Inszenierung als Interpretation. Eine Skizze
Beobachtungen bei der Produktion von Hans Peter Treichlers Kurzhörspiel-Serie "De Bärni Lips gaht uf tutti" am 14.4.1987

Typoskript

Hans Peter Treichler, "De Bärni Lips gaht uf Tutti (38') * Dialekt; Stereo; Basler Hörspielpreis 1989; Musik: Robert Weber * Regie: Joseph Scheidegger, Zürich, 4.10.87 * 87 (DRS-1, 2 Sdg.); 92 (DRS-1, 7 x 1 Sdg.), 93 (DRS-1, 2 x 1 Sdg.)

9 Kurzhörspiele, die zur Sendung an Abstimmungssonntagen bestimmt sind

Veränderte Reihenfolge der Kurzhörspiele: 2.KH an erster Stelle: das 2. lässt dem Schauspieler ein breiteres Spektrum, der Opportunist kommt besser zum Ausdruck

Joschi (Regisseur J. Scheidegger) will die bereits vorbereitete Background-Ambiance am Schluss eventuell weglassen, da ja die Gesprächspartner von Lips auch ausgespart sind. Ambiance soll eventuell ganz sparsam eingefügt werden, aber Gnä (Darsteller M. Gnädinger) soll nichts vom Spiel her vorwegnehmen.

Gnä fragt, ob realistische Geräuscheffekte beim Sprechen wie Kaffeetrinken, Kuchenessen etc. auch ausgespart werden sollen.

Joschi will die Produktion ganz aufs Wort reduzieren: "Das han ich eigentli no gern, so sparsam." Auch das Geräusch beim Aufhängen des Telefons fällt weg.

Ansätze von Joschi/Gnä zur Interpretation: Lips versteht sich als Sonnenschein (vgl. Schluss des 2.KH), ist in seinem reduzierten Machtbereich aber pickelhart. Er ist ein Opportunist, was in seinem Verhalten gegenüber Blumer z.B. deutlich wird. Heimlich aspiriert er auf den Posten von Zaugg, der etwa auf gleicher Position steht, aber offenbar der Dienstältere ist.

 

2.KH, 1.Mitschnitt

Die Akustik der Portierloge wird nur mit einer Fenster-Kulisse imitiert.

Besprechung nach der ersten Aufnahme: Joschi kritisiert v.a. akustische Mängel.

Joschi und Gnä arbeiten das ganze 2.KH Satz für Satz durch:

Joschi: Das Ganze muss noch alltäglicher tönen; am Schluss noch ruhiger. Er verlangt akustische Abgrenzung, Konzentration auf einen kleinen Raum, was er durch Löschen der Studiobeleuchtung und Aufstellen einer Ständerlampe betont (für den Schauspieler sinnlich wahrnehmbar, auch optisch).

Joschi: Die Unerbittlichkeit der Hauptfigur "liegt darin, dass er immer weitermacht, dass ein anderer gar nicht die Chance hat, dazwischenzukommen."

Gnä trägt ruhiger vor.

Joschi beanstandet, dass der andere als Gesprächspartner noch zuwenig da sei, kommentiert Satz für Satz, so dass sich ein Dialog zwischen Regisseur und Schauspieler entwickelt. - "Jetz bisch dra! - Guet!"

Aus dem Kommentieren ergibt sich ein gemeinsames Phantasieren über Hintergründe und mögliche Nebenumstände des Stücks, z.B. über Blumers Krankheit, die dieser nicht zuzugeben wagt: "Das ist eine Schwäche, da kann man ihn erwischen."

Joschi: "Ich hasse es, dem Schauspieler das Zeug vorzumachen."

Gnä darauf: "Wirsch denn scho gseh, wa devo übrigbliibt."-

Der Personalchef: ein harter Siech, der etwas Weiches schenkt: ein Kissen - mit Spieluhr

Blumer wird von Lips ganz bewusst denunziert, kurz nachdem er ihn noch copainhaft behandelt hat. Joschi: "Dä schaltet um vo einere Farb uf die ander!"

Gnä spielt wie ein Bühnendarsteller auch mit Gestik, zieht z.B. den Kopf ein, wenn er den Direktor grüsst, verwirft ärgerlich die Arme...

Das Lachen erscheint Joschi noch zuwenig "organisch". Gnä stellt sich gar kein ehrliches Lachen vor; er erzählt von seinem Grossvater, dessen Rollenlachen ihm als Vorlage dient.

Joschi: "Es (das Lachen) ist ein Stereotyp, aber gekonnt." Man merkt nach seinem Empfinden die Absicht noch zu sehr.

Gnä probt 5-6 verschiedene Typen des Lachens.

Joschi spricht - im Widerspruch zu seiner Aussage (s.o.) - ganze Passagen vor.

 

2. KH, 2.Mitschnitt

Joschi bei der Besprechung: der Grundton stimme, aber Jovialität und Biss müsse noch besser herausgearbeitet werden, "dass es ein ganz aggressiver Siech ist", der dem Typus des Blockwarts (siehe 6.KH) entspricht.

Joschi zur Ausbeute der 2.Mitschnitts: "Villicht chömmer 's eint oder ander bruuche!"

 

2. KH, 3.Mitschnitt

Joschi (nicht allzu begeistert): guet - guet - guet; 2-3 Stellen könnten besser sein, der Schluss "isch scho besser; Du spilsch nöd uf Schluss!"

Die Sätze, die aus dem Fenster gerufen werden, sind noch zuwenig "organisch".

 

2. KH, 4.Mitschnitt

Joschi mahnt Gnä, nicht zu gemütlich zu spielen. Es soll klarwerden: "Das isch miin Machtberiich!"

Der 3. und 4.Mitschnitt werden zusammengeschnitten.

Erst jetzt, gegen Ende des ersten Aufnahmetermins, stellt sich heraus, dass Gnä das ganze zürichdeutsche Manuskript ins Schaffhauserdeutsch transkribiert hat, da er Zürichdeutsch nicht direkt lesen kann!!!

 

Abhören und Diskussion nach Abschluss der Aufnahmen am 22.4.87

Teilnehmer: J.Scheidegger, alle Regisseure von Studio ZH, Leiter Ressort Hörspiel

Joschi erscheinen Treichlers KH "fast wie Daumier-Karikaturen", boshaft. Sie schienen ihm, im Unterschied zu anderen Arbeiten, bei der Produktion nicht unter den Händen zu zerfallen; sein Verhältnis dazu scheint sehr positiv.

Wunsch von Joschi betreffend Titel/Untertitel: "De Bärni Lips gaht uf Tutti. Hörspiel für eine Person"

Umstellung der Reihenfolge der KH

Diskussionsweise Ansätze zur Interpretation:

Lips entlarvt sich selbst auf Schritt und Tritt, indem er sich wiederholt diametral widerspricht. Beispiele: 2.KH: "De Hüüchelsiech!" 6.KH: "Me cha ja au rede mitenand", Forderung nach Schmerzensgeld 7.KH: "Du bringsch doch alls durenand." 8.KH: Chaos in der Ordnung 9.KH: "das gaht alls hinedure."

Auf das erste Zuhören hin erscheint Lips aber als "gmögiger" Typ, was vor allem durch die Vortragsweise von Gnä unterstrichen wird. Der Ressortleiter neigt dazu, sich mit ihm zu identifizieren. Es wird befürchtet, dass viele Hörer bei diesem ersten Schritt der Identifikation stehenbleiben. Hat man ein Ohr für Tonfall und Klangfarbe, so kann man die Brüche mühelos erkennen, nicht nur im unechten, meckernden Lachen, das Joschi auf ein Minimum reduziert hat (2-3 Mal). Erschreckend wirkt die Inhumanität vor allem deshalb, weil Lips jede Distanz zu sich selbst fehlt, weil er nicht bewusst opportunistisch, heuchlerisch, aggressiv ist, weil ihm seine Inhumanität quasi unterläuft - und weil diese Form so alltäglich und verbreitet ist. Der Hörer könnte sich über seiner eigenen Identifikation ertappen und somit vor sich selbst erschrecken.

Meine Assoziation zur Interpretation: Treichler bedient sich somit einer ähnlichen Strategie, wie sie Silvio Blatter beschreibt:

Der tüchtigste Denkanstoss erreicht den Menschen über die Identifikation. Wenn sich einer mit einer meiner Figuren voll und ganz identifiziert, bis auf Seite 127, wo der vermeintlich so Vertraute plötzlich etwas macht, das dem Leser unverständlich scheint, das er 'nie' machen würde, dann habe ich ihn in einer Ecke, aus der er ohne Denken nicht mehr herauskommt.

Cantieni, Benita, Schweizer Schriftsteller persönlich.
Interviews, Zürich (ExLibris) 1985, S.124

Auch formal ist das Hörspiel dialektisch angelegt. Dem äussersten Realismus einer "dem einfachen Mann abgelauschten" Alltagssprache mit allen Redundanzen und Ellipsen steht die Abstraktheit der Kommunikationssituation gegenüber: Bernhard Lips hat kein Gegenüber. Konsequenterweise spart der Regisseur auch alles andere aus, was an die Aussenwelt erinnern könnte; nur die Raumakustik ändert sich. Der Hörer erlebt reine Subjektivität, die bloss auf Stimuli von aussen reagiert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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