Produktionsästhetik: der Autor als Co-Regisseur. Notizen
Beobachtungen bei der Produktion von Peter Josts Hörspiel "Unheimliche Vertrautheiten" am 19.1.1987

Peter Jost, "Unheimliche Vertrautheiten (Die Reise der Charlotte Corday)" (77') * Stereo; Musik: Daniel Meier * Regie: Franziskus Abgottspon, Zürich, 2.6.87 * 87 (DRS-2, 2 Sdg.); 89 (DRS-2, 1 Sdg.)

Ursprünglicher Titel: "Missionare - Mörder - Träumer"; Umarbeitung eines Theaterstücks; Peter Jost hat nach umfangreichen Strichen die 3. Version durch einzelne Passagen aus dem Theaterstück ergänzt.

fab (Regisseur Franziskus Abgottspon) bittet die Schauspieler, "atemmässig am Mikrofon zu bleiben und zu reagieren." An anderer Stelle fordert er einige Atemzüge zur Betonung des Lasziven: "Das sind diese berühmten Atmer, die ich so gern habe."

In der 1. Szene wird der natürliche Hall eines Requisitenraumes ausgenützt, für die folgenden Gefängnisszenen wird künstlicher Hall bei der Montage hinzugefügt. Der natürliche Hall kommt am besten zur Geltung, wenn die Schauspieler nicht zu nahe ans Mikrofon herantreten, sondern lauter sprechen.

Effekt eines "Schwenks" oder "Zooms" (keine Differenzierung): die 2. Figur wird zurückgezogen. "Jetzt sind wir bei ihm [1. Figur], ist wie ein Schwenk."

Intimität innerer Monologe entsteht, indem leise, "ohne Druck", nahe am Mikrofon gesprochen wird; dabei muss der Schauspieler verhindern, dass Speichel auf die Mikrofonmembran kommt, indem er knapp am Mikrofon vorbeiredet.

Anweisung fab: "...am Schluss auf Punkt gehen."

Naturalistische Form: Magenknurren während eines Dialogs bleibt drin: "Was Schöneres könnten wir ja nicht inszenieren!"

Semantische Zweifelsfälle werden mittels Duden abgeklärt. fab rechtfertigt dies anhand einer Anekdote: Ein Gast bedankt sich für das "frugale" Mahl und bewirkt damit Verwirrung. Frugal kann laut Duden auch im Sinne von "üppig, schlemmerisch" verwendet werden.

Peter Jost besteht auf der weniger gehobenen Form "gebärst", welche Frau Kessler durch das hochsprachliche "gebierst" ersetzt haben wollte.

Direkte Aufnahme von heiklen, emotional schwierigen Szenen ohne Probe: fab: "Ich bin für Direktschüsse hie und da." - "Ich weiss, man kann solche Szenen nicht beliebig oft wiederholen." - "Proben solcher Szenen sind immer die besten; das kann nachher oft nicht mehr erreicht werden."

Geräusche (Schritte, Rascheln von Gewand) werden oft weggelassen und nachher hineinmontiert; dazu ist es nötig, dass die Schauspieler die erforderlichen Pausen machen.

Zur 8. Szene (Corday/Alexandrine): fab: "Bei euch zwei hätte ich sehr gern, dass ihr an die Grenze des Boulevardstils geht."

fab verwendet drei Viertelstunden auf die Einstimmung der beiden jungen Schauspielerinnen, erzählt Anekdoten, macht anhand trivialer Beispiele klar, wie er eine Passage intoniert haben will. Die beiden haben den Hintersinn der Szene gar nicht erfasst, halten die Figuren für weit über 20, was vom Text her ausgeschlossen ist, interpretieren sie zunächst als brave Klosterschülerinnen. Der pornografische Untergrund der Szene muss den Schauspielerinnen bewusst werden, sie sollen "darum wissen, ihn nicht ausspielen, ihn aber auch nicht überspielen." Sabine Ehrlich steigert sich deutlich bis zu einer ausgezeichneten, persönlichen Interpretation der Charlotte Corday.

Problem betreffend Angleichung der Stimmen, so dass man die Personen nicht mehr auseinanderhalten kann. "Musikalische Schauspieler nehmen einander oft den Ton ab, so dass sie nicht mehr voneinander unterscheidbar sind." fab differenziert die beiden Rollen mittels Ironie. Spiel mit Brüchen zwischen Ernst und Ironie.

10. Szene: Wechsel der Mikrofoncharakteristik: Der Kontrast zwischen Rechts und Links wird extrem betont, indem die Schauspielerinnen einander gegenüberstehen, das Mikrofon in der Mitte zwischen ihnen. Die eine wechselt während des Sprechens auf die andere Seite: Eindruck des Sich-Näherns, Intimität.

Die Seiten können auch nachträglich vertauscht werden, um beim Schnitt eine Szene der anderen anzugleichen.

Beruhigender Einsatz von fab: "So, so, jetz lää wers wider la löüffe."

Der Versuch, Schritte ausserhalb des Studios, im Keller, mit Orignialhall aufzunehmen, scheitert wegen zahlreicher Nebengeräusche. Die Aufnahme wird schliesslich im Studio gemacht.

In der 3. Szene fordert fab den Techniker auf, "Courage zu haben", Mirabeau "ganz extrem von rechts" kommen zu lassen; er mischt selbst am Pult mit: "Jetzt wird er ändlich güet! Nur am Regler ligt's!" Der Panoramaregler dient dazu, die Lautstärke vom rechten zum linken Kanal (oder umgekehrt) zu verlegen und so die Illusion einer Bewegung (des Mikrofons, des Hörers) von einer Seite zur anderen hervorzurufen.

Die Gefängnisambiance wird life dazu aufgenommen: Einspielung ins Studio.

Orgelakzente sollen immer nur dann zwischen Szenen eingeschoben werden, "wenn wir's brauchen, wenn wir es sonst nicht erreichen können", z.B. zwischen 3. und 4. Szene: "Man soll merken, dass das ja nicht die gleichen sind." Zwischen der 2. und 3. Szene dagegen Blende.

Die Ambiance einer mittelalterlichen Stadt (Taubengurren) kann elektronisch verbreitert werden, so dass der Eindruck eines grossen, gepflästerten Platzes entsteht.

In der 5. Szene wird Sade rechts postiert, die übrigen Personen links; alle Reflexionen (Hall, Echo) ihrer Stimmen wird abgetrennt und rechts wiedergegeben.

6. Szene: Die Vesperglocken werden mittels Equalizer akustisch gedämpft, bis sie genau den Vorstellungen entsprechen.

7. Szene: Gemäss Peter Josts Wunsch sollen die Personen klein in einem grossen, hallenden Raum erscheinen. Dazu wird der Direktanteil leiser gemacht, der Hall aber belassen. fab: "Das vertreits eu mal, nid eso presänt z si!" In einer zweiten Aufnahme wird der Hall noch verstärkt, was als besser empfunden wird.

8. Szene: trockene Ambiance für den Anfang (Gebet), nachher Hall.

Das Heben des Rockes imitiert fab mit zwei verschiedenen Stoffen (Rock und Unterrock!)

11. Szene: Filassier und Marat werden anfangs "verblasen": der Direktanteil der Stimmen wird zurückgenommen. Delaunay wird mit dem Panorama­regler dazugenommen. Filassiers Schlusssatz soll ganz nah erscheinen, "quasi in Grossaufnahme."

14. Szene: Laborambiance zusammengesetzt aus fallenden Wassertropfen (Ambi-Band aus Geräuscharchiv) und Gurgeln (fab mit Gummischläuchlein im Wasserglas; Atmer werden herausgeschnitten) und schreienden Epileptikern (Studioaufnahme).

fab zur Ambiance: Berner Produktionen erkennt man daran, dass der Ton zwischen Dialogteilen auf Null herunterfällt: fehlende Ambiance, wirkt wie Gelbband. Auch etwas Nachhall hilft dieses Übel beseitigen. In einem Fall braucht es ca. 10 Ansätze, bis eine Szene in Hall und Lautstärke sitzt.

fab zum Metier des Schauspielers: "aus dem Bauch spielen", d.h. sich intensiv in die Rolle hineinversetzen, ist eine Mode-Erscheinung, die z.B. am Neumarkttheater noch nicht abgeklungen ist. Nach seiner Meinung muss aber der Schauspieler vor allem seine Stimme beherrschen (Bauchatmung). André Jung kann seine Stimme ganz jung, aber auch ganz alt einstellen, je nach Bedarf.

fab verweist auf Späths "Eine alte Geschichte" als Beispiel für ein gelungenes Hörspiel, dessen erotischen Sinn man nur aus dem Gespräch erschliessen kann. "Sertig Sache han ich gärn!" Späths Hörspiel verzichtet völlig auf Geräusche, und trotzdem meinten die Hörer das Klappern einer Pferdekutsche vernommen zu haben.

Peter Jost pflichtet ihm bei und will die "Alte Geschichte" für die Sommerwiederholungen 1987 vorschlagen. Geräusche müssen konsequent gehandhabt werden. Entweder mit oder ohne, verfremdet oder naturalistisch.

Peter Jost ist durch die Bekanntschaft mit einer Berliner Regisseurin auf seinen Stoff gekommen ("Das ist kompliziert, hängt mit mehreren Personen zusammen."). Peter Weiss' "Marat" gehörte schon in seiner Jugend zu seinen Lieblingsstücken; er hat die Verfilmung und auch eine Inszenierung des Neumarkt-Theaters gesehen. Die Werke von Sade hat er alle gelesen. Das Stück hat er für das Neumarkttheater geschrieben und dazu eine Biografie der Charlotte Corday gelesen. Von Anfang an bestimmend war die Idee, die auch bei Weiss vorhanden sei, dass Marat und die Corday eigentlich aus demselben Antrieb handeln. Das Tatmotiv der Corday hat er absichtlich weggelassen. Der Hörer soll selbst darüber nachdenken. Erkennbar ist auf der Reise nur, dass sie entschlossen ist, um jeden Preis nach Paris zu gelangen.

Die Form soll den Stoff wie ein Kelch umfassen, ohne den Sinn explizit zu machen. Das spiegelt sich im Kleinen auch im Verhältnis zwischen Akustischem und Visuellem: Beispiel 8. Szene, "Zeig!" - "Gesehen?"

Peter Jost betont schon ganz zu Anfang, dass er sich nicht immer nach der Hörspiel-Poetik der Fachleute richten will, dass er deshalb das Visuelle nicht ausschliesst, sich nicht auf die "innere Bühne" beschränken lassen will. "Warum nicht ein Hörspiel schreiben statt zu fotografieren? Warum diese Farben nicht vertonen?" - Aus solchen Überlegungen entstand auch sein erstes Hörspiel 1981.

 

Gespräch mit Peter Jost über die Uraufführung von "Endlose Strände mit jubelnden Völkern" im Theater am Neumarkt (10.6.87):

Beim Hörspiel-Apéro am 6.6.87 hätten die Anwesenden bei der Stelle: "ein Skandal ohne Öffentlichkeit" gelacht. Dies sei absolut zutreffend für die Rezeption der Bühnenfassung seines Stücks durch die Kritik; es sei nicht durchgefallen, sondern mehr oder weniger taktvoll übergangen worden.

Vielfach habe er im Gespräch (z.B. mit dem Regisseur Peter Müller) Ratlosigkeit festgestellt, weil es nicht um ein Problem gehe, keine Fragen gestellt und keine Antworten gegeben, sondern nur Phänomene dargestellt werden. Dies in einem Stück, das von seinem Stoff her dramatische Umwälzungen erwarten liesse (Französische Revolution). Peter Jost stimmt der Auffassung zu, er sei weder ein dramatischer noch ein epischer, sondern ein lyrischer Dramatiker.

Das Stück gibt dem Theaterzuschauer keine Gelegenheit, sich gedanklich auszuruhen und zu schauen. Es bietet optisch und handlungsmässig wenig; die Bilder ergeben sich aus den Dialogen, was den Text für das Medium Hörspiel prädestiniert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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