no i, di andere seiged alli tummi Sieche« (S.15), steht Morlock als Zweitunterster in der Rangordnung gegenüber. Im Unterschied zu Matthias, der sich in seiner kindlichen Ichbezogenheit gar nicht anzupassen versteht, sieht er, wenn die anderen das Thema »Fremdarbeiter« anschneiden, »einfach auf die Seite oder muss schnell aufs Häuschen. Oder geht nach Hause, wenn sie nicht damit aufhören.« (S.4) Seine Einsicht, dass sich hinter dem notorischen Lügner ein schwacher, unsicherer, um nichts als ein bisschen Erfolg und Anerkennung kämpfender Mensch verbirgt, teilt auch Rolf, der Matthias als »Kompläxhuufe« brandmarkt und auf die Frage nach der Ursache die Antwort formuliert: »Will er sich ewigs öbbis muess vormache, sich und eus ... de Spinner!« (S.22) Aber als Vorarbeiter und Wortführer meint er den Schwächlingen entgegenzutreten und eine Position der Stärke markieren zu müssen. Als am Schluss die Frage nach der Schuld trotz allem Bemühen nicht mehr zu umgehen ist, bringt er Morlock fluchend zum Schweigen: »[...] du häsch schliessli au de Plausch dra gha ... wie mir alli... alli... mir alli..! Gottverdammi!« (S.26)

Morlock ist der einzige, der wiederholt Ansätze macht, über das Problem Matthias zu reden, während die anderen Arbeiter sich als willfährige Mitläufer des Chefs erweisen. »Die Geschichte des Matthias« zeigt, wie nebst dem ganz und gar Fremdartigen der Ausländer zum Sündenbock gemacht wird. Und sie zeigt dies nicht von ungefähr am extremen Beispiel des »Wundergschichteverzellers« (S.11) und Phantasten Matthias. Seinem Gegenspieler Rolf fehlen die Worte, die nötig wären, um einen solchen Konflikt zu lösen oder die Schuld, die zu neuer Aggression führt, zu bewältigen. Morlocks Vermittlungsbemühungen bleiben angesichts solcher Wortlosigkeit hilflose Versuche, die überdies auf halben Weg stehenbleiben. Im Kontrast zwischen diesen beiden Figuren drückt sich ein Grundproblem des Autors selbst aus, der »anfänglich so sehr in seiner Mundart verwurzelt [war], dass sie ihm jede Unmittelbarkeit im schriftstellerischen Ausdruck verwehrte.« (155) Die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis zwischen Dialekt und Standardsprache, die In diesem Spiel ihren Anfang mit verteilten Rollen nimmt, wird in den folgenden beiden Hörspielen von Werner Schmidli auf der Ebene der »Fremdsprache« Hochdeutsch fortgesetzt: Sowohl »Redensarten« (DRS-2, 3.2.69) wie auch »Von Mensch zu Mensch« (DRS-2, 3.1.72) zeigen in Scheindialogen, die aus der sozialen Realität abgelauschten Redensarten bestehen, »die Tauglichkeit und Untauglichkeit unserer Sprache als Kommunikationsmittel« (156); Thema ist also gleichermassen der Notstand, der für »Die Geschichte des Matthias« bestimmend ist, wie auch das Eigenleben, das vorgeformten »Sprachkadavern« trotz ihrer Leere innewohnt. Insofern steckt in diesem sehr konventionellen epischen Hörspiel der Ansatz zu einem sprachexperimentellen Hörspiel, dessen typologische Charakteristik im Kapitel 4.42 besprochen wird.

Der Erzähler in Schmidlis Hörspiel ist zwar allwissend, was den Gang und Ausgang der Geschichte anbelangt, aber er verbirgt dies und stellt sich auf die Ebene des Geschehens, indem er etwa die Sprache seiner Figuren imitiert und sich von ihnen den Einsatz zum Weitererzählen geben lässt. Seine Bemerkungen zur Einstellung und zum Handeln der Figuren sind zurückhaltend, seine Meinung verbirgt er ebenso wie Rolf seine wahren Gefühle, und das letzte Wort überlässt er dem Vorarbeiter. Seine abschliessende Beschreibung der Arbeiter, die schaufeln, »als wollten sie sich müde machen absichtlich oder etwas loswerden« (S.26), gibt sich als blosse Vermutung; doch an anderen Stellen wird deutlich, dass er Einblick in das Fühlen und Denken seiner Figuren hat. Diese spezifische Form des objektiv epischen Hörspiels entspricht der Situation eines Autors, der selbst aus einer Arbeiterfamilie hervorgegangen ist und sich der Arbeiterklasse zugehörig fühlt, der aber dennoch versucht, diese Klasse nicht nur von innen und in ihrer Sprache, sondern aus einer gewissen Distanz zu beschreiben. Im letztlich doch auktorialen Erzähler dieses Hörspiels offenbart sich die Schwierigkeit eines solchen Versuchs, der in den zwei folgenden Hörspielen durch die verfremdende Übertragung in die Standardsprache begegnet wird. Auch in dramaturgischer Hinsicht zeigt sich in diesem Hörspiel also, dass der traditionelle Typus des epischen Hörspiels der Aufgabe nicht gerecht zu werden vermag, die sich ein junger Autor gestellt hat; das Ausweichen auf einen experimentellen Typus erscheint von daher als konsequente Reaktion auf einen strukturellen typologischen Mangel.

 

(153) vgl. Anonym, Illusion und Wirklichkeit. Hörspiele von jungen Schweizer Autoren, in: r+f 31/66, S.6; Werner Schmidli, Die Lügen des Matthias, in: Der Junge und die toten Fische, Einsiedeln/Zürich/Köln (Benziger) 1966, S.95 ff
(154). R.BIum, «Dramatik spielt sich im Alltag ab«. Werner Schmidli und seine Hörszenen »Von Mensch zu Mensch«, in: r+f 53/71, S.71
(155) G.Wiederkehr, Werner Schmidli: Redensarten. Auseinandersetzungen für zwei oder mehrere Personen, in: r+f 5/69, S.73
(156) R.BIum, a.a.O., S.71

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Werner Schmidli
(Foto: Peter Friedli)