Silja Walter, »Die Scheol tanzt« (1972)
Typoskript

 

Als schweizerisches Beispiel für das »Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit« soll im folgenden Silja Walters religiöses Hörspiel »Die Scheol tanzt« (DRS-1,24.12.72) untersucht werden. Schon Ende der vierziger Jahre waren Gedichte der 1919 geborenen Autorin im Programm von Radio Beromünster vorgestellt worden. (183) Wie bei anderen Schriftstellern (184) ist es auch im Falle von Silja Walter erstaunlich, dass man erst 1972 auf die Idee kam, der seit langem aktiven Autorin den Auftrag zu einem religiösen Hörspiel zu geben, zumal für diese thematische Gattung im Programm seit Anbeginn ein regelmässiger Bedarf besteht. In ihren drei Hörspielen behandelt sie denn auch biblische Stoffe, die sie längst schon in Form eines Oratoriums und mehrerer Erzählungen gestaltet hatte. (185) Zusammen mit dem Osterspiel »Ich bin nicht mehr tot« (DRS-1, 13.4.74) und dem Pfingstspiel »Der brennende Zeitvertreib« (DRS-2, 5.6.76), beides Auftragsarbeiten, bildet »Die Scheol tanzt« eine Mysterienspiel-Trilogie, die zumindest in der Geschichte des Deutschschweizer Hörspiels keine Entsprechung hat. Einen wichtigen Punkt in dieser Tradition markiert Robert Jakob Langs »Neues Weihnachtsspiel« (RGZ, 26.12.29) als eines der ersten schweizerischen Originalhörspiele, das erste, dessen Text überliefert ist. Von da aus zieht sich eine nicht abreissende Kette von religiösen Hörspielen bis zur Gegenwart. Parallel zu ihrer Hörspiel-Trilogie schuf Silja Walter in den siebziger Jahren auch eine ganze Reihe von religiösen Bühnenstücken.

Das erste ihrer Mysterien-Hörspiele handelt von der Scheol, dem Ort, wo nach der Vorstellung der alttestamentlichen Juden die verstorbenen Gerechten weilen; in christlicher Sicht ist dies die Vorhölle, in die Jesus nach seinem Tod am Kreuz hinabstieg, um die dort Gefangenen in seine Auferstehung hineinzunehmen und sie zu neuem Leben zu erwecken. Zum Weinachtsspiel wird »Die Scheol tanzt«, indem die Autorin diese Erweckung auf den Zeitpunkt von Christi Geburt vorverlegt und »die Linie der Heilsgeschichte von dem Ereignis der Menschwerdung Gottes nach rückwärts und nach vorwärts hin« ausdehnt. (186) In der Scheol sieht man die Schattenwesen vor dem Paradiesestor hocken: »sie starren bloss vor sich hin. Sie können nicht durch das Engelsfeuer«, das ihnen den Zugang versperrt. (S.12) (187) Während Adam in dumpfer Resignation verweilt, ringt der Erzvater Jakob mit dem feurigen Scheolengel, dem Zornengel, »um die Gemeinschaft mit dem Gott der Verheissung« (188). Der Prophet Jonas, stets auf Ruhe und Ordnung bedacht, weist ihn zurecht: »Wozu mit dem Engel kämpfen / du bist ja tot? / Du bist kein Mensch mehr! / In der Scheol gibt es keine Menschen mehr.« (S.26) Das Bindeglied zur Weihnachtsgeschichte verkörpert der Wirt, der Joseph und Maria nicht eingelassen, sondern ihnen einen Platz in seinem Schober angewiesen hat und kurz darauf vom Schlag getroffen worden ist; er versucht sein Handeln mit guten Gründen zu rechtfertigen, wird aber spürbar vom schlechten Gewissen und von Reue geplagt.

Adam, der überzeugt ist, Gott hasse die Menschen (S.27), ist die Figur Evas entgegengesetzt; ihr innigster Wunsch ist es, wieder ein Mensch zu sein (ib.), was dem Kerngedanken des Hörspiels entspricht. Ihre zunehmende Sehnsucht wird zur Ahnung, dass ein Kind geboren werde, das »der Schlange den Kopf zertreten« (S.29) und damit ihren Sündenfall rückgängig machen werde; daraus wird in der Mitte des Spiels ihre Gewissheit, dass Gott - sie spricht hier die Sprache des Hohenliedes (2/8,9) - »über die duftenden Berge / gelaufen« komme »wie eine Gazelle« (S.34); dem stummen Engel und ihrem griesgrämigen Mann hält sie den Satz entgegen: »Gott liebt den Menschen.« (ib.) Von ihrem Glauben wird zuerst der Wirt angesteckt, den es in den Stall zu der Frau mit dem Kind treibt; er bemerkt als erster, dass die Scheol angefangen hat sich zu drehen. Bald drehen sich auch schon die Tanzweiber vom Roten Meer mit der Prophetin Mirjam an der Spitze wie beim Exodus aus Ägypten, und der protestierende Jonas wird von König David beruhigt, der darauf seinerseits zu tanzen beginnt: Er »lacht hell, sein Tanz vor der Bundeslade bringt erneut sämtliche Gerechte in Hallel-Stimmung; man hört nur sein Lachen und seinen Rhythmus«, heisst es in einer Regieanweisung. (S.45) Die Scheol erscheint als tanzender »Wirbelstern« über dem Schober von Bethlehem (S.55) und zerplatzt in einem Blitz; ein Engel verkündet die Geburt Jesu. Jonas setzt sich unter eine Rizinusstaude in Erwartung des Jüngsten Gerichts, das »über die Lasterhöhle Welt« hereinbrechen werde. (S.59) Eva dagegen frohlockt über die Geburt des Kindes, »das die Schlange zertritt.« (S.62) Am Schluss steht die frohe Botschaft vom Ende der Scheol:

»Man ist hineingerissen in die Gottesgeburt.
Voll Schauer:
Jetzt ist es Schluss mit dem Tod.
Schluss mit dem Tod!!
Gott hat uns hineingenommen, nimmt jeden herein,
weiter und weiter.
Will Mensch werden, und Mensch werden.
In jedem Menschen will er Mensch werden.
Man muss ihn bloss einlassen...
Er muss Gott bloss einlassen
dann wird er... wieder Mensch ... der Mensch ...« (S.63)

Zu einem aussergewöhnlichen Radiokunstwerk wird Silja Walters Weihnachtsspiel durch seine typenspezifische Struktur, durch seine sprachlich-stilistischen Qualitäten und durch die Integration von Wort, Musik und Geräusch. Die drei Aspekte sollen im folgenden in dieser Reihenfolge behandelt werden.

»Die Scheol tanzt« kommt in struktureller Hinsicht Günter Eichs Hörspiel »Die Mädchen aus Viterbo« am nächsten. Wie in diesem Beispiel durchdringen sich zwei aufeinander bezogene Ebenen, deren eine als »psychische Projektion« betrachtet werden kann. Alles, was in und mit der Scheol geschieht, ist nämlich die Vision des Hirten Jussuf, der mit seinem Kameraden Josaphat in der Christnacht auf dem Feld vor Bethlehem Schafe hütet. Die beiden unterhalten sich über den Wirt, der das fremde Paar nicht eingelassen hat; danach wendet sich das Gespräch der Scheol zu, wo dem Wirt seinerseits der Einlass ins Paradies verwehrt sein wird, wie Jussuf, der zweite Hirt, mit Befriedigung feststellt. Er legt sich ans Feuer, um sich das auszudenken: »Wenn man sich hinlegt und sich das ausdenkt, / dann sieht man es.« (S.12) Zunächst reden die beiden weiter über die Zustände in der Scheol und nennen die Namen all der Schatten, die dort auf Einlass warten; danach hört man in szenischer Darstellung, was sich der zweite Hirt »über die Scheol alles ausdenkt« (S.16). Als der Wirt Adam und Eva mit Joseph und Maria verwechselt, muss Jussuf über diesen Irrtum lachen; bald darauf schaltet er sich wieder ein, um den Wirt zu schelten, weil dieser nicht aufhören will, Fragen über seinen Aufenthaltsort zu stellen. In der Regieanweisung heisst es: »Der zweite Hirt hat das in die Nacht hinausgeschrien, er hat eben alles lebendig erlebt, am Wachefeuer auf dem Feld.« (S.19) Dem Propheten Jonas gibt er gewlssermassen seinen Einsatz, indem er ihm den ersten Satz vorspricht:

»[...] Der kritisiert natürlich alles
in der Scheol.
Propheten kritisieren alles.
Er kritisiert auch den Erzvater Jakob.
Er sagt: Wozu mit dem Engel kämpfen
du bist ja tot...?
Er bläst wieder etwas für sich und denkt sich weiter alles aus.
Jonas:
Wozu mit dem Engel kämpfen
Du bist ja tot?
Du bist kein Mensch mehr.
In der Scheol gibt es keine Menschen mehr.
Wirt: Wer sagt das?
Wer sagt: keine Menschen mehr?
Jonas: Man führt ein Schattendasein.« (S.25 f)

Kurz danach unterbricht der zweite Hirt wieder das Gespräch, um Josaphat zu berichten, was er gesehen und gehört hat. Darin zeigt sich zum einen, dass seine Vision nur für ihn sinnlich wahrnehmbar ist, zum andern aber auch, dass sie sich zunehmend verselbständigt und ihn über das Gesehene staunen macht; gelegentlich scheint ihm dies so »wunderwunderschön« (S.47), dass er sich kaum zu fassen weiss.

»Zweiter Hirt: Weisst du was?
Erster Hirt: Was?
Zweiter Hirt: Die in der Scheol sind bloss noch Schatten.
Man ist kein Mensch mehr.
Sie wollen aber keine Schatten sein.
Eva sagt: Auf keinen Fall,
ich will, ich will ein Mensch sein!« (S.26 f)

Worauf Eva nach obigem Muster mit diesem Satz das Wort an ihren Mann richtet. Gelegentlich mischt sich Jussuf auch nur mit einer kurzen Bemerkung in den Dialog seiner Figuren ein und begibt sich damit selbst auf die Ebene seiner Vision. Umgekehrt muss er über die Vorstellung, dass der grosse König David einst ein Schafhirte in Bethlehem gewesen sei, »so lachen dass ihm die Gedanken zerplatzen« (S.40) und die Szene abbricht. In der letzten Szene sehen beide Hirten einen grünen Stern über dem Schober, in dem Joseph und Maria Obdach gefunden haben, und Jussuf kommt auf die Idee, dieser müsse die tanzende Scheol sein; darauf sieht Josaphat, dass der Stern tanzt und wirbelt, und auch die Schafe »glotzen«. Josaphat, der zuvor nur Fragen gestellt und den Berichten seines Kameraden gelauscht hat, schildert nun in grosser Aufregung, wie ein ganzes Dutzend Wirbelsterne in den einen grossen hineingerissen werden, der auf den Schober herunterfällt. Jussuf stellt verblüfft fest, dass er von seinen Figuren umgeben ist und versucht dem Wirt klarzumachen: »Du bist aber nicht wirklich da, / Wirt, glaub nur das nicht. / Du bist bloss ausgedacht!« (S.57 f) Nach der Verkündung der Weihnachtsbotschaft durch einen Engel stellt Josaphat fest, dass Jussuf wie tot am Boden liegt. Doch dieser spricht im folgenden mit Eva, die ihm klarmacht, dass Gott tote wie lebende Menschen hineinreisse in seine Geburt. Darauf erwacht er »aus seiner Betäubung« (S.62) und gibt, da Josaphat sich entfernt hat, die Botschaft weiter an das jüngste seiner Tiere. In der gedruckten Fassung ist eine Variante des Schlusses weggelassen, die Silja Walter im Manuskript skizziert hat, die aber auch in der Produktion von 1972 konsequenterweise nicht realisiert wurde. Die Autorin stellte es in dieser Fassung der Regie frei, den ersten Hirten zurückkommen und über das Neugeborenen berichten zu lassen: »[...] ein gewöhnliches Kind zum Ansehen, Engel seien keine mehr da [...]« (S.58), doch scheint dies bloss als Notlösung gedacht zu sein: »Um das Ganze wieder in die Vordergründigkeit heraufzuholen.«

Eich zeigt durch die Objektivierung der inneren Realität in seinen Hörspielen die Identität von einander fernstehenden Menschen in ganz verschiedenen, konträren Lebenssituationen. Wenn der jüdische Grossvater am Ende seine Verfolger freudig begrüsst wie die italienischen Mädchen ihre Retter, so stellt sich angesichts dieses Zusammenfallens von Glück und Unglück die Grundfrage nach dem Sinn menschlicher Existenz. (189) Es ist sicher kein Zufall, dass Silja Walter das Strukturprinzip der »objektivierten Innerlichkeit« für ihr Hörspiel gewählt hat, das auf religiöser Ebene dieselbe existentielle Frage behandelt. Aber Eich hält die Bereiche der empirischen Realität und des Traums auseinander, in »Die Mädchen aus Viterbo« von Anfang an, in »Die Andere und ich«, indem das Leben der Camilla am Schluss als Halluzination erkennbar wird; in dieser Konzeption wirkt die Objektivierung aufgrund der realistischen Darstellung der Traumebene bloss stark irritierend auf den Zuhörer. Im Unterschied dazu nähern sich reale und visionäre Ebene in Silja Walters Hörspiel einander immer mehr an, was sich vor allem in den Beobachtungen und Reaktionen des ersten Hirten und im Verzicht auf die vordergründige Schlussvariante zeigt. Damit wird die Wirklichkeit des anfänglich bloss Ausgedachten behauptet, was eine bedeutsame Veränderung des Grundmusters dieses Hörspieltypus darstellt. Der Grund, aus dem solches Dichten hervorgeht, ist das klösterliche »Silentium«, das nach Silja Walters Empfinden »sozusagen den ganzen Menschen innerlich« stillegt (190), das aber im Gegenzug innere Stimmen und Bilder hervorruft, die der besonderen »Bühne« des literarischen Worthörspiels ganz und gar entsprechen. Im religiösen Hörspiel kommt das Hörspiel der fünfziger Jahre, das in seiner Blütezeit von einer nahezu sakralen Aura umgeben war, zu sich selbst. Hier wird der Mensch im eigentlichsten Sinn von Schwitzkes Formulierung »als homo religiosus ernst genommen« (191). Dagegen ist, wenn man den traditionellen theologischen Standpunkt teilen will, nichts einzuwenden. Eich hat sich im letzten seiner »klassischen« Hörspiele für die Gegenposition entschieden, indem er seinen Märtyrer Festianus auf das Paradies der Gerechten verzichten und aus Solidarität mit den leidenden Verdammten die Hölle vorziehen liess. Dieses Grundproblem kommt bei Silja Walter nicht in Sicht.

Das Schliessen der Lippen und der Augen gehört beides zur Grundbedeutung des Begriffes Mystik. Silja Walters Spiel geht über das spiritualistische Einswerden mit Gott hinaus. »Du liebst mich, / du bist der Geliebte des Menschen«, ruft Eva aus. (S.38) Ihr Hoheslied der Liebe zwischen Gott und Mensch zeugt von Einflüssen einer religiösen Erotik, wie sie in mystischen Strömungen des späten Mittelalters wirksam waren. Dem entsprechen auch die Figuren Mirjams und der Tanzweiber sowie die des tanzenden Königs David, die alle als weltlich-sinnliche Gestalten gezeichnet sind. Im Zentralmotiv des Tanzes verbirgt sich ein ekstatisch-orgiastisches Moment, dem sich Jonas, die Verkörperung des Orthodoxen, mit seiner ganzen Kraft, aber vergeblich entgegenstemmt; in seiner Widerlegung und in der Spielverderberrolle Adams scheint sich ein Körnchen der Kritik an den »Herren der Schöpfung« zu verbergen. Diesen negativen männlichen Figuren stehen aber nebst David die Figuren des Wirts und der beiden Hirten gegenüber. Der reuige Sünder sehnt sich wie Eva danach, als Mensch wieder an den Freuden des Lebens teilzuhaben; und die einfachen Hirten, »Laien« wie er, haben als Urheber der Scheol-Vision gar ebensoviel Gewicht wie die Hauptfigur Eva. Sie stehen trotz ihrer produktiven Phantasie mit beiden Beinen auf dem Boden des Diesseits und repräsentieren damit eine der mystischen Tendenz entgegengesetzte Kraft, die für das »Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit« nicht minder typisch ist.

Wie auch die anderen Mysterienspiele von Silja Walter bewegt sich »Die Scheol tanzt« trotz unkonventioneller Ansätze durchaus noch im Rahmen der tradidionellen Theologie. Enrico Caminati zeigt anhand des Osterspiels »Ich bin nicht mehr tot«, wie die Autorin der von Kurt Marti aufgezeigten »Inflation christlich-ideologischer Parolen [...], welche den Bezug zum Weltprozess, zur Wirklichkeit verloren haben« (192), entgegenzuwirken versucht. Auch die Figuren ihres ersten Hörspiels werden durch ihre je eigene Sprache zu lebendigen Charakteren, die sich von der biblischen Überlieferung unabhängig entwickeln; in der Gestalt Evas wird dies nur am deutlichsten offenbar. Ihre Sprache erreicht dichterische Ausdruckskraft, wenn sie in ihrem einseitigen »Dialog« mit dem Engel Gott preist:

»Er kommt über die duftenden Berge gelaufen
zum Menschen,
wie eine Gazelle
im Frühling über die Balsamberge,
wenn alles voll ist vom Duft der Reben
und die wilden Tauben rufen
in den Ritzen,
im Gestein.« (S.34)

In der Anlehnung an die Bildlichkeit des Hohenliedes wird darin zugleich die Verwurzelung in der überlieferten Sprache der Schrift hörbar. Im Ton eines Busspredigers dagegen der gestrenge Jonas:

»Ruhe!!!
Fürchtet den Zorn des Herrn,
er wird uns alle zermalmen!
Man gehe in sich!
Man setze sich in Asche!
Man weine!« (S.45)

In krassem Gegensatz zur elaborierten Sprache der alttestamentlichen Figuren stehen die Dialoge der einfachen Leute, der Hirten und des Wirts, deren naives Frage- und Antwortspiel eine radiogene »Didaktik« in durchaus positivem Sinn entfaltet; in Fragmenten sprechend, bringen sie schrittweise durch Aneinander-Vorbeireden und allmähliches Füllen der Lücken einen Gedanken auf den Punkt:

»Erster Hirt: Der Wirt hat sie nicht eingelassen.
Zweiter Hirt: Wer?
Erster Hirt: Der Wirt!
Zweiter Hirt: Hat wen nicht eingelassen?
Erster Hirt: Alles besetzt, sagt er.
Zweiter Hirt: Der hat doch Platz!
Erster Hirt: Die Frau erwartet etwas.
Zweiter Hirt: Was?
Erster Hirt: Ein Kind.
Zweiter Hirt: Hat sie nicht eingelassen?
Erster Hirt: Hat gesagt, der Schober ist noch frei.
Zweiter Hirt: Ein Schwein so einer!
Erster Hirt: Da sind sie in den Schober
Zweiter Hirt: Wer?
Erster Hirt: Der Mann und die Frau
Zweiter Hirt: Wenn der stirbt...
Erster Hirt: Wer?
Zweiter Hirt: Der Wirt!
Erster Hirt: Immerhin hat er gesagt...
Zweiter Hirt: Was immerhin?
Erster Hirt: Er hat immerhin gesagt, ihr könnt in den Schober!
Zweiter Hirt: Was dann, wenn der aber stirbt?
Erster Hirt: Kommt er in die Scheol
Zweiter Hirt: Wo ist die Scheol?
Erster Hirt: Weiss nicht. Blas doch etwas!« (S.7 ff)

Die lebendige Umgangssprache der beiden Figuren, die so zwischen der biblischen Botschaft und dem Hörer vermitteln, trägt Wesentliches bei zum qualitativ hohen Rang dieses Hörspiels. Dank dieser wirkungsvollen Methode, den Hörer zu führen, gelingt es, ihm philosophisch-theologisch schwierige Gegenstände nahezubringen. Daneben enthält der Text auch Relikte des von Marti kritisierten »inflationären« Jargons sowie metaphorische, symbolische und allegorische Elemente, die das Verständnis unnötig erschweren; die Anspielungen auf den Exodus (S.43) etwa oder das »Mädchen mit zwölf Sternen im Haar, / und die Sonne um sich« (S.53) setzen einiges an Bibelfestigkeit voraus. Sicher gilt für Silja Walters Mysterienspiele im Hinblick auf ihre inhaltliche Hermetik, was oft von Hörspielproduktionen im Grenzbereich zwischen Sprache und Musik gesagt wurde: dass sie sich nur dem aktiv Hinhörenden und auch diesem wohl nur nach mehrmaligem Hören erschliessen. Es fragt sich, ob man erwarten soll, dass ein solches Spiel »den Massenmenschen im Zeitalter der Technik [...] ansprechen« kann. (193) Es andernfalls als »wirklichkeitsfremd« abzutun, scheint doch allzu vorschnell geurteilt.

»Die Scheol tanzt« dürfte eines der ersten Schweizer Hörspiele aus neuerer Zeit sein, das mit einem permanenten, wenn auch zumeist sehr leisen Geräusch- bzw. Musikhintergrund versehen ist. Die Dramaturgie des literarischen Worthörspiels hatte diese Praxis als störend und veraltet abgelehnt und war dazu übergegangen, »eine Geräuschkulisse kurz nach Beginn der Handlung auszublenden, nur an entscheidenden Stellen und am Szenenende wieder einzublenden, und sich im übrigen auf die miterlebende Erinnerung des Hörers zu verlassen.« (194) Diese Auffassung wurde auch in jüngster Zeit und auch von Regisseuren einer jüngeren Generation vertreten. (195) Für Schwitzke gibt es im Hörspiel »keine Musik ohne eine Handlungsfunktion und kein Geräusch ohne eine Sinnfunktion für den thematischen Zusammenhang.« (196) Bei der Mehrzahl aller Fälle habe die Musik die Funktion kurzer »klingender Interpunktionszeichen«. Gegen die Degradierung der Musik zu solchen »Spielartikeln« wehren sich seit Ende der sechziger Jahre Komponisten als Vertreter einer Richtung des Neuen Hörspiels. In Silja Walters Hörspiel werden Geräusch und Musik zwar auch auf traditionelle Weise funktional verwendet, aber nicht nur. In erster Linie dienen sie der unmerklichen Separierung der Spielräume bzw. Realitätsebenen. Die Gespräche der Hirten sind alle mit leisem Windesrauschen unterlegt, das 1972 wohl auf dieselbe Weise erzeugt wurde wie anno 1931 für die Live-Sendung von Paul Langs »Nordheld Andrée«; man verwendete dazu eine Hörspiel-Windmaschine, wie sie in Studio Zürich bis heute erhalten geblieben ist, bestehend aus einem breiten Endlos-Seidenband, das, mit einer Kurbel mehr oder weniger schnell über Rollen bewegt, durch die Reibung an einer Stange ein sausendes Geräusch verursacht. (Windgeräusche in Originaltonaufnahme machen sich bloss als Störungen bemerkbar.) Ausser dem Sausen des Windes ist ganz selten während der Gespräche der Hirten auch ein blökendes Schaf zu hören. Für die musikalische Gestaltung war George Gruntz verantwortlich, der nicht zu den Routiniers unter den Schweizer Hörspielkomponisten gehörte; experimentelle Erfahrungen mit dem Medium Radio hatte er etwa ein Jahr zuvor schon gemacht, als er die Psychomusik-Improvisationen für eine Produktion von Paul Pörtner leitete. Gruntz verwendete als Grundton für alle Dialoge, die in der Scheol geführt werden, feine Glasharfenklänge, die sich in Charakteristik und Intensität nur unmerklich vom Geräusch des Windes unterscheiden. Die Übergänge fallen dadurch kaum auf und werden durch Überlappung der beiden Hintergründe teils zusätzlich verwischt. Diese dauernde Untermalung durch Geräusch und Klang entspricht der Intention der Autorin, die sich auch explizit im Text äussert: Eva sagt vom Engel, er stehe »bloss da und brennt / und saust so« (S.35), und in einer Bemerkung zum Ende einer Szene heisst es, man höre »nur das Sausen des brennenden Engels wie Musik.« (S.31) Der zweite Hirt vernimmt vor dem Zerplatzen der Scheol ein durchdringendes Summen. (S.59) Durch diese Verknüpfung mit dem Text erhält der akustische Hintergrund einen symbolischen Sinn wie das singende Wasser in Silja Walters Osterhörspiel, das als das Fliessen des ewigen Lebens zu deuten ist. (197) Das entspricht auch genau dem Kerngedanken des Weihnachtshörspiels; interessant ist, dass die Botschaft hier fein differenziert wird und je nach Perspektive entweder als Geräusch oder als musikalischer Klang wahrgenommen wird. Durch dauernde Überlagerung der beiden akustischen Hintergründe wird in der Schlussszene auf unauffällige Art auch das Ineinanderfliessen der beiden Realitätsebenen wahrnehmbar gemacht, das oben schon aus inhaltlicher Sicht gedeutet wurde. Musik und Geräusch sind in dieser Verwendung nicht mehr bloss Funktionen der Handlung, sondern integrierende Bestandteile eines Ganzen; darin zeigt sich ansatzweise die Auffassung von Komponisten, die als Hörspielmacher aktiv wurden, doch gehen diese in der Regel vom Bereich der Musik aus, während in Silja Walters Hörspiel doch das Wort den Primat hat.

Eine illustrative Funktion kommt der Musik in der Phase der Steigerung bis hin zum Höhepunkt des Hörspiels zu. Auf das Stichwort: »Die Scheol dreht sich...« (S.38) setzen intensivere Klänge ein, die wie menschliche Stimmen tönen, und als die Tanzweiber sich zu drehen beginnen, gibt ein Tamburin den Rhythmus dazu; der Tanz ist begleitet vom Crescendo beider Elemente, das am Schluss zu einem jähen Abbruch führt, da der zweite Hirt ob seiner Vorstellung lachen muss. In der folgenden Szene baut sich erneut ein Crescendo des Tanzes mit mehreren Unterbrüchen auf. Zunächst wird der Hallel-Gesang der Frauen von Tamburin-Rhythmen begleitet; in einer weiteren Phase erklingt zusätzlich ein Chor flüsternder und klagender Stimmen; hatte zuvor noch der Prophet Jonas dem Treiben Einhalt gebieten können, so wird er jetzt übertönt; in der letzten Phase deuten verschiedene Perkussionsinstrumente die steigende Spannung an, die sich mit dem Zerbersten der Scheol in einem kräftigen, langsam verklingenden Orgelakkord auflöst. Dass auch in solch funktionaler Verwendung Sprache und Musik eine Einheit bilden, zeigen am deutlichsten die kurzen Gesangspartien; blosse »Interpunktionszeichen« sind die musikalischen Komponenten in diesem Hörspiel nie.

»Die Scheol tanzt« wurde in monophoner Technik aufgezeichnet, was 1972 noch der Regel entsprach. Die Eindimensionalität dieses traditionellen Verfahrens stellt aber in diesem Fall keinen Mangel dar, sondern entspricht der Aussageabsicht des Werkes genau, da dem Hörer so beide Realitätsbereiche, die der Hirten auf dem Feld und die der Scheol, nicht als getrennt erscheinen, sondern akustisch an einem Ort zusammenfallen. Im Unterschied zu einem »Hörspiel des inneren Monologs« wie »Salsomaggiore«, das mittels des Kontrastes zwischen Monophonie und Kunstkopfstereophonie die Dreidimensionalität des Raumes in der dramaturgischen Absicht betont, die subjektive Perspektive des wahrnehmenden Ich hörbar zu machen, geht es ja in einem »Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit« darum, den subjektiven und den objektiven bzw. objektivierten Bereich als gleichwertig erscheinen zu lassen; das behandelte Mysterienspiel stösst insofern bis an die Grenze dieses Typus vor, als beide Bereiche hier einander bis zur Auflösung der Grenze angenähert werden. Bliebe diese nicht trotzdem noch erahnbar, so müsste man wohl bereits von einem »Hörspiel der poetischen Realität« sprechen wie im Falle von Dürrenmatts Hörspiel »Der Doppelgänger«, wo die »Autoren« diese Grenze überschreiten und sich in den Bereich ihrer Objektivierung begeben. Diesem Typus, der im folgenden beschrieben wird, gehören auch die beiden anderen Hörspiele von Silja Walters Trilogie an. »Ich bin nicht mehr tot« geht auch insofern einen Schritt weiter als das Weihnachtshörspiel, als sich hier ein Automobilist des 20. Jahrhunderts in das biblische Spiel verirrt; »Der brennende Zeitvertreib« handelt von einem geistesgestörten Menschen unserer Zeit, der mittels einer imaginären Maschine die Zeit überwindet und zum Leidensgefährten des gekreuzigten Christus wird.

 

(186) P.Ringseisen, Nachwort, in: Walter, 1973, S.65
(187) Die Seitenangaben zum Hörspieltext beziehen sich auf die Buchausgabe (Walter, 1973).
(188) P.Ringseisen, Die Scheol tanzt. Hörspiel von Silja Walter, in: tvrz 51/72, S.64
(189) vgl. Frank, 1963, S.165
527
(190) zit. nach: E.Caminati, »Wenn man auferweckt ist, ist die Zeit weg«. Silja Walters Osterspiel »Ich bin nicht mehr tot«, in: NZZ, 13.9.74
(191) Schwitzke, 1963, S.203
(192) K.Marti, zit. nach: Caminati, a.a.O.
(193) E.Caminati wendet dies kritisch gegen das Osterspiel »Ich bin nicht mehr tot« ein.
(194) Frank, 1963, S.135
(195) z.B. in der Realisierung von L.Hartmanns Hörspiel »Auf dem Scherbenberg« durch Ch.Benoit
(196) Schwitzke, 1963, S.228
(197) vgl. E.Caminati, a.a.O.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Silja Walter
(Foto: www.siljawalter.ch, zVg)