Gerold Späth, »Heisser Sonntag« (1971) / »Heisse Sunntig« (1978) / »Mein Besuch im Städtchen am See« (1986)
Typoskripte

 

Gerold Späth ist einer der produktivsten unter den langjährigen »Hausautoren« von Radio DRS. In zwanzig Jahren wurden von ihm in der Schweiz nicht weniger als vierzehn Originalhörspiele produziert, die hier der grossen Zahl wegen nicht alle genannt werden können. Eines seiner letzten, vielleicht sein bestes, wäre beinahe nicht gesendet worden, da der Autor seinen Beitrag »Lasst hören aus alter Zeit« (DRS-1,23.12.90) aus Protest gegen die Haltung des Bundesrates zur »Fichen-Affäre« zurückziehen und damit das Jubiläumsprogramm zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft boykottieren wollte. In diesem Kapitel werden sein Hörspiel-Erstling »Heisser Sonntag« (DRS-2, 30.12.71) sowie die schweizerdeutsche Version »Heisse Sunntig« (DRS-2, 10.6.78) besprochen und mit der späteren Arbeit »Mein Besuch im Städtchen am See« (DRS-1, 10.6.86) verglichen, die dasselbe Thema auf neue Art gestaltet. Anhand dieser Reihe lässt sich verfolgen, wie aus einem ursprünglich rein epischen Text durch geringfügige Bearbeitung ein hochdeutsches Hörspiel wurde, das sich durch Übertragung ins Schweizerdeutsche und durch stärkere Anpassung an die Bedingungen des Mediums erst zu einem wirklichen Originalhörspiel entwickelte; im Zentrum der Untersuchung steht deshalb »Heisse Sunntig«, Gerold Späths einziges Dialekthörspiel. Vor diesem Hintergrund hebt sich »Mein Besuch im Städtchen am See« als hochdeutsche Neufassung aus der Sicht von 1986 besonders deutlich ab.

Der 1969 erstmals unter dem Titel »Helsser Sonntag. Reminiszenzen« (202) auszugsweise veröffentlichte Erzähltext war ursprünglich als Kapitel des Roman-Erstlings »Unschlecht« konzipiert, das die geographische Situation hätte umreissen sollen; da es sich aber zeigte, dass dies durch das erste Kapitel bereits weitgehend geleistet wird, fand es im Roman keine Aufnahme. (203) Als Späth das Kapitel im Januar 1971 nochmals durchlas, stellte er fest, »dass es voller Stimmen ist«, und beschloss, es als Hörspiel zu bearbeiten. Die linke Spalte des folgenden Textvergleichs gibt den Anfang der Erzählung wieder, die bis auf die eingeklammerten Teile genau dem Anfang des Hörspiels von 1971 entspricht; die weitergehenden Veränderungen, die in der rechten Spalte zu beobachten sind, werden weiter unten bei der Analyse der Dialektversion von 1978 besprochen.

In der um die eingeklammerten Passagen gekürzten hochdeutschen Hörspielfassung folgt auf diese Einleitung durch den Erzähler eine Spielszene, die zweimal durch die Fortsetzung der Erzählung unterbrochen wird; der Dialog und die Personen sind neu, greifen aber das Motiv der Spaziergänger vor dem Hirschgehege auf. So erweist sich das ganze Hörspiel als wörtliche Übernahme grosser Teile des Erzähltextes, die erweitert und ausgestaltet werden durch die Dialoge von über sechzig Stimmen von Einheimischen und Sonntagsausflüglern. Ihnen steht als wichtigste Figur der Erzähler gegenüber, der nach der Vorstellung des Autors ein »Heimkehrer« sein kann, »jedenfalls einer, der sich hier auskennt.« (206) Er durchstreift während des Nachmittags und Abends bis nach Mitternacht das Städtchen und dessen nähere Umgebung und »schnappt hier und dort etwas auf«, indem er sich teils wie ein Passant unter das Volk mischt, so etwa in der folgenden Szene, welche dem Wortlaut der Erzählung gegenübergestellt wird.

Dieser Vergleich zeigt, dass auch die in der Erzählung bereits vorhandenen Dialoge weitgehend unverändert übernommen und durch redundante Teile gedehnt wurden. Dem Erzähler fällt die Aufgabe der Verknüpfung und Redeanführung zu. Das Hörspiel unterscheidet sich also - abgesehen von der akustischen Ambiance - im wesentlichen nur durch das stärkere Hervortreten des Erzählers und durch die Illustration mittels zahlreicher Stimmen von dem in Buchform veröffentlichten epischen Text. Der epische Charakter wird durch einzelne Erzählpassagen von mehr als einer Druckseite Länge betont; in der stimmungsvollen Schilderung des heraufziehenden Gewitters etwa stützt sich das Hörspiel ganz auf die Vorlage ab. Auch im Hinblick auf den Aufbau des gesamten Textes wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Dieser stellt in ähnlicher Art wie Bönis Hörspiel »Der Radfahrer« einen halben Tageszyklus dar, dessen Kreisform im vorliegenden Fall durch die spiegelsymmetrische Anordnung einer Anzahl von sich entsprechenden »Bildern« mit denselben Personen besonders unterstrichen wird; die Mitte nimmt eine Reihe von Einzelszenen ein, unter denen ein Bootsunfall am späteren Nachmittag und der Tod einer alten Frau im Bürgerspital am meisten herausstechen. Die Reihenfolge der »Bilder« ist in der hochdeutschen Hörspielfassung gleich wie in der Erzählung; zwei kurze Abschnitte fehlen; zwei Szenen sind neu hinzugekommen, und drei Dialoge bzw. Monologe wurden beträchtlich erweitert. Die Struktur wird auch in der Mundartversion von 1978 nicht wesentlich verändert.

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Vergleicht man den Anfang von »Heisse Sunntig« mit der hochdeutschen Vorlage von 1971, so wird sofort klar, dass Späth den Text nicht bloss Wort für Wort übertragen hat. Als erstes fällt eine starke Tendenz zur Reduktion auf. Die Kohärenz wurde gelockert, Prädikate sind weggefallen, die Satzfragmente und Kurzsätze lassen eine Reihe von nominalen Stichworten hervortreten: »Hüser am See« - »Bilderbuechstettli« - »Hochsummer« - »Sunntig«; das Prinzip wird in dem aus allen syntaktischen Bindungen herausgelösten Ausdruck »Vercheerschnotepunkt« nur am deutlichsten fassbar. Der so stellenweise auf sein sprachliches Skelett reduzierte Text wirkt im Vergleich mit der ursprünglichen Fassung impressionistisch-pointillistisch wie das Panoramaspiel als Gesamtform. Verschwunden sind preziöse Metaphern wie: »die Sonne drückt Hitze drauf, heissen Siegellack«, gesuchte Figuren wie der »Dunst voll Ruch von See« oder der »Modergeruch im efeuverwachsenen Graumauerhof« und Reimspiele wie »frisch rasiert, pomadig frisiert«. Stattdessen heisst es jetzt lakonisch: »D'Sunne schint. Es isch heiss.« Der »Ruch von See und schilfiger Fäulnis und schlammigem Seegras im Brackwasser« ist dem simplen Aussagesatz: »De See schtinkt vo Fisch und Schlamm« gewichen. Und die erlesene Bildlichkeit erkennt sich nicht mehr in dem drolligen Vergleich: »D’Usflügler schwaderet wie Änte uf em See umenand.« Als einzige Metapher hat sich das »Bilderbuechstettli« erhalten. Die stärkere Wirkung dieser knappen, verhaltenen Diktion in der Mundartfassung zeigt sich gerade auch am Schluss. Die ursprüngliche Formulierung: »Der heisse Sonntag hat ausgeschrien« (S.36) lautet nun viel treffender: »De heiss Sunntig hat Rue gää.« (S.71) Und der etwas pathetische elliptische Kommentar des Erzählers zum tschechischen Ausruf »Dawai! Schon vorbei!« mit den Worten: »Huschhusch! Nie mehr! Nie mehr!« (S.36) ist einer schlichten Feststellung gewichen, die geradezu als Motiv des ganzen Spiels gelten könnte: »D’Zit lauft.« (S.72) Man muss sich solche Sätze in der bedächtigen Art von Fred Tanner gesprochen vorstellen, wenn man ihre Wirkung richtig einschätzen will.

Gerold Späth hat seit Mitte der siebziger Jahre eine Reihe von Stücken in seine Mundart, das »Seebuebetütsch«, die »Schprooch, wo d’Lüt jetz grad doo zwüsched em obere und undere Zürisee reded« (208), übertragen und sich zu seinen diesbezüglichen Erfahrungen auch geäussert. Während er die Figuren von Marieluise Fleissers »Der starke Stamm«, von Hauptmanns »Schluck und Jau« oder von Becketts »Warten auf Godot« in seine Landschaft umsiedeln, in sie »hineinkrieche[n] und sie zu verstehen und zu begreifen« versuchen musste, bestand die Aufgabe bei der Bearbeitung von »Heisser Sonntag« darin, die Sprache von wohlvertrauten Figuren auf die Gegend abzustimmen, in der sie beheimatet sind. Es ging also darum, ihren originären mundartlichen »Gestus« herauszuarbeiten. Die zweite Fassung von Späths Hörspiel ist in diesem Sinn eine Art »Heimkehrer« wie die Figur des Erzählers in diesem Spiel. Im Gegenzug zu Kurt Martis Übertragung seiner Gedichte ins Berndeutsche hatte Walter Vogt schon Jahre zuvor sein Kurzhörspiel »T’lnnkwisizioon« (DRS-2, 3.11.69) in Standardsprache übersetzt (DRS-2, 6.11.72), um beide Versionen im Rahmen einer Radio-Gesprächsrunde als Experiment zur Diskussion zu stellen. (209) Innerhalb der Hörspielgeschichte müsste man »Heisse Sunntig« im Kontext entsprechender Bestrebungen von Autoren wie Jörg Steiner, Werner Schmidli, Manfred Schwarz, Walter Matthias Diggelmann und Hanspeter Gschwend sehen, die seit Ende der sechziger Jahre, angeregt und gefördert von Vertretern der Abteilung »Dramatik«, Mundart und Umgangssprache als Mittel zur Gestaltung von aktuellen Problemen im Hörspiel neu entdeckt hatten. Dem lag die etwa von Joseph Scheidegger vertretene Auffassung zugrunde, solche Produktionen nähmen sich in hochdeutscher Sprache »irgendwie -"exotisch"« aus, in der Mundart aber wirke »derselbe Stoff viel dringender und herausfordernder«. (210) Die Problematik des neuen Mundarthörspiels, das wesentlichen Anteil am eigenständigen Charakter des Deutschschweizer Hörspiels hat, zu untersuchen, muss einer separaten Arbeit vorbehalten bleiben; im Rahmen dieses Kapitels kann nur erneut darauf hingewiesen werden.

Im Dialekthörspiel »Heisse Sunntig« ist der Erzähler nicht mehr bloss Vermittler der Bilder, Szenen und Geschichten, sondern mischt sich unter die Figuren wie ein Passant und spricht sie teils als gute Bekannte an. Der oben zitierte Auftritt der Heilsarmee beginnt ohne Überleitung mit dem Vortrag des Offiziers; nach dessen erstem Satz schaltet sich der Erzähler ein und erläutert: »Das isch jetz d'Heilsarmee. Die goot a jedem schöne Sunntig i de Pergola under de Truurwide i Schtelig.« (S.48) Die Ankündigung und Verknüpfung der verschiedenen Stimmen hat er aufgegeben; der Dialog zwischen dem alten Männchen und seinen Zuhörern entwickelt sich nun als selbständige Szene, in die sich der Erzähler als eine Figur unter anderen einmischt mit der Frage: »Wänder en fertigmache?« - »Mir doch nüd«, antwortet darauf eine Frauenstimme. (S.49) Den Hochgebirgsalpinisten Zehnder, der mit seinem Rucksack vor dem Bahnhofbuffet bei einem Bier sitzt, beschreibt er dem Hörer, quasi beseitesprechend, bevor er sich mit der Begrüssung: »Hoi Fritz. Bisch wider i de Berge gsii?« (S.47) zu ihm setzt und ein paar weitere Worte mit ihm wechselt; darauf verfällt er ungeniert wieder ins Beschreiben und Kommentieren, während Zehnder einem anderen Bekannten von seiner letzten Tour vorschwärmt. Die Hauptfigur des Romans »Unschlecht« war 1971 von den Fischern (S.8) und von einem Kellner (S.18) nur erwähnt worden. Die bedeutendste Neuerung der schweizerdeutschen Fassung besteht in der Einfügung eines ganzen Bildes in der Mitte des Spiels, das den Erzähler im Dialog mit dem Bademeister Balz Zapf, der Hauptfigur des 1977 veröffentlichten Romans »Balzapf oder als ich auftauchte«, zeigt. Das weitgereiste enfant terrible, dichterisches Spiegelbild des Autors, wird vom Erzähler - im Unterschied zu Zehnder - per Sie angeredet. Auf dessen Versuche, ihn in ein Gespräch über andere Gestalten zu verwickeln, reagiert er kurzangebunden und schneidet ihm mehrmals das Wort ab. Als der Erzähler eine seiner Bemerkungen nicht versteht und fragt: »Wie meined Si das?« entgegnet er grob: »Ich meine gar nüt. S söll jede e chli mee für sich luege und e chli weniger überal de Latz driihänke. Säb meini. Händ Si no en Wunsch? Wänd Si go bade?« (S.57) Da ein Badegast an der Kasse erscheint, wendet er sich kurzerhand von dem aufdringlichen Fremdling ab, um wieder seiner Arbeit nachzugehen. In dieser Szene wird der ansonsten auktorial über seine Figuren verfügende Hörspiel-Erzähler selbst in der Rolle einer Figur gezeigt, die dem Roman-Erzähler Zapf gegenübergestellt ist und auf dessen ruppiges Verhalten keinen Einfluss hat.

Dieser Wendepunkt, der den Erzähler für einmal aus einer gewissen Distanz zeigt, macht dem Hörer aber gerade bewusst, wie sehr dieser das Spiel dominiert. Hier wird spätestens klar, dass all die Szenen nicht Teile einer nach Objektivität strebenden Reportage sind, sondern ein Panorama von absoluten Stimmen darstellen, das nur dem Bewusstsein des Erzählers entspringen kann. Das wird schon durch teils sprunghafte Ortswechsel deutlich; so wendet sich der Erzähler vom komponierenden Musikus Hofer in der Stadtkirche ohne Überleitung dem Spaziergänger Fritz Schönbächler zu, der soeben im Rütiwald ins Immergrün »brünzlet«. (S.44) Einen ebenso grossen Sprung von einer der Inseln zurück in die Stadt skizziert er immerhin mit ein paar Worten, die aber offensichtlich einen bloss in Gedanken zurückgelegten Weg beschreiben: »Vo de Lützelau quer dur’s Schilf und gradus über’s Wasser: Do chunt me tiräkt is Kapuzinerchloschter.« (S.53) Die folgende Szene, die überdies in einer durch Gitter von der Aussenwelt getrennten Klosterzelle spielt, soll zitiert werden, um sinnfällig zu machen, wie unter Wahrung der bereits in der Erzählung angelegten radiogenen Züge durch die zwei Stufen der Bearbeitung ein Radiokunstwerk von zunehmend subtilerer Wirkung entstanden ist. Auf gleiche Weise wie in der Heilsarmee-Szene wurde auch hier die Vermittlerrolle des Erzählers stark gedämpft. Bis auf die Erzählung zurück gehen aber die Motive des rot in die Zelle überschwappenden Sees und der tanzenden Toradja.

»Hilarius: S Herz ... s Herz ...
Erzähler: De Brueder Hilarius ¡sch de Tuechwäber vo de Kapuziner.
Hilarius: S Herz ...
Erzähler: Uusgmergelet und miteme tünne Bärtli und grosse Fieberauge. Er schtoot am Fänschter vo sinere Zälle.
Hilarius schnauft. S Herz ... s Herz ...
Erzähler: Neimig uf Celebes i de Mission hät er d'Malaria verwütscht oder suscht e so öppis cheibs, und jetz bringt er die Süüch nüme los.
Hilarius: S Herz ...
Erzähler: Er verchrampft sich am Fänschtergitter, chäuet Chinin, de Schweiss lauft em nur e so abe, er zittered ...
Hilarius: S Herz ...
Erzähler: Und glotzt. I de Muulegge hät er grüenliche Schuum. Hütt hät er meini eine vo de schwärere Aafäll.
Hilarius: Durehebe ... dure ...
Erzähler: Chasch em nüd hälfe. Er chlapperet mit de Zääne und chäuet und schläckt immer sini violette Lippe.
Hilarius: S Herz ... s Herz ...
Erzähler: S isch immer s gliich. Er verchrampft sich und verträet d’Auge. De See wirt rot, schtiigt rot, schwappt rot im Brueder Hilarius sini Zäle ...
Hilarius: Durehebe ... s Herz ...
Erzähler: Und de Brueder Hilarius gseet uf eimool alles grau und flach und trüeb, ganz graugrüen, und schtolperet dur sini Zäle und chlappet zäme.
Hilarius stöhnt auf.
Sackt ab, taucht undere imene Schtrudel vo Toratscha, hellbruni halbblutti Heide, wo um es rauchloses Götzefüür umetanzed.
Stimmen im Hintergrund, rhythmische Schreie.
Ringsum überall gfläcketi Schlange. Riisigi Tschungelbäum voll Riiseschlange.
Die Stimmen der tanzenden Toradja kommen nach vorn. Chor der Toradja: E-rua! E-rua! E-rua! E-rua! E-rua! Etc.
Hilarius: Stimmt schwach ein in den Chor der Toradja: E-rua! E-rua! ...E-rua!
Etc. Nach dem Crescendo ein Decrescendo, das gleich von Badelärm überlagert wird.« (S.53 f)

Aus dem früher bloss präsentierenden ist hier ein teilnehmender Erzähler geworden, der dem leidenden Mönch gerne helfen möchte, wenn er nur könnte. Sein Mitleiden äussert sich auch in der Vision, die nicht etwa von Hilarius selbst, sondern vom Erzähler geschildert wird, als ob es seine eigene wäre. Mit dem Ertönen des Toradja-Chores, das die strenge Chronologie des Spiels durchbricht, wird endgültig klar, dass alle Figuren, so wirklichkeitsgetreu sie in ihrer der Wirklichkeit entsprechenden Umgebung erscheinen, Akteure auf der Inneren Bühne des Erzählers und damit nicht minder absolut sind als etwa die Stimme, die den Nachruf auf die verstorbene alte Frau vorwegnimmt, der erst am kommenden Tag in der Zeitung erscheinen wird. (S.59) Die Repräsentierung der Halluzination des Klosterbruders ist ein dramaturgischer Effekt, der dieses Werk deutlich vom »epischen Hörspiel« unterscheidet und es in die Nähe des »Hörspiels der objektivierten Innerlichkeit« und des »Hörspiels der poetischen Realität« rückt. Durch die unmerkliche Überblendung vom Tanz der Eingeborenen zum Lärm der benachbarten Badeanstalt, die in der hochdeutschen Fassung noch nicht vorgesehen war, wird der Kontrast zwischen Innen und Aussen abgeschwächt, was eine Verfeinerung im Sinne der intendierten Wirkung darstellt: Nichts in diesem Spiel ist ja tatsächlich äussere Realität. Der Autor nutzt damit die Suggestivität des illusionistischen Hörspiels, die alle erklingenden Schallereignisse als gleich real erscheinen lässt. Mit dieser Blendendramaturgie, die an mehreren Stellen, auch in der späteren Produktion »Mein Besuch im Städtchen am See«, verwendet wird (211), greift Späth übrigens auf einen hörspielgeschichtlich bedeutsamen Effekt zurück, der 1931 in Paul Langs »Nordheld Andrée« noch mittels »Phonomontage« bewerkstelligt wurde; doch war wohl weder ihm noch dem Regisseur Hans Jedlitschka bewusst, dass damit ein dramaturgisches Element der Pionierzeit reaktiviert wurde, das schon im Lauf der dreissiger Jahre ausser Mode gekommen war und in der Folge von den Vertretern des literarischen Worthörspiels abgelehnt wurde.

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Dass »Heisse Sunntig« entgegen den Absichten des Autors und trotz der zweifellos auch vorhandenen satirischen Züge insgesamt als kleinbürgerliche Idylle wirkt, geht besonders deutlich aus dem Vergleich mit einer Neufassung hervor, die fünfzehn Jahre nach der Erstsendung von »Heisser Sonntag« entstand. Diese soll im folgenden kurz vorgestellt werden. »Mein Besuch im Städtchen am See« verzichtet von vornherein auf die sommerlich-sonntägliche Atmosphäre, die man in den Bildern von »Heisse Sunntig« mit allen Sinnen spüren kann. Der »Besucher« kommt am frühen Morgen eines Spätsommertages mit dem Auto im Städtchen an und wird von Frau Schmaltz gleich wegen falschen Parkierens zur Ordnung gerufen, doch ist sie versöhnt, sobald sie in ihm den ehemaligen Buben aus der Nachbarschaft erkennt. Wie er um Mitternacht seinen Wagen wieder besteigen will, liegt die Alte, für die er während seines Ganges durch die Stadt auch diesmal keine Zeit gefunden hat, noch immer auf der Lauer. Er vertröstet sie auf seinen nächsten Besuch und schliesst seinen Bericht mit den Worten: »Er winkt zu der alten Frau am Fenster hinauf, steigt ein und fährt langsam davon.« Da bemerkt er, dass er von sich selbst in der dritten Person gesprochen hat, und er korrigiert sich: »Wer er? Ich natürlich. Ich.« (S.98) An dieser Stelle wird, analog zur Bademeisterszene in »Heisse Sunntig«, für einen Augenblick Distanz zum Thema, die das Verhältnis des Besuchers gegenüber seinen Figuren in diesem Hörspiel viel stärker prägt als in den früheren. Das drückt sich zunächst in der Rückkehr zur teils mundartlich gefärbten hochdeutschen Umgangssprache aus. Der Erzähler begreift sich wieder mehr als Vermittler, was vordergründig vor allem aus zahlreichen Redeanführungen hervorgeht, die im Mundarthörspiel von 1978 weitgehend eliminiert waren. Zwar weiss der Erzähler über das Denken seiner Figuren bestens Bescheid, doch Einfühlung in dem Mass wie etwa in der besprochenen Hilarius-Szene ist in diesem Hörspiel unvorstellbar. Der Spaziergang führt diesmal nicht über die Grenzen des Städtchens hinaus, womit fast alle Stimmungswerte dahinfallen, die vornehmlich den sommersonntäglichen Landschaftsimpressionen entströmten. Dafür werden nun Gerede und Gedanken der Bewohner während eines ganzen Werktages genau zu Protokoll genommen.

Waren die Stimmen in »Heisse Sunntig« ausnahmslos die der Kleinbürger von »Spiessbünzen«, »Molchgüllen«, »Barbarswil«, wie das Städtchen in »Balzapf« tituliert wird, so treten diese im neuen Panoramaspiel etwas zur Seite. Zwar gibt es da nebst der alten Schmaltz nach wie vor den nun gealterten Lehrer Meil, der als einzige Figur mit Namen aus dem früheren Hörspiel übernommen worden ist, die Sportfischer und den Berufsfischer Pirmin Hiestand, den Koch Fredi Amrain, den Gemüsehändler Vasari und die Eierfrau DoraTremp, die Arztwitwe Frau Amsteg, den Museumskurator Thotenfluh und den Sargmacher Schnabelschuh, und es kommen nun sogar Arbeiterinnen und Arbeiter vor. Den Arbeitslosen widmet wenigstens der Besucher ein paar Gedanken. »Man sieht sie nicht. Sie verhalten sich unauffällig. Sie schämen sich, verstecken sich.« (S.61) Besonders nahe scheint ihm vor allem der ehemalige Seemann Spring zu stehen, der in der Welt herumgekommen ist und etwas zu erzählen weiss; einen besonderen Status hat als Nachfolger des verrückten Taubenfütterers auch der »Warter« Höfliger, der nach seiner unfreiwilligen Pensionierung angefangen hat zu warten: »Zuerst vor seiner Bank; dann am Bahnhof; dann am Hafen.« (S.9) All diese kleinen Figuren präsentiert der Erzähler immer noch mit einem Augenzwinkern, auch wenn da nicht nur Vorteilhaftes zum Vorschein kommt.

Aber der Schwerpunkt dieses Spiels liegt bei denen, die in den fetten Jahren ihren Schnitt gemacht haben und nun eine Klasse von Emporkömmlingen bilden, die die Fäden hinter den Kulissen ziehen. Für ihr Städtchen wäre »Spiessbünzen« ein zu harmloser Name; das goldene Feigenblatt auf blütenweissem Grund im Stadtwappen (S.7) trifft die Verhältnisse schon besser. Gemütvoll ist noch das »intensive Aktenstudium« des Stadtschreibers gezeichnet, das, wie man erfährt, momentan Anzeigen von einschlägigen Salons »für den gepflegten Herrn« gilt. »Auch wer sonst im Rathaus sein Brot verdient, scheint vollauf beschäftigt. Hinter verschlossenen Türen, versteht sich.« (S.30) In der Wirtschaft »Zum Paragraph zwölf« treffen sich zum Aperitif »die Macher und Meister« (S.37), um sich zwischen nichtssagenden, faulen Sprüchen schnell gegenseitig Geschäfte zuzuschieben oder wenigstens verwertbare Informationen aufzuschnappen. Diese überdurchschnittlich lange Szene bildet das Kernstück des neuen Stadtpanoramas. Sie lässt in einer meisterhaften Montage von neben- und durcheinanderlaufenden Gesprächen ein klares Bild von den trüben Machenschaften hinter den idyllischen Fassaden des Städtchens am See entstehen. Das »Hörspiel der absoluten Stimmen« ermöglicht es, wie sich im Beispiel der Hilarius-Szene erwies, innere und äussere Realität simultan darzustellen. In der Wirtshaus-Szene der neuen Version nutzt Späth diesen Vorteil, um den Gegensatz zwischen Sagen und Denken aufzudecken und seinen Figuren die Maske herunterzureissen:

»Strebel: Mein Globus dreht sich, wenn Sie das meinen.
Frei (für sich): Sagen wir: dein lumpiges Fähnchen dreht sich...
Besucher: Denkt der Schulpräsident Anton Frei, Webereibesitzer in dritter Generation.
Strebel: Mumm und Verstand. Ich habe mit nichts anderem angefangen...
Besucher: Sagt der Architekt Strebel. Und das stimmt sogar, denn seinerzeit ist er aus der Bauzeichnerlehre gelaufen. Es waren günstige Zeiten für quicke Kerle.
Strebel (für sich): Immer den richtigen Dreh finden; am richtigen Ort jammern und am richtigen Ort klotzen.
Besucher: Nein, das sagt er selbstverständlich nicht. In dieser Runde weiss er so gut wie jeder andere, was laut gesagt und was nur leise gedacht werden darf.« (S.42 f)

Von der Atmosphäre des versponnenen Fischerorts unter dem Milchwald, mit dem Dylan Thomas in den fünfziger Jahren ein repräsentatives Muster des Panoramaspiels geschaffen hat, ist in Späths »Besuch im Städtchen am See« nichts mehr übriggeblieben. Was er sich 1971 für seinen Erstling vorgenommen hatte: »die Idylle zusammen[zu]schlagen«, ist ihm erst in der neuen Fassung von 1986 wirklich gelungen. Von hier aus kommt die noch härtere Konfrontation von Herren und Knechten im »Jubiläums«-Hörspiel »Lasst hören aus alter Zeit« in Sicht, das auf den sarkastischen Kommentar eines Erzählers verzichtet und die Verhältnisse für sich sprechen lässt. An der Utopie von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in den »Schwyzeren« jenseits des Sees müsste sich eigentlich das »Bilderbuchstädtchen« (S.1) von 1986 messen lassen; wie es aussieht, orientieren sich aber dessen Bürger eher an Leitbildern, wie sie den Zuständen von anno 1290 in den Landen derer »von Reprechtswiler« entsprechen. Auf einen Hoffnungsschimmer deutet, ohne zu merken, was er sagt, der Stadtamman: »Die Jungen heutzutage, die haben es besser.« (S.30) Er meint damit deren sexuelle Freiheiten. Die Jungen selbst, die sich diese beim Stelldichein am See tatsächlich nehmen, meinen andere. Der »Spinner« Höfliger, der in der Nähe italienische Verse rezitiert, spinnt, wie ein Bursche vermutet, vielleicht gar nicht. »Die wirklichen Spinner sind wir«, sagt er und denkt daran, wie er und die anderen Jugendlichen sich in der Schule auf das Leben vorbereiten. »Die Zeit läuft« (S.19), ist auch das Motiv dieses Spiels; aber sie läuft für die verschiedenen Figuren sehr ungleich. Die Arbeitslosen haben davon mehr, als ihnen lieb ist. Für die Fischer und die Pensionierten verstreicht sie gemächlich; der »Warter« Höfliger, eigentlich ein pensionierter Arbeitsloser, erinnert noch am ehesten an das Schlusswort von »Heisse Sunntig«, das den Beiklang eines Memento mori hat. Die Werktätigen hingegen leben in einer anderen Welt: »die Zeit läuft schnell. Die Fabrik ruft, die Stechuhr, das Büro, die Chefin, der Boss.« (S.50) Wie die »Macher« ihre Zeit nutzen, demonstriert in diesem Spiel das Gerangel um »eine der letzten freien Liegenschaften, die wir hier noch haben...« (S.58) Für die »aktive« Bevölkerung in diesem Werktags-Hörspiel scheint die Zeit nicht nur schneller zu laufen, sondern auch sinnloser zu vergehen als Jahre zuvor an einem heissen Sonntag. Damals forderte dieser Satz am Ende noch zur Besinnung auf; heute tönt er mehr wie eine sachliche Feststellung, zu der sich fast zwangsläufig die Vorstellung von Geld assoziiert.

 

 

(202) auszugsweise vorabgedruckt in: Spektrum 11, 1969, H.43, S.4 ff; Erstveröffentlichung in: »Zwölf Geschichten«, Zürich (Arche) 1973
(203) vgl. W.Kläy, a.a.O.
(204). Erzählung, in: Späth, 1982, S.65; Hörspiel (1971), in: Späth, 1987, S.5; die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe, Zusätzliche Textteile der Erzählung sind in eckige Klammern [ ], solche des Hörspiels in geschweifte Klammern { ) gesetzt.
(205) Hörspiel (1978), In: Späth, 1987, S.38
(206) G.Späth im Interview von W.Kläy, a.a.O.
(207) Erzählung, in: Späth, 1982, S.70 f
(208) G.Späth, Sie sagen es anders, in: NZZ, 26727.11.77, abgedruckt in: Späth, 1987, S.73
(209) vgl. wk, T'lnnkwisizioon oder Die Inquisition? Hörspiel von Walter Vogt und Gedichte von Kurt Marti, in: tvrz 44/72, S.72; K.O., Der Schweizer Schriftsteller zwischen Mundart und Hochsprache: »T'lnn- kwisizioon oder Die Inquisition?« in: NZZ, 8.11.72
(210) R.Auer, Jetz isch's emol wle's isch. Hörspiel von Don Haworth (Interview mit Joseph Scheidegger), in: r+f 9/68, S.71
(211) z.B. am Ende von Szene 10, wo Frau Meil im Badezimmer »alle Hahnen rauschen« lässt. »Dieses Geräusch geht dann allmählich über in Verkehrslärm« (S.18).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Gerold Späth
(Foto: Archiv SRF)