Urs Widmer, »Wer nicht sehen will, muss hören« (1970)
Typoskript

 

Als eine der frühesten Produktionen eines Schweizer Autors, welche an den experimentellen Tendenzen des Neuen Hörspiels in der Bundesrepublik orientiert war, wurde Urs Widmers »Wer nicht sehen will, muss hören« (DRS-2, 6.4.70) von Andreas Fischer realisiert und im Montagsstudio gesendet. Dieses für das damalige Programm aufsehenerregende Hörspiel, mehr eine Auseinandersetzung mit dem Kriminalhörspiel als selbst ein solches, war zuerst durch Heinz von Cramer produziert und am 5.11.69 vom WDR Köln urgesendet worden.

Das Spiel baut auf zwei scheinbar voneinander unabhängige Realitätsebenen auf, deren erste von vier alten Damen (Lilly, Lydia, Alice und Babett), deren zweite von vier Kinderstimmen konstituiert wird, »Das Hörspiel beginnt so, als wäre alles »wirklich«« (S.1): Vogelzwitschern, fernes Glockengeläute, eine muhende Kuh, Grillenzirpen im Hintergrund sollen die Vorstellung tiefen Friedens evozieren, was durch das Klappern der Teetassen und durch die Klänge einer alten Tango-Platte noch unterstützt wird. Die vier alten Damen führen sich durch ihr Teegespräch als englische Ladies von echt konservativer Denkungsart ein. Ihre Konversation besteht nebst fadenscheinigen Komplimenten für die Gastgeberin grösstenteils aus isolierten Monologen über belanglose Themen und aus trivialen Lebensweisheiten, die ebenso unvermittelt aufeinanderfolgen; kurze Schilderungen dessen, was sie sehen, vermitteln dem Hörer gewisse optische Anhaltspunkte, und Erinnerungen an frühere Zeiten tragen zur weiteren Konkretisierung der Vorstellungen der Hörer bei. Durch »brüskes Abbrechen aller Hintergrundgeräusche« (S.3) wird die zweite Ebene eingeführt: Die vier Kinder sprechen ihren Text, keine Dialoge, sondern in der Regel voneinander unabhängige, nur in der Thematik verwandte Statements, so, »als würden sie ihn zum erstenmal von einem Blatt ablesen«. Durch den bewusst nicht »lebendigen« Vortrag von Texten, die auch in Sprache und Inhalt nicht zu ihren Sprechern passen, entsteht eine stark verfremdende Wirkung. Auf das harmlose Gespräch zu Tee und Kuchen trifft abrupt die von der ersten Kinderstimme vorgetragene Passage:

»Er haut ihm eine runter und knallt ihm die Faust ins Gesicht und tritt ihm seinen Absatz in den Bauch und reisst ihm ein Ohr ab und packt ihn an der Krawatte und wirft ihn durchs Wirtshausfenster und schmettert ihm eine Bierflasche über den Schädel und haut und sticht und schiesst kch kch kch.« (S.3)

Die Äusserungen der drei anderen Kinderstimmen sind ähnlich aggressions- und konfliktgeladen. Nach einer von allen vier Stimmen gesprochenen Passage »wird der Tonhintergrund wieder plastisch und "wirklich"« (S.4) wie zuvor, und man folgt den Reminiszenzen der vier alten Damen über ihre Erlebnisse am Zarenhof im alten Russland und in den britischen Kolonien. Es wird angenommen, »dass der Hörer hier schon ein festgefügtes Bild von den sprechenden Damen und ihrer Umgebung bekommen hat«; mitten in dieser Szene wird nun »die Erwartung gestört durch ein - durchaus unheimliches - Geräusch, ein heiseres Atmen ganz nahe am Mikrofon« (S.5), ferner durch das Knarren einer Tür und das Knirschen einer Dachrinne, beides in der Art, wie man sich dies in einem der »naiv gezimmerten Hörspiele« etwa des »Wäckerli«-Zyklus vorzustellen hat. (101) Die Damen lassen sich dadurch in ihrer Konversation aber keineswegs stören. Jetzt »bricht das Unglück in das Hörspiel«: Der Hörer soll erschreckt werden durch lautes Fensterklirren, Heulen des Windes, Kreischen der Frauen. Nach dem leitmotivischen Geräusch des Atmens und einem kurzen »bösen« Gelächter phantasieren die Kinderstimmen über den heulenden Hund im Moor von Baskerville; nebst Sherlock Holmes werden weitere berühmte Detektive aufgezählt und die Erscheinungsweise verschiedener Typen von Verbrechern beschrieben. Nach der Feststellung: »Morde kündigen sich durch Geräusche an« melden sich wieder die alten Damen, die feststellen, dass Lydia mit durchschnittener Kehle auf dem Teppich liegt. Alice nimmt den Satz der Kinder: »Morde kündigen sich durch Geräusche an« auf und betont gleich darauf, sie habe nichts gesehen. Obwohl das unheimliche Atmen sowie andere störende Geräusche ständig präsent sind, stellt sie auch fest, sie habe nichts gehört. Auf Alices Frage: »Hört ihr?« soll nach dem Willen des Manuskripts eine Minute völlige Stille folgen, während der, wie die Regieanweisung vorschreibt, »die Hörer hören«; in der Inszenierung von Radio DRS dauert sie nur gerade zwölf Sekunden, was der Provokation die Spitze nimmt, aber ausreicht, um den Eindruck einer willkürlichen Sendepause zu vermitteln.

Im folgenden machen sich unangenehme, unpassende Geräusche immer stärker bemerkbar, und das Verhältnis der drei verbliebenen Damen ändert sich: Lilly, die Gastgeberin, wird zunehmend aggressiver und beginnt die anderen beiden zu dominieren. Alice wird das zweite Opfer des »geheimnisvollen Mörders«. Lilly und Babett sprechen mit zunehmendem Tempo und beginnen »zu handeln«, indem sie das Haus verlassen. Dieses Geschehen wird unterbrochen von nunmehr längeren Passagen, in denen die Kinderstimmen über das Treiben Al Capones in Chicago, über die abenteuerliche Seereise eines britischen Handelsmarineoffiziers namens Jim, über den schrecklichen Fantomas mit seinem schwarzen Umhang und Zylinder und über vierzig Räuber berichten, die mit ihrem Hauptmann, vermutlich Rinaldo Rinaldini, in Höhlen im Innern Siziliens hausen, die früher von Hexen und Vampiren bewohnt waren. Hier werden die beiden Ebenen, zwischen denen bereits früher, etwa in dem Satz über die Morde ankündigenden Geräusche, einzelne Verbindungen geschaffen wurden, endgültig miteinander verschränkt: Lilly führt Babett in eine Höhle, wo nicht nur die Tango-Melodie des Beginns, sondern auch das ferne Singen von Männerstimmen zu hören ist, die offenkundig jene der von den Kindern beschriebenen Räuber sind. Geräusche von Folterungen: das Knarren einer Holzwinde, Stöhnen, Schreie, Knochensplittern etc. ertönen, während die Kinderstimmen über das schreckliche Ende des Frauenmörders Landru berichten. In nunmehr lebendiger Sprechweise (vgl. S.3) verkünden sie »frohgemut«, während schon der Tango als Schlussmelodie einsetzt:

»Lilly hat, wie wir sehen, einen ganz blutverschmierten Mund. Sie hat, wie wir sehen, ganz blutrote Augen. In der Tat liebe Freunde, da haben wir einen ganz exzellenten Fang getan. Man setze diese alte Dame, die wir hier sehen, diesen Herrn mit dem schwarzen Umhang und dem Zylinder, den wir da sehen, diese vierzig unordentlich gekleideten Herren, die wir dort sehen, und diesen einundvierzigsten Herrn mit der schwarzen Binde, die wir auf seinem Auge sehen, hinter Schloss und Riegel.« (S.21)

Dieses Hörspiel entspricht nur äusserlich und lediglich in zwei Grundelementen dem Schema der Kriminalerzählung: Es lässt den Hörer einen »Fall« miterleben, der hier aus drei Morden besteht, und es führt am Schluss zu einer Art »Detektion« dieses Falles, die aber insofern unbefriedigend ausfällt, als nicht zweifelsfrei ein Täter festgestellt, sondern lediglich alle »Verdächtigen«, eine alte Dame mit vampirischen Anwandlungen, Fantomas sowie der Räuberhauptmann mitsamt seinen vierzig Spiessgesellen, verhaftet werden. Zudem wird erst ganz am Schluss klar, dass den Kinderstimmen die Rolle des »Detektivs« zufällt. Ein Bericht über die »Vorgeschichte« der Morde und somit deren Aufklärung entfällt völlig. »Wer nicht sehen will...« ist demnach nicht eigentlich ein Kriminalhörspiel, sondern bedient sich dessen Mittel, um etwas über das Hörspiel und dessen Rezeption auszusagen. Wie in vielen seiner Werke folgt der Autor auch hier »seinem Konzept, das Erzählen selbst zu thematisieren.« (102) Urs Widmer hat sich nicht nur in diesem, seinem ersten Hörspiel, sondern auch im folgenden immer wieder, vor allem in seinem Bühnenstück »Die lange Nacht der Detektive« (1973), mit dem Thema der Kriminalliteratur auseinandergesetzt. Im Vorwort zu diesem Werk äusserte er sich über die »Welt der Detektive«, welche nach seiner Auffassung als »eine Lektüre von Männern für Männer« die Emotionswelt »der Pubertät von Knaben« konserviert. Aufgabe der Detektive ist es, »die aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot zu bringen. Damit liefert der Kriminalroman manifest inhaltlich, was möglicherweise ein Bemühen der Künste überhaupt ist: die Phantasie und die Realität, die Träume und das Leben, die Sehnsüchte von früher mit den Realitäten von heute wieder zusammenzubringen. Wenn der Detektiv den Fall gelöst hat, ist die verstörte Welt wieder In Ordnung, bis zum nächsten Mord. Für einen kurzen Augenblick haben wir das Paradies betreten.« (103) Seine Gedanken zu diesem Thema hat Widmer 1972 In seinem Essay »Das Normale und die Sehnsucht« entwickelt.

»Wer nicht sehen will...« handelt freilich mehr von einer aus den Fugen geratenden Welt als von deren Rettung, welche schon den Nachfahren des mustergültigen Sherlock Holmes nicht mehr so recht gelingen will. Chandlers Philip Marlowe ist nicht mehr Exponent einer öffentlichen Moral, sondern kämpft für seine eigene Überzeugung, welche den gesellschaftlich anerkannten Normen geradezu entgegengesetzt ist. Detektive und Agenten einer jüngeren Generation wie Jerry Cotton und James Bond stimmen mit der gängigen Moral wieder so sehr überein, dass sie mit deren Legitimation gelegentlich zu kaltblütigen Mördern werden, doch lässt sich so die Ordnung der Welt auch nicht befriedigend wiederherstellen. (104) Wldmers Hörspiel führt eine Welt vor, die sich »inzwischen doch unübersehbar von den Detektiven wegentwickelt« hat. (105) Es dient als literarisches Experimentierfeld, als »eine Art Vorstadium des Handelns«, in welchem »extreme Konzepte bis hin zu Mord und Totschlag« ausprobiert werden können, ohne dass dies für die Beteiligten, den Autor und die Hörer, fatale Folgen hat. (106)

Wer genau hinhört, wird feststellen, dass die Detektion nicht erst am Schluss, nach dem dritten Mord, sondern schon unmittelbar nach Beginn des Spiels einsetzt, wenn die mit akustischen Mitteln erzeugte friedliche Ambiance durch die Konversation der alten Damen unterbrochen wird: »die natürliche Idylle wird durch Sprache, als dem sozusagen kultiviertesten Geräusch, gestört.« (107) Bald schon entlarven sich die zunächst so harmlos erscheinenden Ladies durch ihre Stimmen, die manchmal »böse« tönen sollen, und durch ihr verhaltenes, »böses« Lachen, und auch das friedliche Klappern des Teeservice wird von unangenehmen Störgeräuschen überlagert. Während die drei anderen Damen sich mehr als Mitläuferinnen entpuppen, lässt Lilly ihre Maske gegen den Schluss völlig fallen. »Fantomas sieht aus wie ein Graf. Autorennfahrer sehen aus wie Bankbeamte, Filmschauspieler sehen aus wie Kaminfeger, Menschen, die man nicht vergisst, sehen aus wie Menschen wie Du und ich, Mörder sehen aus wie Zuckerbäcker«, kommentieren die Kinderstimmen, während Lilly sich Babett, Ihrem letzten Opfer, zuwendet. (S.16) Die anfängliche Normalität des Teegeplauders erweist sich immer mehr als Verstellung, und der sich enthüllende wahre Charakter gleicht immer mehr den von den Kindern beschworenen Kampf- und Katastrophenszenen, die zu Beginn noch eine stark verfremdende Wirkung hatten.

Fantomas und die vierzig Räuber mit ihrem Chef sind triviale Mythen, wie sie Widmer in seinem Essay »Über (triviale) Mythen« definiert hat, »starre, auf weniges reduzierte Abziehbilder von dem, was wir Wirklichkeit nennen«, die nur die »schöne Oberfläche« zeigen und »von Veränderungen nichts wissen« wollen. (108) Sie reduzieren die komplexe Realität auf einfache Sachverhalte und steuern so unsere Wahrnehmung und unser Denken. Indem Widmer Trivialmythen mit ungewohnten Kontexten konfrontiert oder ihnen unerwartete Eigenschaften und Verhaltensweisen zuspricht, arbeitet er »sie sozusagen semantisch auf und macht sie dadurch als Mythen fragwürdig.« (109) Aus der sizllianischen Räuberbande wird Jahre nach Widmers erstem Hörspiel eine Schar von Freiheitskämpfern, die reiche Bankiers ausrauben, um das Geld an Arme und Unterdrückte zu verschenken: »Rinaldo Rinaldini ist edel, hilfreich und gut.« (110) Die Sympathie des Lesers ist nicht zuletzt deshalb auf seiner Seite, weil er als ganz untypischer »Räuber« gezeichnet ist, der seinen Genossen Lebkuchen und Teddybären vom Jahrmarkt in Palermo mitzubringen verspricht, mit seiner Freundin Rosa Zuckerwatte essend durch das Gedränge schlendert und seine eigenen Taten im Kaspertheater beklatscht. Im Hörspiel werden die Räuber nicht über den trivialen Mythos hinaus entwickelt. Sie lassen sich deshalb am Schluss zusammen mit Lilly, die ihren Weg zu ihnen gefunden hat, auch einfach hinter Schloss und Riegel setzen; der alte Tango übertönt alles, was da für kurze Zeit aufgebrochen war, mit schönen Klängen. Der Fall gilt als »gelöst«, obwohl das Motiv für die Morde nicht geklärt ist. Der Status quo ist wiederhergestellt. Die zirkuläre Struktur des Hörspiels, bei Dürrenmatt, Frisch und Eich erprobt und für das Neue Hörspiel typisch, wird hier offenbar.

Urs Widmer hat In seinem Vorwort »Über Detektive« die von der Aussenwelt isolierte Welt der Detektive mit der »in sich geschlossenen Kinderwelt« seiner Zwerge verglichen, die er in seiner Kindheit als »eine horizontal strukturierte Gesellschaft« erlebte: »Ich war Zwerg unter Zwergen, primus inter nanos.« (111) Genau gleich erscheinen der Hauptmann und seine Räuber, deren kindlicher Charakter in »Rinaldo Rinaldini« betont wird. Die Kinder sind im Hörspiel nicht von Anfang an einfach da, sondern sie erwachen bezeichnenderweise aus einer Art magischem Schlaf, nachdem Lydia begonnen hat, über Zwerge zu sprechen. Wie mit dem Zauberstab angerührt, sind sie mit einem Schlag hellwach und bestimmen von diesem Moment an durch ihr Phantasieren das »Geschehen«. Die gegensätzlichen »Rollen« der Detektive und der Räuber fallen im Hörspiel in den Kinderstimmen zusammen, sind sie es doch, die durch ihre Rezitation das Bild der Räuberbande hervorbringen und diese durch die Aufforderung zur Verhaftung auch wieder aus dem Spiel ziehen. Die Detektive sind identisch mit den als Täter Überführten, die gar nicht die Täter sind. Das Kriminalhörspiel führt sich selbst ad absurdum, will gar nicht Kriminalhörspiel sein.

»Wer nicht sehen kann, muss hören«, lautete der ursprüngliche Titel der vom WDR produzierten Urfassung des Hörspiels. Durch die Veränderung in der Schweizer Fassung (»Wer nicht sehen will...«) wurde zwar die Aussage verschärft, der Sinn aber nicht unbedingt verdeutlicht. Zweifellos verbirgt sich hinter dem Satz die Volksweisheit: »Wer nicht hören will, muss fühlen«, in welcher sich in der Form einer verhüllten Drohung das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten ausdrückt. Vor allem Alice ist eine Figur, die nicht hören kann - oder will. Sie wiederholt gedankenlos den Satz der Kinder: »Morde kündigen sich durch Geräusche an«, und fügt gleich hinzu: »Ich habe nichts gesehen. Jeder Mörder summt oder pfeift oder hüstelt oder schneuzt sich. Ich habe niemanden gesehen.« (S.8) Hören ist für sie offenbar identisch mit Sehen. Eine vom Sehen unabhängige akustische Wahrnehmung scheint ihr nicht möglich zu sein, denn auch von dem für den Hörer vernehmbaren Atem hat sie »nichts gehört«. Aus der »Hör-Lektion« lernt sie nichts und muss deshalb »fühlen«: Sie wird ermordet. Wir haben uns so sehr an den allgegenwärtigen »mörderischen« Lärm gewöhnt, dass uns die Stille unerträglich ist. Aufgabe der permanenten Begleitprogramme ist es, sie zu überdecken. »Radioohren« sind so darauf eingestellt, dass im nächsten Moment wie weggeblasen scheint, was eben gehört wurde; als schlimmste Störung wird empfunden, wenn das Programm ausfälit. Die Opfer in Widmers Hörspiel sind Figuren, die offenen Ohres nicht mehr hören können, die aber hören müssten, um dem Verhängnis, das man nicht sehen kann, zu entgehen. Die an den ersten Mord anschliessende Szene demonstriert ihre Unfähigkeit, Gehörtes sinngemäss zu deuten:

»Alice: Ich habe nichts gehört.
(Der Atem ist immer noch da)
Babett: Das war ein Stier.
Lilly: Nein, da war ein anonymer Telefonanruf.
(Jetzt knarrt es auch)
Babett: Ja, da hat der Wind die Esszimmertür zugemacht.
Lilly: Da hat jemand eine Kiste mit einem Stemmeisen aufgebrochen.
(Und jetzt das Dachrinnengeräusch)
Babett: Der Verbrecher hat sich mit letzter Kraft an der Dachrinne gehalten und die Dachrinne hat langsam nachgegeben.
Lilly: Nein, jemand hat seinen zerbeulten Kotflügel wieder ausgewuchtet.
Alice: Hört ihr?
(Eine Minute völlige Stille / Die Hörer hören)
Lilly: Ja. Und es hat gemuht und geplätschert und gestöhnt und geklingelt und gerasselt und gepfiffen und gesurrt und gequieckt und gerauscht.
Alice: So?
(Gleichzeitig rasselt es so wie wenn ein Geldautomat eine Mark auszahlt)
Babett, Lilly: Nein, anders.
Alice: So?
(Eine Feile, die über Metall fährt)
Babett, Lilly: Nein nein, anders.
Alice: So?
(Ein Springer macht einen Kopfsprung ins Wasser)
Babett, Lilly: Nein nein, ganz anders.
Alice: So? (Eine flüsternde Menschenmenge)
Babett, Lilly: Ja. Genauso.« (S.8 f)

Nicht nur kündigen sich Morde durch Geräusche an, der Mörder selbst ist, wenn man Michael Krügers Interpretation folgen will, ein Geräusch: »Was in den Träumen der Kinder spukte, aber unhörbar war, macht sich hier plötzlich vernehmbar in lauten, tödlichen Geräuschen, die auf die Erwachsenen niederfallen und sie umbringen. Die Phantasie schleicht sich in den Salon ein und hält ein schreckliches Gericht über die Normalität.« (112) Sie wurde durch Lydia, die sich später auch als einzige von den unheimlichen Geräuschen irritieren lässt, wachgerufen. Durch die Kinderstimmen wird vernehmbar, was man nicht sehen kann: nicht nur die erfundenen und auf Tatsachen beruhenden »Morde der Weltliteratur«, sondern ein ganzes Universum von Traum und Phantasie, von Geister- und Abenteuergeschichten. Dass sich Geräusche in der beschriebenen Weise verselbständigen und in die Handlung eingreifen, ist nur die eine Art ihres Auftretens in diesem Spiel. Die andere besteht darin, dass Alice wie der Schriftsteller in Dürrenmatts »Doppelgänger« frei über sie verfügt, verschiedene Geräusche sozusagen »zitiert« wie sprachliche Äusserungen, um sich mit ihren Freundinnen über die Qualität ihrer Wahrnehmung von Stille zu einigen; sie treffen sich im Flüstern einer Menschenmenge, gewissermassen einer unendlich vielstimmig tönenden Stille. Urs Widmer ging in der Verwendung des Geräusches entschieden weiter als Dürrenmatt, der sich seiner mehr als zwanzig Jahre zuvor schon mit ungewohnter Freiheit bedient hatte. Sprache und Geräusch bilden in Widmers Hörspiel zwei autonome Handlungsebenen, die aufeinander einwirken. Wie Dürrenmatt löst auch er auf verschiedene Weise Handlung in Sprache auf, aber im Unterschied zu Dürrenmatt macht er das Geräusch zu einem bestimmenden Moment der Handlung.

Auch der Hörer erhält in diesem Spiel seine Hör-Lektion, welcher nur durch Ab- oder Umschalten zu entgehen ist. Wenn er sie begriffen hat, wird ihm klar sein, dass hier keine als quasi sichtbar vorzustellende Figuren auf seiner »inneren Bühne« auftreten, sondern Stimmen und Geräusche, die von Lilly bloss behelfsmässig in eine leichter vorstellbare, visuelle Form übersetzt werden, wenn sie etwa feststellt: »Ich sehe, das ist ein entsetzliches Verbrechen. Ich sehe, der lieben Lydia ist die Kehle durchschnitten worden, das Blut fliesst, wie ich sehe, über den ganzen Teppich und färbt ihn blutrot« und daraus schliesst: »offensichtlich ist die liebe Lydia tot.« (S.8) Widmers Hörspiel ist mehr noch eine Abhandlung über unser Unfähigkeit zu hören als eine »Abhandlung über den Terror von Geräuschen«. (113) Dass in diesem Hörspiel die akustische Ambiance und der kultivierte Dialog durch das archaische Geräusch unterwandert wird, dem sich nur mit Mühe Bedeutung zuordnen lässt, ist nur ein schockierendes Element unter mehreren. »Geräuschkisten« waren zwar bei Schweizer Dramaturgen seit jeher verpönt; die Hörer schätzten sie jedoch, wenn sie in so naiver Form auftraten wie etwa in den »Wäckerli«- oder »Fährima«-Hörspielen. Viel mehr als »Ohrfeige« wirkte wohl die Sendung einer länger dauernden Stille, wie sie in der Mitte von Widmers Hörspiel vorgesehen ist, auch wenn die Abschaffung der radiophonischen Stille im Programm des Schweizer Radios um 1970 erst im Planungsstadium begriffen war. »Mach die Augen zu, / was du dann siehst, / gehört dir.« (114) Diese Verse von Günter Eich könnten einem in den Sinn kommen, nur müsste nun das Sehen durch das Hören ersetzt werden. Der Hörer wird zum Ohrenzeugen der Hörversuche von vier Damen, die das Normale, Faktische verkörpern und mit dem Phantastischen, Fiktiven konfrontiert werden. Und er wird als mündiger Hörer aufgefordert, sich seiner eigenen (akustischen) Phantasie zu bedienen.

Im Hinblick auf solche »Sakrilegien« wie den Einbezug einer minutenlangen Stille scheint Widmers erste Radioarbeit - aus heutiger Sicht - vielleicht etwas zu sehr am Experiment mit radiophonen Grundelementen orientiert, wie es durch das Neue Hörspiel in der Bundesrepublik gerade erst in Mode gekommen war. Die lehrhafte Absicht ist zu deutlich spürbar und könnte ihren Zweck leicht verfehlt haben. Etwas überladen scheint dieses Kriminalhörspiel, das keines sein will, im Hinblick auf die Zahl der Stimmen, die sich ohne grosse Verluste reduzieren liesse, und auch im Hinblick auf die Menge der von den Kinderstimmen thematisierten Stoffe. In seinem mit dem »Hörspielpreis der Kriegsblinden« ausgezeichneten Hörspiel »Fernsehabend« (SWF, 6.5.76) ist es dem Autor gelungen, sein Thema, das in mancher Hinsicht mit demjenigen seines Erstlings verwandt ist, in viel kompakterer Form und mit wesentlich weniger personellem Aufwand zu gestalten. Für »Wer nicht sehen will...« gilt in gewissem Masse auch, was Reinhard Döhl für Ferdinand Kriwets noch komplexere »Hörtexte« geltend machte, dass dieses Hörspiel - im Unterschied zu unterhaltenden Krimi-Produktionen - kaum schon beim erstmaligen Hören ganz erfasst werden kann und sich in seinen »vielfältigen Spannungen und Bezügen erst allmählich« erschliesst. (115) Die Tatsache, dass Urs Widmers schwieriges, den dramaturgischen Gepflogenheiten der Abteilung »Dramatik« radikal widersprechendes Hörspiel ein halbes Jahr nach seiner Ursendung in einer Eigenproduktion im Programm von Radio DRS zu hören war, kann als Beleg für das von Hans Hausmann geforderte Streben nach grösstmöglicher Öffnung aufgefasst werden. »Wer nicht sehen will...« markiert, zusammen mit wenigen experimentellen Produktionen der siebziger und achtziger Jahre, die Grenze des Möglichen und muss als eher seltene Ausnahme von der Regel betrachtet werden. Nicht von ungefähr kommt es wohl, dass zehn Jahre vergingen, bis Studio Basel damit begann, Stücke und Hörspiele von Urs Widmer in Dialektbearbeitungen selbst zu produzieren.

 

(101) U.Widmer, Ein Hörspiel schreiben, in: Schöning, 1970, S.121
(102) M.Koetzle, Urs Widmer, 6.Nlg. (1980), S.7, in: Arnold, 1978
(103) U.Widmer, Über Detektive (Vorwort), in: Die lange Nacht der Detektive, Zürich (Diogenes) 1973, zit. nach: Widmer, 1980, S.201
(104) vgl. ib., S.197
(105) ib., S.201
(106) U.Widmer, Ist Schreiben Handeln, oder bereitet es Handeln vor, oder verhindert es Handeln, oder was? (1973/1975), zit. nach: Widmer, 1980, S.110
(107) M.Krüger, Wiedergehört: Urs Widmer. Wer nicht sehen kann, muss hören (1975), in: Schöning, 1983, S.285
(108) U.Widmer, Über (triviale) Mythen, in: Widmer, 1972, S.22
(109) M.Koetzle, a.a.O., S.4
(110) U.Widmer, Rinaldo Rinaidini (1974), zit. nach: U.Widmer, Vom Fenster meines Hauses aus, Zürich (Diogenes) 1977, S.175
(111) U.Widmer, Über Detektive (Vorwort), a.a.O., S.192
(112) M.Krüger, a.a.O., S.286 f
(113) ib., S.286
(114) G.Eich, Die Herkunft der Wahrheit (1964), in: Eich, 1973, S.104
(115) R.Döhl, Das Neue Hörspiel im ARD-Spielplan 1969. Stichproben, in: Schöning, 1982, S.77 f

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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