Grundzüge einer Typologie des Deutschschweizer Hörspiels: Zusammenfassung

Der historische Überblick über die Entwicklung der Hörspieldramaturgie in Kapitel 4.1 sowie der Exkurs zum Neuen Hörspiel in der BRD in Kapitel 4.3 sollten dazu dienen, den Blick für die verschiedenen Formen zu schärfen und erkennbar zu machen, wie die heute vorherrschenden Typen sich gegenüber anderen durchgesetzt haben. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die seltenen Typen als Möglichkeiten, die ebensoviel Aufmerksamkeit verdienen wie jene, denen seit jeher die Grosszahl der produzierten Hörspiele zugehört.

Erstaunlich aufgeschlossen gegenüber Experimenten zeigten sich die deutschen Radiopioniere der zwanziger Jahre. Auch in der Schweiz ging es bis zur Mitte des folgenden Jahrzehnts noch um die Entdeckung und Entwicklung radiophoner Wirkungsmittel und deren Integration in die sich nach und nach formierende Dramaturgie eines »radioeigenen« Hörspiels. Schon damals zeigte sich aber, dass Ansätze, die hierzulande als »experimentell« empfunden wurden, fast immer Nachklänge ausländischer Entwicklungen waren. Eine wichtige Ausnahme stellen international richtungweisende Ansätze in den Hörspielen von Frisch und Dürrenmatt dar, die sich freilich erst dank der Förderung durch ausländische Sendeanstalten durchsetzen konnten. In der Periode nach 1965 entstandene experimentelle Produktionen orientieren sich formal fast durchweg an ausländischen Vorbildern. Eigenständig sind eigentlich nur die zu Beginn der sechziger Jahre einsetzenden Versuche mit dem Dialekt, dem aufgrund seines Spannungsverhältnisses zur »Halbfremdsprache« des Hochdeutschen in der Schweiz eine grössere Bedeutung zukommt als im übrigen deutschen Sprachraum; die Rolle des Vorreiters kann das Radio hier deshalb leichter übernehmen, weil der Dialekt eher zur gesprochenen als zur schriftlichen Form der Vermittlung drängt. Experimentelle Spuren dieser Art finden sich oft auch in Produktionen mit im übrigen durchaus konventioneller Dramaturgie, zum Beispiel in Arbeiten von Jörg Steiner, Werner Schmidli, Walter Vogt, Manfred Schwarz, Hanspeter Gschwend, Hansjörg Schneider, Hugo Loetscher, Hans Peter Treichler und Alex Gfeller. Da es sich um eine typenübergreifende Erscheinung handelt, wird in diesem Teil der Arbeit nicht in einem eigenen Kapitel darauf eingegangen; doch sei hier auf die Analysen von Gerold Späths »Heisse Sunntig« (4.252) sowie verschiedener Originalton-Hörspiele (4.41) hingewiesen; auch in der Besprechung von Hans Peter Treichlers »Üebig im Gländ« (3.113) finden sich weiter oben schon Ausführungen zu diesem Thema. Die Bedeutung dieser mit dem akustischen Medium eng verbundenen Wortkunst in »modern Mund-Art« würde allerdings eine gesonderte Behandlung in einem weiteren Teil rechtfertigen, doch muss es hier aus Gründen des Umfangs mit verstreuten Hinweisen sein Bewenden haben.

Die meisten Produktionen der Untersuchungsperiode von 1965 bis 1990 lassen sich den Typen des traditionellen Hörspiels zuordnen. In besonders grosser Zahl sind im Korpus vor allem dramatische und epische Hörspiele vertreten, deren Bezeichnung schon die Nähe zur herkömmlichen literarischen Gattungspoetik erkennen lässt. Hingegen ist es kein Zufall, dass Herbert Meier sich für die Gestaltung des Stoffes von »Salsomaggiore« bewusst für das Hörspiel entschieden hat; als »Hörspiel des inneren Monologs« kommt dieses Werk dem Kern dessen, was zu Beginn der sechziger Jahre als das »eigentliche« literarische Worthörspiel bestimmt wurde, sehr nahe. Die kontrastierende Verwendung von Monophonie und Kunstkopfstereophonie bei der Realisierung dieses Hörspiels hat gezeigt, dass diesem etablierten Typus auch heute noch überraschende Wirkungen abzugewinnen sind; so scheinen Kunst und Technik in diesem Fall einmal in einer traditionellen Produktion eine Synthese einzugehen. Dass die schon vor dem Auftreten des originalen Hörspiels entwickelte literarische Technik des inneren Monologs für das Radiokunstwerk nicht häufiger genutzt wird, sollte eigentlich Erstaunen hervorrufen. Selten ist auch das »Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit«, das in Silja Walters Mysterienspiel vielleicht seine reinste Ausprägung gefunden hat. Dass die religiöse Thematik den Bedingungen der »inneren Bühne« des traditionellen Worthörspiels besonders entspricht, haben dessen Theoretiker seit jeher festgestellt. Bei der Erforschung der Entstehungsgeschichte der in Kapitel 4.2 analysierten Hörspiele zeigte sich in mehreren Fällen ein sehr enger Bezug zu literarischen Vorlagen oder Texten des jeweiligen Autors, die parallel zur radiophonen Version entstanden sind. Die Untersuchung von Gerold Späths »Heisse Sunntig« soll in exemplarischer Weise den Prozess der Verwandlung eines Romankapitels in ein Originalhörspiel dokumentieren. In typologischer Hinsicht ist dieses Werk von Bedeutung als Beispiel des international selten auftretenden Panoramaspiels, das durch Dylan Thomas' »Under Milk Wood« in den fünfziger Jahren Berühmtheit erlangte; in neuerer Zeit sind in der deutschen Schweiz immerhin ein paar Hörspiele dieses Typus entstanden. »Der Sprung ins Wasser« von Jürg Amann gehört zwar als »Hörspiel der poetischen Realität« ein deutig zum Bereich der traditionellen Produktionen, ist aber durch zwei gegensätzliche Realisierungen bereits mit dem experimentellen Hörspiel verbunden: Während die eine Regieversion zwar Anklänge an Feature und Originaltonhörspiel erkennen lässt, aber doch die Spielillusion nicht beeinträchtigt, macht die andere aus Amanns Monolog ein Montagehörspiel von ganz unkonventioneller Art. Das Beispiel zeigt, dass allein schon die Art der radiophonen Gestaltung von entscheidender Bedeutung sein kann für den experimentellen Charakter einer Produktion. Es hilft damit den starken Einschnitt überbrücken, der aus historischen und methodischen Gründen zwischen den sogenannt traditionellen und den als experimentell bezeichneten Typen gemacht wurde. Diese Zweiteilung wird im übrigen durch integrative Tendenzen in der Entwicklung der achtzi ger Jahre zunehmend in Frage gestellt. Die Begriffe sollen der Unterscheidung, nicht aber der Trennung der bezeichneten Erscheinungen dienen.

Auch für die Hauptgestalten des experimentellen Hörspiels finden sich Belege in der Produktion der letzten fünfundzwanzig Jahre, doch sind diese noch weniger häufig anzutreffen als die selteneren Typen des traditionellen Hörspiels. Das hat seine Gründe zum einen im geringen Interesse der Autoren an der Erprobung von Techniken, die den Bereich des Literarischen überschreiten und somit die enge Zusammenarbeit mit Fachleuten des elektronischen Mediums nötig machen; viele Originalton-Hörspiele stammen deshalb von Mitarbeitern der Abteilung »Dramatik«. Zum andern wird das Experimentalhörspiel bei Radio DRS analog zur bewährten Praxis der BBC wohl eher als ausserordentliches Mittel zur Erkundung neuer akustischer Erfahrungsbereiche und Gestaltungsmöglichkeiten betrachtet, das besonders herausragenden Projekten vorbehalten bleiben soll. Die Zurückhaltung auf diesem Gebiet ist auch durch die oft hohen Aufwendungen für solche Produktionen begründet, die sich angesichts des kleinen Interessentenkreises unter den Hörern in jüngster Zeit immer schwerer rechtfertigen lassen.

Das Originalton-Hörspiel hat sich in den siebziger Jahren in expliziter Anlehnung an entsprechende bundesdeutsche Vorbilder entwickelt und wurde 1978 vom Originalton-Feature abgelöst, das in der Folge relativ unabhängig vom Hörspiel seinen weiteren Weg fand. Das Montagehörspiel macht die Auflösung der Spielillusion zum Programm und hat es wohl deshalb besonders schwer, sein Publikum zu finden. Peter Bichsei hat mit seinem ersten und einzigen »Hörtext« ein in jeder Hinsicht ausserordentliches Werk dieser Art geschaffen, dessen Hermetik aber auch die Grenze des mit Worten durch das Radio Vermittelbaren hervortreten lässt. Wie schon dieser Typus macht auch das an der konkreten Poesie orientierte Sprachspiel Kommunikation zum Thema, doch hat die spielerische Komponente oft auch einen unterhaltenden Effekt zur Folge, welcher sich mit der kritischen Intention die Waage hält. Prägnant ist diese Hauptgestalt in Erica Pedrettis Hörspiel »Badekur« realisiert, das formal enge Beziehungen zum gleichzeitigen epischen Schaffen der Autorin erkennen lässt. Dieser Typus scheint wegen seiner Betonung des Sprachlichen mehr als die zuvor erwähnten solche Autoren anzusprechen, die sich als autonome Schrift-Steller im herkömmlichen Sinn verstehen, aber experimentellen literarischen Techniken gegenüber aufgeschlossen sind. Daneben steht unvermittelt die radiophone Produktion im Grenzbereich zwischen Hörspiel und Musik, ein wegen seiner hohen Kosten seltener Typus, der seit langem schon international als ein attraktives Tätigkeitsfeld für Musiker gilt, in der Schweiz aber erst Mitte der achtziger Jahren für die Radiokunst entdeckt wurde. In diesem Bereich ist der »Autor« am ehesten Produzent, wie es der Idealvorstellung von Avantgardisten seit den zwanziger Jahren entspricht. Mit Recht wurde aber kritisch eingewendet, dass das musikalische Element in den bis heute realisierten schweizerischen Produktionen stark dominiert und dass es an wirklichen Übergängen zwischen den Bereichen des (Wort-)Hörspiels und der Musik fehlt.

Schon 1975 hat Heinrich Vornweg festgestellt, dass die Phase der formalen Innovationen im Neuen Hörspiel abgeschlossen sei und dass es jetzt darauf ankomme, »zu zeigen, dass diese etwas sagen, dass sie inhaltliche Konsequenzen haben.« Darin kündigt sich eine Wendung zur Integration traditioneller und experimenteller Tendenzen an, die in der Schweiz mit der obligaten Verzögerung etwa seit Beginn der achtziger Jahre zu beobachten ist. Die Verschmelzung beider Richtungen nachzuzeichnen, die in Amanns Hörspiel noch in Textvorlage und Realisierung getrennt auftreten, kann aus Raumgründen nicht mehr Aufgabe dieser Arbeit sein, doch soll hier wenigstens auf diese Entwicklung hingewiesen werden. Das verstärkte Hervortreten des erzählenden Moments im sprachspielerischen Hörspiel wäre etwa in Werner Wiedenmeiers Arbeiten zu beobachten. Die Einbeziehung von Originalton zum Beispiel in Hörspielen von Emil Zopfi, Hans Neff und Lukas Hartmann wird in verschiedenen Kapiteln wenigstens gestreift. Mehr als nur interpunktierende Funktion hat die Musik in Produktionen wie »Persephone, ganz aus Liebe« von Pierre Imhasly, »Das Luftmeeting zu Brescia« von Lukas B.Suter oder »Der Elefant« von Franz Windlin.

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Mit der Notwendigkeit, das neue Mundarthörspiel und die Integration traditioneller und moderner Formen im Hörspiel der achtziger und neunziger Jahre genauer zu untersuchen, wurden am Schluss dieses Teils zwei wichtige Desiderate künftiger Hörspielforschung genannt. Diese könnte auf dem Hörspielverzeichnis (5.12) aufbauen, das auf den nächsten Seiten folgt und das möglichst unvermittelt an den Textteil der Arbeit anschliessen soll. Auf ein abrundendes Nachwort wurde deshalb mit Absicht verzichtet, doch sei der Leser an dieser Stelle auf die Einleitung (1.3) verwiesen, wo die wichtigsten Resultate der ganzen Arbeit im Überblick dargestellt sind und einige weitere Perspektiven einer zukünftigen schweizerischen Hörspielphilologie skizziert werden. Der Kreis ist damit geschlossen, die Arbeit kann fortgesetzt werden. Bleibt zu hoffen, dass das Verzeichnis der Hörspielproduktion seit 1965 dereinst über die Jahrtausendwende hinaus weitergeführt werden kann und dass es auch wirklich als Basis für künftige Forschung genutzt wird. An offenen Fragen dürfte es nicht fehlen.