Arthur Welti, »Napoleon von Oberstrass« (1938)

In diesem Kapitel soll stellvertretend für die Produktion während der Krisen- und Kriegszeit Arthur Weltis »Napoleon von Oberstrass« (11.9.38) als Beispiel einer Arbeit besprochen werden, in der die avanciertesten Positionen der dramaturgischen Praxis und des Zeitgeistes dieser Periode vereint sind. Studio Zürich wiederholte dieses Hörspiel, das aus heutiger Sicht zu Unrecht nur mit dem dritten Preis im Wettbewerb 1937/38 ausgezeichnet wurde, noch im Jahr seiner Ursendung zweimal, eine Ehre, die nicht einmal Langs »Nordheld Andrée« zuteil geworden war; da es bei Presse und Publikum grossen Anklang fand, wurde es 1939 noch einmal wiederholt. Drei Jahre später studierte Welti sein Spiel neu ein und zeichnete es auf Stahlband auf; in dieser Fassung wurde es 1942 zweimal, 1945 und 1952 je einmal gesendet. 1961, im Todesjahr Arthur Weltis, inszenierte Karl Meier das um zwei Abschnitte in der sechsten Szene erweiterte Spiel neu, und 1986 befand man es einer zweifachen Wiederholung für würdig als Beitrag zum Thema Flüchtlingspolitik und Asylrecht im Rahmen der Feierlichkeiten zum 2000 Jahr-Jubiläum der Stadt Zürich. Allein schon dieses Interesse, das Weltis »Napoleon von Oberstrass« während eines halben Jahrhunderts immer wieder entgegengebracht wurde, sichert dem Werk einen Platz im Repertoire gültiger schweizerischer Ohginalhörspiele. Dass Jakob Job in seinem Zürcher Beitrag zum dritten Teil von Schwitzkes »Illustrierter Hörspielgeschichte« (337) 1965 nur Hörspiele in hochdeutscher Sprache besprach und dieses Werk nicht einmal erwähnte, erscheint uns heute, da das literarische Dialektspiel gleichrangig neben hochsprachlichen Produktionen steht, als ein Ausdruck unnötiger Bescheidenheit. Es ist sicher kein Zufall, dass dieses erfolgreiche Hörspiel von einem Autor stammte, der, wie Bert Herzog schon Jahre zuvor gefordert hatte und wie es gegenüber den Vertretern des SSV immer wieder betont worden war, mit dem technischen Apparat bestens vertraut war und der den Stand der zeitgenössischen Hörspieldramaturgie aus der Praxis kannte. Erstaunlich nur, dass Welti weder vor- noch nachher mit vergleichbaren literarischen Leistungen hervortrat.

Das Hörspiel behandelt eine Episode aus den Jahren der Regeneration, einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen vor dem Sonderbundskrieg und der Gründung des Bundesstaates 1848. Ein aussenpolitisches Geplänkel ergab sich, als Frankreich die Auslieferung von Prinz Louis Napoleon verlangte, der, wegen eines versuchten Staatsstreichs in die Vereinigten Staaten verbannt, 1837 ans Sterbebett seiner Mutter im thurgauischen Arenenberg geeilt und dort geblieben war, da er als thurgauischer Ehrenbürger und Hauptmann der schweizerischen Artillerie unter dem Schutz des schweizerischen Asylrechts stand. Die unter sich zerstrittenen Eidgenossen sahen sich der Forderung einer Grossmacht gegenübergestellt, welche Ihre Staatsautonomie negierte. Ihr nachzugeben oder es auf eine kriegerische Auseinandersetzung ankommen zu lassen, das waren die möglichen Alternativen. In dieser ungewissen Situation - und hier setzt die Handlung von Weltis Spiel ein - stimmen die Mitglieder des Gemeinderats von Oberstrass bei Zürich dem Vorschlag ihres Vicepräsldenten zu, dem prominenten französischen Flüchtling auch das Ehrenbürgerrecht ihrer Gemeinde zu schenken. Den entscheidenden Ausschlag in der Gemeindeversammlung geben aber erst der Gedanke an eventuelle materielle Vorteile aus dem vorgeschlagenen »Handel« und die Drohung des Initianten, das Projekt ansonsten mit Hilfe der rivalisierenden Nachbargemeinde Schwamendingen zu verwirklichen. Mit der Verleihung des Ehrenbürgerrechts bekräftigt die kleine Zürcher Gemeinde eigenmächtig die schweizerische Entschlossenheit, die Souveränität des Staates unter allen Umständen zu verteidigen. Angesichts der nun verschärften Kriegsgefahr sind sich die eidgenössischen Stände mit einemmal einig. Eine Szene von vier Manuskriptseiten Länge ist erfüllt von Pferdegetrappel und Tritten aufmarschierender Truppen und Vereine, Marschmusik und Volkes Stimme, bis die Nachricht eintrifft, die Gefahr sei abgewendet, der »Bougeois d’Oberstrass« habe die Schweiz aus Rücksicht auf das Land verlassen.

Aus der zeitlichen Distanz eines halben Jahrhunderts schreibt sich dies alles so: »In dieser Situation sieht die kleine Gemeinde Oberstrass die einmalige Chance, aus kleinbürgerlich verschlafener Provinzialltät auszubrechen: ängstlichem Duckmäusertum setzt sie den liberalen Freiheitsgedanken entgegen und ernennt kurzerhand und in eigener Verantwortung Louis Napoleon zum Ehrenbürger von Oberstrass - was beinahe einen Krieg auslöst.« (338) So eindeutig sah Welti seine Oberstrasser gar nicht, obwohl er keinen Moment lang daran dachte, die Legitimität ihrer entschlossenen Wehrbereitschaft in Frage zu stellen. Aber ebenso sehr ging es ihm darum, die weniger lauteren Motive und die Seldwyler Abstammung der Protagonisten dieser »komische(n] Geschichte, die beinahe ernst wurde« (Untertitel), zu beleuchten. »Die Historie«, so schreibt er, »bucht heute, nach hundert Jahren, diese Episode unter die Dummheiten unserer Vorfahren. Und wirklich: allerlei Charaktereigenschaften traten damals zu Tage, die man als unschön bezeichnen muss und die eigentlich Stoff für eine politische Satire wären.« (339) Das Hörspiel verzichtet im einzelnen zwar keineswegs auf satirisch-kritische Seltenhiebe, doch dominieren diese nicht. Die Hörer dürfen über die Bürger von Oberstrass lachen, aber sie lachen genauso mit diesen über die Bürger der Nachbargemeinde hinter dem Berg, die in dem Handel das Nachsehen haben; durch eine zusätzliche Passage in der sechsten Szene, in welcher zwei Schwamendinger ihrem Ärger Luft machen, wurde das Band zwischen dem Hörer und seinen Oberstrasser »Helden« noch verstärkt. Kritik wird in diesem Hörspiel meist von den Frauen geäussert, die trotz ihres unselbständigen Status und ihrer durchweg dienenden Funktion dem Unternehmen skeptisch gegenüberstehen und sich von der Kriegseuphorie nicht vereinnahmen lassen. Ihre Skepsis und Besonnenheit macht sie eher zu Vertreterinnen der »Gescheitheiten«, die Welti in einer Notiz zur Erstsendung von den »Dummheiten« nicht säuberlich trennen wollte (s.u.); die Männer aber neigen durch ihr überstürztes und nicht ganz uneigennütziges Handeln eher zur Torheit. Am Anfang ist es die Mutter Annelis, welche sich gegen die ablehnende Haltung ihres Mannes, des Gemeindepräsidenten, gegen asylsuchende »Jude und Schwabe und Prüsse« (1938, S.4f) zur Wehr setzt mit dem Worten: »Das sind alles au Mänsche. Wo chiemed mer au ane, wenn jedes Land die wett zum Tämpel usjage, wo-n-em nöd in Chram passed. E sottigs Binäh zügt nu vo Gwalttätigkeit und Herzlosigkeit...« (S.5) Der Vater hat darauf nur zu entgegnen, das gehöre nun einmal zum Wesen der Politik; um weiteren Einwänden zu entgehen, drängt er rasch zum Aufbruch. Auf dem Weg zum Gemeindehaus wird er von der Tochter mehrerer Widersprüche überführt und muss sich den Ausspruch gefallen lassen: »Ihr Politiker hänked meini eueri Mänteli au grad wie de Wind gaht...« (S.7) Am Schluss ist keineswegs sicher, ob auch der freisinnige deutsche Emigrant Grosse eingebürgert wird, auf dessen Betreiben der so glücklich verlaufene Handel zustande kam und der sich zur Verteidigung der Wahlheimat bei einer zürcherischen Freischar melden wollte: »Ich glaube, das würd na en ganz en guete Schwyzerbürger«, argumentiert die von ihm verehrte Tochter des Gemeindepräsidenten, »und als rächte Bürger müesst er dänn au gar nümme go so Ehrebürgerrächt vermittle und so Gschäftli mache...« - »Mer wänd dänn luege«, antwortet ihr der Vater darauf. (S.27 f)

Welti berief sich also weder auf die patriotische Autorität der Altvorderen wie viele andere Hörspielautoren der Zeit, noch thematisierte er die gegenwärtigen Zwistigkeiten und die Bedrohung seitens des Dritten Reiches, sondern er bediente sich einer nicht allzu fernen Episode aus dem Vorfeld bundesstaatlicher Einigung als eines Beispiels eidgenössischen politischen Handelns. Im Unterschied zu den starren Vorbildern der Geistigen Landesverteidigung trug sein Hörspiel Züge einer Parabel, die als solche für die Hörer wohl leicht erkennbar waren, deren Deutung aber geistige Anstrengung verlangte. Weder konnte die Geschichte in all ihren Details mit gegenwärtigen Vorgängen und Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden, noch stand das Ergebnis des Transfers von vornherein fest. Welti schreibt in einer Besprechung der Erstsendung, er habe aufgehört, »an absolut Gutes oder Schlechtes und unbedingte Dummheiten oder Gescheitheiten zu glauben.« Und abschliessend: »Wenn dann der geneigte Hörer Sympathien und Antipathien fasst zu den einzelnen Figuren des Stückes oder zu Teilen dieser Figuren, kurz, wenn er das Spiel der Ereignisse [...] mit Interesse verfolgt, seine Schlüsse zieht und, wie gesagt, Gutes im Schlechten, Grosses im Kleinen erkennt, selbst, wenn er nachher historischem Geschehen - wie die Figuren des Stückes - so klug als wie zuvor gegenübersteht - dann ist eigentlich das erreicht, was ich erreichen wollte.« (340)

Satirischer Charakter und Ambivalenz der Darstellung betreffen nur die Motive des Handelns einzelner Figuren. Die Notwendigkeit der Einigung angesichts drohender Gefahr aber ist von der satirischen Betrachtung ausgenommen. Weltis »Napoleon von Oberstrass« ist damit einer der wenigen Hörspielbeiträge im Sinne wirklicher, ernstzunehmender geistiger Landesverteidigung, welcher versuchte, mündige Staatsbürger von der Notwendigkeit der militärischen Landesverteidigung zu überzeugen, indem er sie vorab zur kritischen Überprüfung der Antriebe ihres politischen Handelns anhielt. Nicht zufällig verknüpfte er die kaum umstrittene Frage der Wehrhaftigkeit, die auch Hochstrasser in seinem Hörspiel über den Neuenburger Handel ins Zentrum stellte, mit dem 1938 bereits seit langem aktuellen Flüchtlingsproblem, das weit weniger einhellig beurteilt wurde und sich in der Folge als einer der wundesten Punkte schweizerischer Aussenpolitik während der Kriegszeit erwies. Mit führenden Vertretern des SSV, die sich, wie Charles Linsmayer nachweist (341), seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 erfolgreich für eine restriktive Asylpolitik gegenüber antifaschistischen Schriftstellern - mit Ausnahme der Prominenten unter ihnen - einsetzten, war Welti beruflich unmittelbar konfrontiert. Sein Spiel schliesst nur auf der grossen politischen Ebene mit einem Happy End, das den Oberstrasser »Helden« überdies wie durch ein Wunder zu fällt. Bezeichnenderweise wird der Neffe Napoleon Bonapartes, der nicht zu den typischen Vertretern der liberalen Emigration gezählt werden kann (342) und der als thurgauischer Ehrenbürger einen zusätzlichen Schutz gar nicht nötig hat, mit dem Oberstrasser Ehrenbürgerrecht bedacht. Das scheinbar private Schicksal des liberalen Flüchtlings Grosse aber, der in seiner Heimat für Freiheit und Fortschritt gekämpft hat, bleibt im Ungewissen. Ob der heimliche Initiant und Drahtzieher des »Handels« wie erträumt zum »zweiten Bourgeois d'Oberstrass« (S.17) erkoren wird und sich damit Hoffnungen auf die Hand der von ihm verehrten Tochter des Gemeindepräsidenten machen kann, scheint am Ende mehr als fraglich. Ganz am Rand geht es in dem Spiel auch noch um ein Judengesetz, das aber der Oberstrasser Gemeinderat wegen der anstehenden dringlicheren Geschäfte getrost vertagen kann, da in der Gemeinde nur drei Juden wohnen. Damit wird auf Repression und Pogrom hingewiesen, und es wird - ganz vorsichtig - angedeutet, dass auch die Schweizer nicht vor rassistischen Tendenzen gefeit sind.

Mehr als auf der differenzierten Aussage beruhte wohl der spontane Erfolg dieser Produktion auf ihrer Form. »Napoleon von Oberstrass« ist eine Komödie im besten Sinne und zählt damit zu einem Genre, für welches - damals wie heute - grosse Nachfrage bei geringem Angebot herrschte (343). In seiner Urfassung bestand das Hörspiel aus fünf Haupt- und zwei Übergangsszenen, deren Handlung in Oberstrass und Arenenberg während drei Tagen im August 1838 spielt. Fünf Hauptpersonen stehen mehreren Nebenfiguren und »Statisten« gegenüber. Sie unterhalten sich auf Zürichdeutsch und bringen auch ihre Voten im Gemeinderat in der heimatlichen Mundart vor. Im Gespräch mit dem westfälischen Emigranten Grosse und bei der feierlichen Verleihung des Ehrenbürgerrechts sprechen sie »leicht schweizerhochdeutsch« (S.1) mit unterschiedlich starkem Einschlag, und auch seine Volksrede vor versammelter Bürgerschaft hält der Vicepräsident in helvetisch getöntem Hochdeutsch. Louis Napoleons Deutsch lässt einen schwachen französischen Akzent erkennen. Welti nahm nun also den sprachlichen Pluralismus, der in Bührers »Volk der Hirten« schon früh Im Sendespiel Einzug gehalten hatte, auf und brachte »die Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache«, die später Max Frisch in seiner »Liste der Dankbarkeiten« erwähnt (344), im Hörspiel zum Klingen. Dialog heisst bei Welti nicht nur Rede und Gegenrede in verschiedenen Sprachen, Dialoge werden auf dem Höhepunkt des Spiels auch kontrapunktisch neben die Volksrede des Gemeindevicepräsidenten Greutert gesetzt:

Trotz Parallelführung von Monolog und Dialog behält der Hörer den »Überblick« dank einem Effekt, den man als akustische »Perspektive« bezeichnen könnte: Mutter und Anneli stehen zusammen mit Grosse »im Vordergrund« am Fenster, d.h. in unmittelbarer Nähe des Mikrophons, die Gemeindeversammlung spielt sich draussen, d.h. »im Hintergrund«, ab. Es darf angenommen werden, dass Innen und Aussen schon bei der Ursendung durch unterschiedliche akustische Raumcharakteristiken voneinander getrennt wurden. Realisiert wurde diese relativ komplizierte Szene, wie aus dem Regiebuch zu schliessen ist, indem die Sprecher am Fenster ihre Parts mit genauem Einsatz zur Plattenaufnahme der Rede sprachen; von einer zweiten Platte ertönten gelegentlich die Äusserungen der Volksmenge. An anderen Stellen wurden in diesem Hörspiel Musik, Klänge und Geräusche von bis zu drei verschiedenen Grammophonaufzeichnungen gleichzeitig eingespielt. Der Aufwand ist nicht nur durch die Bedeutung der Passage als Wendepunkt im Verlauf der Handlung gerechtfertigt. Zur Position am Fenster, die dem Hörer quasi neben den Sprechern im »Vordergrund« zugewiesen wird, kann einem Georg Thürers Auffassung in den Sinn kommen, der 1961 dem Schweizer Hörspiel einen ganz ähnlichen Platz zuerkannte: den Erker, der dem Betrachter den Blick auf das Geschehen im Ausland freigibt, ohne dass er auf die Geborgenheit und Annehmlichkeit der guten Stube verzichten müsste. Wollte Welti durch die dramaturgische Anlage dieser zentralen Stelle eine ähnliche Aussage mit politischem Akzent über die Position des Schweizers in Europa machen? Entsprach es seiner Absicht, durch die dem Medium angepasste Form auf subtile Weise (selbstkritische Denkanstösse mitzuvermitteln? Der Schweizer Hörer erlebt sich selbst als Aussenstehenden, die politischen Vorgänge der Zeit von oben aus der Ferne betrachtend; es ist zwar eine schweizerische Landsgemeinde, die sich abspielt, und der Redner ist ein Schweizer, aber es geht um europäische Politik, und den Anstoss zu dem zur Debatte stehenden Handel gab ein westfälischer Emigrant. Die dramaturgische Gestaltung der Volksrede Greuters wäre damit ein Beispiel der gelungenen Synthese von Kunst und Technik, wie sie seit dem Ende der zwanziger Jahre von deutschen Hörspielmachern angestrebt wurde.

Vom Werk eines erfahrenen Regisseurs wie Arthur Welti sollte man erwarten, dass es auf der Höhe der zeitgenössischen Hörspieldramaturgie stand, die allerdings nach dem Urteil von Ernst Bringolf auch damals noch in den Anfängen steckte. (345) Zu den überholten Formen gehörte sicher die Verknüpfung von Szenen mittels »Blende aus einem Geräusch weg und in ein anderes hinein« (346), die wesentlich zum Erfolg von »Nordheld Andrée« beigetragen hatte und von Lang auch in den vierziger Jahren noch weiter perfektioniert wurde. Nach Schwitzkes Angaben wurde sie in Deutschland »seit den lärmvollen Anfängen nur höchst ungern verwendet«. Dieses »Überblenden« und »Durchblenden« (347), bei Lang öfters als kunstvolle Assoziation zweier Geräusche, Klänge oder Melodien mit ähnlichem Rhythmus, wird bei Weltl durch schlichtere Überblendungen und durch Veränderung der Raumakustik abgelöst. Ein »grob merkbarer Wechsel der Raumakustik« erschien Schwitzke 1963 nicht mehr zeltgemäss. (348) Bringolf hatte schon 1933 Im Manuskript zu seinem programmatischen Hörspiel »Ein Mensch allein« wiederholt ein solches »Umschalten« vorgesehen und wohl vier Jahre später auch in seiner eigenen Inszenierung verwirklicht. Die Technik der Raumblende war also 1938 kein Novum mehr, doch dürfte Weltis kunstvolle Verwendung dieses Mittels, das in seiner Inszenierung, einem filmischen Travelling vergleichbar, die drei ersten Szenen miteinander verklammert, einen unbekannten Reiz auf das Schweizer Publikum ausgeübt haben. Die Regieanweisungen vermitteln allerdings nur eine unvollkommene Vorstellung von der aufwendigen dramaturgischen Gestaltung dieser Passage:

Akustische Perspektive und akustischer Wechsel sind den Intentionen von Weltis Spiel angemessene technisch-dramaturgische Mittel, insofern sie die Position des Mikrophons und damit des Zuhörers festlegen und mitübertragen. Durch die Äusserungen der sich am Fenster Unterhaltenden wird trotz ihrer grundsätzlichen Zustimmung die Distanz zum Redner offenbar. Der Hörer ist nicht mehr nur Objekt der Ansprache, sondern kann sich durch die klare Perspektivik des Spiels seiner subjektiven Position bewusst werden. Damit ist die Voraussetzung zu einer kritischen Stellungnahme gegeben, welche ja das Hörspiel provozieren will. Durch die Reihe von akustischen Wechseln im Übergang von der ersten zur dritten Szene wird die Perspektive in übertragenem Sinne verändert und damit das Spannungsfeld exponiert, in welchem die Personen handeln. Zwei statische Innenszenen werden durch eine bewegte Aussenszene verknüpft. In der ersten Szene erscheint Louis Napoleon im Blickwinkel des unbedeutenden Emigranten Grosse, des deutschen Liberalen, der sich mit Idealistischem Feuer für die »grossen Dinge« der Weltpolitik engagiert; in der dritten Szene steht der Exilfranzose als Traktandum der Oberstrasser Gemeinderatssitzung zur Debatte und wird damit im Licht pragmatischer Tagespolitik gezeigt; die Übergangsszene konkretisiert das »Vaterland«, in dem sich beides abspielt, soweit, dass jeder patriotische Hörer es aufgrund seiner eigenen Erfahrung vor dem inneren Auge zu sehen meint:

Vater: [...] »E prächtigs Luege isch es aber doch, gäll Chind? All die Räbe de ganz Rai ab und duruf bis zum Milchbuck...
Anneli: Und der Zürisee und d'Berg derhinderzue... Lueg, wie blau si sind!
Vater: Säg, hämmer nüd e schöns Ländli? Müemer nüd em Herrgott danke, dass mer drin labe dörfed?... Los, wie d'Schwälmli zwitschered... Morn hämmer sicher wieder guet Wätter... Chind, gäll, de machscht mer e kei Sorge? Sig vernünftig...« (S.6)

Ein historisches Idyll, gewiss, aber erträglich durch die ironische Zeichnung der Protagonisten dieser »komischen Geschichte« und poetologisch gerechtfertigt als ideale Folie, zu welcher die zeitweilig mangelhafte Verfassung der »Heimat« im Kontrast steht. (349) Im Aufleuchten dieses Ideals zeigt sich, dass Welti hier ebenso auf dem Boden der Geistigen Landesverteidigung steht wie in der verdeckten Art der Feinddarstellung, in welcher sein Spiel ganz den Grundsätzen der SRG-Richtlinien folgt. Gegen die Grossmacht Frankreich als Aggressor liess sich von deutscher Seite kaum etwas einwenden, zumal dann nicht, wenn ein Westfale als Freiheitskämpfer auftritt. Und beim parabolischen Sinn der historischen Episode konnte man weder den Autor noch die SRG behaften. Dennoch musste allen Hörern klar sein, was gemeint ist, wenn ein Oberstrasser Gemeinderat angesichts der plötzlichen helvetischen Eintracht ausruft: »Herrgott, isch das ein Geist...« (S.24) Im »Landigeist« konkretisierte sich kurz nach der Ursendung von Weltis Hörspiel dieses Gefühl der Verbundenheit im Gefolge der Landesausstellung 1939.

 

 

(337) Hausmann/Held/Bürgin/Job, 1965
(338) Pgr 3/86, S.14
(339) A.W., »Napoleon von Oberstrass«, in: SRZ 36/38, S.18
(340) ib.
(341) Ch.Linsmayer, Literarische Rapporte (4): Schweizer Autoren unter dem Hakenkreuz. Zwei Tellensöhne biedern sich im Nazideutschland an, in: ZO, 28.4.89, S.9
(342) vgl. Kreis, 1986, S.71
(343) vgl. P.L., Preisfrage, in: GA 1/38, S.15; Kirton, 1975; Hörspielautor - kein Beruf zum Reichwerden, in: Sonntags-Zeitung, 19.2.89
(344) M.Frisch, Tagebuch 1966-1971, in: Frisch, 1976, Bd.VI, S.255
(345) E.B., 1938, S.3
(346) Schwitzke, 1963, S.191 f
(347) vgl. Schwitzke, 1963, S.193, Anm.: »'Überblenden-: eine Szene ausblenden, dann die andere einblenden. — »Durchblenden«: von einer Szene zur andern blenden, doch so, dass, wenn die eine verschwindet, die andre schon kommt, also beide ein Stück weit gleichzeitig zu hören sind.« An derselben Stelle definiert Schwitzke auch die Begriffe »Einblenden« und »Ausblenden«. Als Beispiel für ein besonders manieriertes Durchblenden sei ein Szenenwechsel aus Langs Schulfunkhörspiel »Die tragische Südpol- Expedition des Kapitän Scott« (7.12.42) angeführt: »Das Hundegebell wird stärker denn je. Allmählich wird darin ein Rhythmus erkennbar, etwa wuwuwu wuwuwu wuwuwu. Dann wird der Kläffrhythmus aufgenommen von einem Geräuschinstrument und geht so weiter. Zuletzt verwandelt er sich in ein musikalisches Motiv (Cello?), das sich sänftigend, übergeht in eine Melodie. Nach den ersten Sätzen der folgenden Szene entschwindet sie.« (S.9)
(348) ib., S.191
(349) vgl. Fr.Schiller, Über naive und sentimentallsche Dichtung, in: Werke, Bd.4, FfM. (Insel) 1966, S.313


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Napoleon III. (1808-73)

Napoleon von Oberstrass
Typoskript 1938/42 und neue Szene aus dem Typoskript 1961