Das Hörspielwerk von Walter Oberer (1952-90)
Als Paradigma für das literarische Hörspiel im Beromünster-Programm der fünfziger Jahre soll im folgenden das Hörspielwerk von Walter Oberer im Überblick dargestellt werden. Da von den etwa vierzig Hörspielen, die er nach eigenen Angaben geschrieben hat(76), nur gut ein Drittel von schweizerischen Studios inszeniert wurde, kann dieser Teil seines Werks als Bindeglied zum literarischen Hörspielschaffen in der BRD gesehen werden. In einer Erhebung von Gerhard Prager wird Oberer als einer der drei Autoren genannt, von denen die insgesamt dreissig in der BRD gesendeten Schweizer Hörspiele der Jahre 1955/56 stammen.(77) Folgende Werke von Oberer wurden von Radio Beromünster/DRS produziert und gesendet: »Die Brücke. Hörspiel in drei Teilen und drei Zwischenspielen« (B-MW, 30.10.52); »Phantastische Fahrt. Hörnovelle« (B-MW, 22.10.53); »Zwischen Ginster und Thymian« (B-MW, 18.2.54); »Karl Kunz sucht Julia. Ein bürgerliches Mosaik« (B-MW, 10.6.54); »Meret und Andreas« (B-MW, 19.1.56); »Der Feind des Präsidenten« (B-MW, 25.10.56); »Zwischenfall in San Mondo« (B-MW, 23.5.57); »Tornado« (B-UKW, 24.11.57); »Der Mondfuchs« (B-MW, 29.5.58); »Das Geständnis der Sabine Kruschka« (B-MW, 24.10.63); »Die drei Tage des Herrn Speck. Ein unzeitgemässes Intermezzo« (B-MW, 18.2.65); »Verlass‹ deinen Garten nicht. Ein tragisches Capriccio« (DRS-1, 28.10.67). Nach seiner Pensionierung als langjähriger Direktor des Berner Stadttheaters hat Oberer sich dem Hörspiel von neuem zugewandt und dem Hessischen Rundfunk ein Manuskript eingereicht, das vom Dramaturgen mit den freundschaflichen Worten retourniert wurde: »Lieber Walter, Dein Hörspiel ist sehr gut, aber Deine Zeit ist vorbei.« (78) Sein Spätwerk »Traviata 90« (DRS-1, 14.1.90), das trotzdem Aufnahme bei Radio DRS fand, kann als Verkörperung des Unzeitgemässen betrachtet werden, das als Kategorie für Oberers Hörspiele seit jeher bestimmend war.
Das erste von Radio Beromünster produzierte Hörspiel von Walter Oberer, »Die Brücke« , weist im Hinblick auf seinen ideellen Gehalt voraus auf die nachfolgenden Werke des Autors; in Bezug auf Stoff und Form unterscheidet es sich noch deutlich von diesen. Hingegen springt eine bedeutsame strukturelle Ähnlichkeit mit Dürrenmatts erfolglosem Erstling »Der Doppelgänger« und auch mit Max Frischs »Biedermann« -Hörspiel ins Auge. Wie diese beiden Werke entwickelt sich Oberers Hörspiel auf zwei Ebenen: Die eigentliche Handlung, die als »Stück« (S.13) bezeichnet und in der Art eines klassischen Dramas in drei »Akte« (S.27) unterteilt ist, wird getragen von einer ersten Ebene, auf welcher der Verfasser, der amerikanische »Dichter« Oliver Glyne, und sein Freund Littelton, ein Journalist aus New York, im Studio über Entstehung und Gehalt des Stückes diskutieren und schliesslich wegen der Unvereinbarkeit ihrer Ansichten über den Zustand der Welt in Streit geraten. Zu ihnen stösst im abschliessenden Gespräch überraschend der Radiohörer Harald Breaken. In allen drei Gesprächen der ersten Ebene meldet sich ferner der flügellahme »Engel 1952« zu Wort, der von Glyne als »eine Art allgemeines Gewissen« (S.1) bezeichnet wird. Der epische Charakter des Spiels, der in der Wechselwirkung zwischen repräsentativer Spielebene und präsentativer Kommentarebene angelegt ist, wird vom Dichter Glyne betont, indem er sich für die Unterbrechungen entschuldigt und auf das Verständnis der Zuhörer hofft, wenn er »in der Hitze der Diskussion Dinge vorausnehme, die der dramatischen Spannung zuliebe am Schluss gesagt sein müssten.« (S.1)
Oberers Hörspiel unterscheidet sich von der Anlage von Dürrenmatts und Frischs Erstlingen im Hinblick auf die inhaltliche Trennung der beiden Ebenen. Während der Zuhörer bei Dürrenmatt Zeuge der Entstehung eines Parabelspiels ist und in Frischs Hörspiel vom Verfasser mit Biedermann, dem Urheber der Brandkatastrophe von Seldwyla, post festum »persönlich« bekanntgemacht und mit ins Spiel hineingezogen wird, präsentiert Oberers Dichter eine längst vergangene Episode, die sich im Sommer 1940 im besetzten Frankreich zugetragen hat. Diese dient als historisches Exempel, dessen Faktizität durch Einfügung einer Zwischenebene noch unterstrichen wird: Den Abschluss der ersten beiden Gespräche bilden quasi-dokumentarische Meldungen von Londoner und Pariser Nachrichtenagenturen über die erste Plenarversammlung der UNO und über die Viererkonferenz der Siegermächte im Jahr 1946, die sozusagen den mittleren Pfeiler der symbolischen Brücke zwischen dem Kriegsgeschehen und der gegenwärtigen Situation von 1952 bilden. Die unvermittelte Einschiebung solcher Textfragmente nimmt im übrigen die Form der Montage vorweg, die durch das Neue Hörspiel später zum Prinzip erhoben wird. Oberers Fallbeispiel aus dem Krieg erhebt also weit weniger Anspruch auf Allgemeingültigkeit als die Parabeln von Frisch und Dürrenmatt; es dient, nebst den erwähnten Pressemeldungen, als Anlass und Gegenstand des Studiogesprächs zwischen Autor und Kritiker, wodurch diese erste Ebene an Bedeutung gewinnt. Im Unterschied zu Dürrenmatt ist das Stück bereits geschrieben und wird im Moment vorgeführt und kommentiert. Die Personen der Spielebene agieren völlig unabhängig, ohne dass die Diskutierenden Einfluss auf ihr Verhalten hätten oder gar die Ebene wechseln könnten. Neu ist in Oberers Hörspiel, dass der Hörer nicht bloss angesprochen wird, sondern in der Figur Breakens vor dem Mikrophon erscheint und ausführlich zu Wort kommt. Sein Hauptanliegen äussert sich in den Worten:
»Wissen Sie, ich möchte fragen, warum Sie uns keine Lösung, etwas Positives geben. In diesen Zeiten muss man doch einen Halt haben. Einfache Leute wie ich es bin brauchen einen Halt.« (S.40)
Die Antwort des Dichters fällt nicht minder programmatisch aus. Sie scheint sich eng an eine Passage aus Max Frischs »Tagebuch 1945-1949« anzulehnen, die ihrerseits auf eine Äusserung Ibsens zurückgreift(79):
»Den ›Halt‹ wie Sie es nennen, müssen wir uns wohl selbst geben. Und meine Aufgabe war es nur die Fragen so zu stellen, dass wir keine Ruhe mehr haben, bis wir selbst eine Antwort gefunden.« (ib.)
Drückt sich in der direkten Anrede des Hörers, in dessen Auftreten als Figur und in den angebotenen Interpretationshilfen deutlich der »Wille zur Kommunikation mit dem Hörer« und »zur Übermittlung einer fassbaren Botschaft« aus, den Dedner im Anschluss an Schwitzke als »eines der auffälligsten Merkmale der deutschen Hörspieldichtung in den fünfziger Jahren« erkennt(80), so wird andererseits der Rezipient durch die zitierte Reaktion Glynes am Ende auf sich selbst verwiesen und seiner Unsicherheit überlassen. Würffel sieht im Bestreben, den Hörer »in eine Entscheidungssituation zu versetzen« , ihn zum Richter zu machen, das im offenen Schluss von Eichs Hörspiel »Die gekaufte Prüfung« von 1949/50 präformiert ist, einen Grundzug der Eichschen Hörspieldichtung.(81) Durch den Dichter in Oberers Hörspiel »Die Brücke« wird die Absicht, den Hörer zu verunsichern, sogar explizit gemacht. Ein Gegengewicht dazu bildet das ausführliche Schlusswort des Engels, das Antwort auf die beunruhigenden Fragen gibt. In einigen seiner späteren Hörspiele hat Oberer den Schluss offener gestaltet; »Der Feind des Präsidenten« endet mit dem Vorsatz des Präsidenten, seine Rede an den Weltkongress aufgrund seiner Traumerlebnisse umzuschreiben, und in »Tornado« , dessen Rahmen im Prozess gegen die Hauptfigur besteht, zieht sich das Gericht am Schluss zur Beratung zurück – wie in der ersten Version von Brechts »Lukullus« .
Im Manuskript des nächsten von einem Schweizer Studio produzierten Hörspiels »Phantastische Fahrt« fällt auf, dass die einzige Stelle, in der die Zuhörenden angesprochen werden, gestrichen ist.(82) Der wesentlich einfachere Aufbau lässt erkennen, dass sich Oberers hörspieldramaturgische Vorstellungen inzwischen geklärt haben. Die Bezeichnung »Funknovelle« im Untertitel deutet auf eine starke epische Komponente hin, doch ist diese wie in allen folgenden Hörspielen des Autors weitgehend ins Spiel integriert, indem die Hauptfigur sowohl als handelnde Person wie auch als Erzähler auftritt. Nur der Rückblick auf deren Leben im Nachspiel durch die Stimmen eines Erzählers, eines Pfarrers und eines Radioreporters wirkt der Illusion einer traumartigen Realität, die sich während der Zugsfahrt aufgebaut hat, entgegen; in diesem unerwarteten Bruch zeigen sich noch Nachwirkungen der früheren Konzeption eines Spiels auf zwei Ebenen, die als episch im Sinne von Brechts Dramaturgie zu bezeichnen ist. Im Hauptteil der »Phantastischen Fahrt« , der auf den Bau der folgenden Hörspiele von Oberer vorausweist, ist an die Stelle der stark gebrochenen, montageartigen Struktur der weniger auffällige Wechsel zwischen dramatischen und epischen Passagen getreten; als starke Klammer zwischen diesen heterogenen Teilen wirkt vor allem die Identität der sowohl präsentierenden wie repräsentierenden Hauptfigur. Dieser Kunstgriff bedeutet zugleich einen Schritt in Richtung auf einen neuen Umgang mit der Zeit: Bildete die Spielhandlung in »Die Brücke« noch ein gleichförmiges Kontinuum, so werden nun die dramatischen Passagen durch Erzählteile ergänzt, in denen dieselbe Handlung aus der Retrospektive beleuchtet wird. Darin zeigen sich Ansätze zur Auflösung der Chronologie, in der Schwitzke ein konstitutives Merkmal des literarischen Worthörspiels sieht, die allerdings bei anderen Autoren viel weiter geht.(83) Dies gilt auch für den Typus des »objektiv epischen Hörspiels« , der etwa durch die spätere Arbeit »Verlass' deinen Garten nicht« repräsentiert wird.
Der Abschwächung der direkten Kommunikation mit dem Hörer, die mit der aufgezeigten Entwicklung verbunden ist, entspricht also die Zurücknahme verfremdender Elemente. »Phantastische Fahrt« wird von Armin P.Frank nicht als »Hörspiel der subjektiven Epik« bestimmt, obwohl dies in Anbetracht der Identität von Erzähler und Hauptfigur zu rechtfertigen wäre, sondern gilt ihm als »Spiel der poetischen Realität« , in dem durch Verfremdung »eine anfänglich als im empirischen Sinne real dargestellte Situation unter Beibehaltung ihres Wirklichkeitswertes auf eine symbolische oder allegorische Ebene verschoben wird.« (84) Diese Konzeption des gleitenden Übergangs in eine phantastische Realität weist die Richtung, in der sich Oberers Hörspiele wie viele andere literarische Worthörspiele der fünfziger Jahre bewegen: Sie bieten dem Hörer die Illusion eines in seinem Innern sich vollziehenden Geschehens, an dem er umittelbar teilhat, mit dessen Protagonisten er sich identifizieren kann.
Das Reich der Phantasie, das Oberer als alleinige Quelle seiner Hörspiele bezeichnet(85), ist das Ziel des Prozesses, der in vielfacher Form in all seinen Radioarbeiten thematisch wird. Den Ausgangspunkt aber stellen die Zeitumstände der Gegenwart dar, die allerdings nur soweit konkretisiert werden, dass sie ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht verlieren. In »Die Brücke« sind es Deutsche, Franzosen und Amerikaner, die durch ihr unterschiedliches Verhältnis zum Kriegsgeschehen die Spannweite der Problematik markieren. Vom Radiohörer Breaken wird im Personenverzeichnis gesagt, er sei »ein einfacher Mann, der ebensogut in Amerika wie in Europa wohnen kann.« »Meret und Andreas« spielt in »irgendeine[r] der vielen Städte Europas« , »Tornado« auf einer Farm und im Gerichtssaal eines Städtchens irgendwo in den USA und »Verlass' deinen Garten nicht« in einer fiktiven Ortschaft sowie auf einem Schloss in Südfrankreich. Die Schweiz hingegen kommt in Oberers Hörspielen nicht vor. Den wahren Ort des Geschehens aller seiner Werke bezeichnet der Ortsname »San Mondo« : Das Hörspiel erscheint von hier aus gesehen als modernes Welttheater. Auch im Namen Albert Tramonds verbirgt sich die intendierte Universalität des Spiels. Am Anfang erlebt man ihn als erfolgreichen Ingenieur, der an der Entwicklung eines Überschallflugzeuges arbeitet während eines Interviews mit einem Zeitungsreporter. Über die Köpfen der beiden brausen Düsenjäger als akustisches Zeichen des Fortschritts hinweg, das auch in späteren Hörspielen wiederkehrt. »Die Distanzen ausgewischt. Herrlich. Wir haben die Zeit ins Wanken gebracht. Herrlich?« bemerkt Tramond, und darin klingt Wagners Optimismus an: »Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht« ; im Düsenjäger konkretisiert sich wohl Fausts sarkastische Replik: »O ja, bis an die Sterne weit!«
Im Oktober 1959 wurde im Mittelwellenprogramm von Radio Beromünster eine fünfteilige Sendereihe mit dem Titel »Angst. Ein Problem unserer Zeit« ausgestrahlt, deren einzelne Folgen auf Umfragen in Berlin (Th.Koch), Paris (H.O.Staub), New York (H.Gautschy), London (Th.Haller) und Zürich (J.P.Gerwig) basierten. Felice Vitali nennt in seinem Artikel in der Radiozeitung Ursachen dieser Daseinsangst, welche die Fünfzigerjahre als Zeitgefühl zu bestimmen scheint: »Wasserstoffbomben, Langstreckenraketen, Weltraumschiffe – die Welt ist für den Laien zu einem Vulkan der Angst geworden. Unsere politische Sicherheit hängt am dünnen Faden des Respektes, den der Kreml vor amerikanischen Vergeltungsschlägen hat.« (86) In Oberers Hörspielen ist die Angst eine thematische Konstante, die als Unwohlsein oder innere Unruhe den Ausgangspunkt einer Art phantastischen Reise bilden kann und den Reisenden unterwegs in intensivierter Form einholt. Tramonds diffuse Daseinsangst wird zunächst vom Bericht eines Militärattachés genährt, der überzeugt ist, »dass die Frage des Kriegsausbruches in den nächsten drei Monaten entschieden wird« (S.20). Zum Alptraum entwickelt sich die Begegnung mit einer Figur, die im Personenverzeichnis als »eine allgemein bekannte Zeiterscheinung« charakterisiert ist; in ihr vereinigen sich wirtschaftliche Macht und totalitäre Politik zu der zerstörerischen Dynamik, die Europa und die Welt in zwei Kriege gestürzt hat. In einer Montage von Telefonstimmen in »Der Feind des Präsidenten« werden die Frage nach der Angst, die Kunde vom »Abwurf einer Atombombe bei Bikini auf das Atoll Namu« und die Vorstellung einer Sintflut nebeneinander gestellt. (S.19) Die Frage: »[...] wann wird es sein? Wann?« beantwortet der Dichter Antonio mit der aktuellen Jahreszahl: »Eintausendneunhundertsechsundfünfzig« , die er zweimal wiederholt. In einer Ansprache an seine Minister sagt der Präsident: »Ihre Tüchtigkeit ist erschreckend. Sie haben mein Reich zu einer wirtschaftlichen Blüte gebracht, die die Sonne zu verfinstern droht. Die Wissenschaft hebt die Erde aus den Angeln und verschiebt die Fixsterne.« (S.40) Die existentielle Dimension dieses Zeitgefühls äussert sich in der Angst einer Figur, auf einer dünnen Eisschicht einzubrechen (S.17), oder in der Bemerkung einer anderen Figur in »Meret und Andreas« : »Die Zeit ist bodenlos, Meret... [...] Und so ist jeder dafür besorgt, sich für seinen eigenen Teil etwas zu bauen, das zwar künstlich, aber doch wie ein Boden aussieht.« (S.49) Solche Bilder erinnern sehr an Eichs »Träume« , insbesondere an den fünften Traum, der darstellt, wie die Welt und die Menschen von Termiten ausgehöhlt werden. Wie Eich geht auch Oberer von konkreten, aktuellen Ängsten aus, um diese zu erweitern zur »Angst die das Leben meint« (87) und damit ein Modell anzubieten, »in dem jedes individuelle Schicksal mit dem Schicksal aller verschmelzen konnte.« (88)
Die Zweifel des Aviatik-Ingenieurs Tramond am Sinn seiner technischen Errungenschaften machen sich physisch in einem Unwohlsein bemerkbar, das ihn zu einer Rast am Bahnhof veranlasst, wo ein älterer Eisenbahner an ihm vorbeigeht.
»Und da ›begann‹ etwas in mir. Etwas begann... Es war, als befände ich mich in einem leeren Zimmer und von der Decke bröselte der Gips. Ich hörte schärfer hin: Das Bröseln war ein Uhrenticken. Die Zeit bröselte herab, unaufhörlich. Ich hörte alle Uhren der Welt ticken. Da wusste ich, dass es Zeit für mich war. – Ich stand auf und folgte dem alten Mann.« (S.3 f)
Indem er den letzten Wagen eines zufällig anhaltenden Zuges besteigt, verlässt er den Boden der empirischen Realität und tritt eine Reise an, während der Wirkliches und Phantastisches ineinanderfliessen, ohne dass er von der veränderten Situation Notiz zu nehmen scheint. Dem Hörer wird der Übergang in eine poetische Realität aufgrund der Gespräche bewusst, die Tramond auf seinem Weg nach vorne zur Lokomotive mit einzelnen Fahrgästen führt. Traumartig wirkt schon die erste Begegnung mit dem Bremser, der das Ziel von Tramonds Reise auf der Fahrkarte in dessen Augen abliest; der Brief, den er bei einem Stelldichein mit seiner Geliebten auf eine weisse Abendwolke geschrieben hat, ist, wie er von einer Passagierin erfährt, beim Lokomotivführer angekommen. Wieviel Zeit seit Beginn der Fahrt verstrichen ist, kann ihm der Schaffner nicht sagen: »Vier Stunden oder vier Tage. Der Fahrplan ist nur für Menschen, die die Zeit nicht verstehen.« (S.16) Die Begegnungen nehmen, wie oben gezeigt, mitunter alptraumartige Züge an. Als Tramond beim Halt an der »grossen Kreuzung« den vordersten Wagen verlässt und zur Spitze des Zuges eilt, scheint ihm dies wie Schritte »auf den Ufersteinen des Acheron« zu tönen (S.37). Der Lokführer sieht sich als Personifikation der Zeit: »Alles ist auf der Flucht. [...] Und so hat keiner Zeit für den andern. Dann denke ich, dass ich die Zeit bin. Ihre Zeit bin. Dass ich ihnen die Zeit nehmen kann.« (S.40) Tramond bleibt schliesslich am Bahndamm zurück als einer, den die Zeit überholt und dahin geworfen hat, wo er jetzt ist. (S.42) Beim Rückmarsch auf dem Geleise wird er von einem Zug überfahren.
Tramond, dessen Weg, wie sein Name andeutet, durch die Welt und über sie hinaus führt, scheitert also äusserlich gesehen. Ob seine Fahrt ins Innere, das diese Welt meint, als Flucht aus seiner Zeit oder als Versuch zur Selbstverwirklichung gewertet werden soll, bleibt in der Schwebe. Das lässt auch der Konfirmationsspruch offen, der ihm in höchster Not in den Sinn kommt: »Und Gott strafte die Verlorenen nicht, die in der Wüste nach ihm riefen. Nach sieben Tagen sandte er einen Engel aus. Der brachte ihnen Labsal. Das stärkte sie, machte sie sehend und sie fanden wieder das Feuer ihres Herdes, das sie verlassen.« (S.43) Die Zentralmotive der Brücke, der Reise, des Prozesses in Oberers Hörspielen haben immer auch eine religiöse Bedeutung. Besonders greifbar wird dies am Ende von »Tornado« , wo der Angeklagte Brennan Gott anruft und ihn fragt: »Hast Du mich das Unheil anrichten lassen, damit ich Dich suche? [...] Sind das die Wege, die zu Dir führen?« (S.44) Der Engel, der in der »Brücke« als allegorische Figur eine wichtige Rolle spielt, taucht in den meisten Hörspielen in entscheidenden Situation auf, sei es als Gedankenmotiv, sei es versteckt in einer der Figuren. Der Held im späten Hörspiel »Verlass' deinen Garten nicht« verspürt am Schluss eine Unruhe, »in deren innerstem Kern ein kleiner Kompass befestigt ist, der anzeigt, in welcher Richtung man zu gehen hat.« (S.43) Dieser Richtung folgend, tritt er auf die Strasse: »Mit einem würgenden Glücksgefühl im Hals. Keiner Sprache mächtig. Als verschlössen tausend Engel seinen Mund. Als höbe ihn eine Musik, die er noch nie gehört, empor.« In diesem Moment wird er vom Vorderrad eines Lieferwagens erfasst und getötet.
Nicht immer scheitert der Held. Im Spiel »Der Feind des Präsidenten« verbindet ihm der Dichter Antonio die Augen mit einer schwarzen Binde; auf der Reise durch sein Land lernt der Präsident nicht nur das Denken der Menschen von Grund auf kennen, sondern er regrediert mit der ganzen Schöpfung »bis dorthin, wo alles anfängt.« (S.20) Die Ode des Dichters, der ihn als Mentor begleitet, verweist die hybride Menschheit auf »den Rat der warnenden Götter« . (S.23) Der höchste Punkt des Reiches heisst »El dechmah« , was »gehe in Dich« bedeutet. (S.28) Als der Staatsmann am Schluss erwacht und erkennt, dass er alles geträumt hat, beschliesst er, das Erlebte in die politische Praxis umzusetzen. Den Anstoss dazu gibt ihm sein Gärtner, der seine schönste Rose »Madame L'Espoir« getauft hat. (S.46) Dieses Hörspiel, in dem der Übergang zwischen empirischer und phantastischer Realität nicht mehr fliessend gestaltet, sondern durch das Erwachen fassbar gemacht wird, entstand zu einer Zeit, da in der Bundesrepublik »Eichs besondere Form des Traumspiels zahlreiche Epigonen aufrief und die Hörspielstudios zeitweilig in akustische Traumlabors verwandelte« (89). In diesem Fall zeigt sich am deutlichsten eine Schwäche, die letztlich allen Oberer-Hörspielen eignet, die aber meist durch den Tod des Helden verdeckt wird. Die Figur des Dichters Antonio, der als Führer durch die erschreckende Innenwelt der Hauptfigur auftritt, erweist sich als Projektion des Hörspielautors; auch dieser versteht sich als Zeigender, der den Hörer emotional erschüttern und zu höherem Sein erwecken will; Voraussetzung dafür ist die Identifikation mit dem Helden.(90) Die Traumreise ins Innere konfrontiert wohl dem Helden wie den Zuhörer mit aktuellen Problemen des Kollektivs, aber sie erspart ihnen, wie Würffel kritisch einwendet(91), die Analyse von deren historisch-politischen Ursachen. Die Umsetzung der Lösung, die der Gärtner dem Präsidenten anbietet, bleibt das Hörspiel bezeichnenderweise schuldig. Sie besteht im Rückzug in den Garten als einer Art äusserer Innenwelt, in Kontemplation und letzten Endes in die Gewissheit des Glaubens. Das war schon die Lösung des Hörers Breaken, des einfachen Mannes im Hörspiel »Die Brücke« , und dazu treibt es auch Jean Timide nach seinem Abenteuer zurück, für dessen Verhalten der Titel »Verlass' deinen Garten nicht« programmatische Bedeutung hat. In der »Individualisierung gesellschaftlicher Problematik« (92) zeigt sich die zentrale Schwachstelle, die Oberers Radiowerk mit einem grossen Teil der literarischen Worthörspiele der fünfziger Jahre verbindet.
»Mich hat es eigentlich immer am heftigsten zu den Dingen hingezogen, die nicht augenfällig in der Mitte einer gerade brennenden Aktualität liegen und doch, vielleicht gerade durch ihre Besonderheit, einen Bezug zu ihr haben« , schreibt Oberer in einem Kommentar zum Hörspiel »Verlass' deinen Garten nicht« .(93) Das vorhergehende Werk »Die drei Tage des Herrn Speck« nennt sich im Untertitel »Ein unzeitgemässes Intermezzo« und gestaltet die Begegnung eines Mannes und einer Frau, die »in der vibrierenden Ahnung grosser Glücksmöglichkeiten« verharren, »ohne sie auszunützen; die Möglichkeit, dass der Nachgeschmack des Genusses bitter sein könnte, wird dem Verzicht untergeordnet.« (94) Das entspricht der Askese des Jean Timide, dem Rückzug in den eigenen Garten und dem Verzicht auf die Erfüllung der grossen Sehnsucht aus Furcht, vor den Anforderungen des Unbekannten nicht bestehen zu können. Zu grosser Tragik gereicht es Oberers Helden deshalb nicht: Timides Unfall ist ein »tragisches Capriccio« , da er ja im schönsten Augenblick als liebender Geliebter stirbt. Und auch das »komische Intermezzo« führt nicht zu einem wahrhaft glücklichen Ende, sondern zur Entsagung, in der der Autor »eine wahrhaft komische Lebenseinstellung in einer realistischen Zeit« sieht.(95) In »Die Brücke« schon charakterisiert sich Glyne mit den Worten: »Ich bin altmodisch. Dichter sind immer etwas altmodisch, wenigstens heutzutage.« (S.41) Eine konservative Grundhaltung zeigt sich deutlich auch im Überblick über Oberers Hörspielschaffen. Franz Fassbind stellt eine »seltene und auffallende Konsistenz, beziehungsweise Dichtigkeit der Motive und Bilder« fest, die bis ins scheinbar belanglose Detail geht, und schliesst seine Beobachtungen mit den treffenden Worten: »Man denkt an die farbigen Glasscheiben eines Kaleidoskops, die sich bei jeder Drehung zu neuen Mustern fügen: Die Elemente wandeln sich; die Gesamtzusammensetzung der dichterischen Welt bleibt festgelegt.« (96) Diese Konstanz erstreckt sich, wie gezeigt wurde, darüber hinaus auf die Figurenkonstellation und auf die Grundproblematik aller Hörspiele Oberers. Fassbind bezeichnet »Die drei Tage des Herrn Speck« als »spröder, aber auch einfacher, härter, aber auch durchsichtiger als seine früheren Werke.« Inwiefern sich diese Tendenz in seinem bisher letzten Werk »aviata 90« fortsetzt und wie sich dieses zum Schaffen der fünfziger und sechziger Jahre verhält, wird in den letzten Abschnitten dieses Kapitels zu zeigen sein.
»Traviata 90« lässt schon im Titel erkennen, dass das Hörspiel in der Gegenwart des Jahres 1990 spielt; die Formulierung erinnert an den »Engel 1952« . Albert und seine Frau Mathilde besuchen im ersten Teil einen Ort am Gardasee, mit dem die Erinnerung an eine entscheidende Wende in ihrem Leben verbunden ist: Mit ihrem Auftritt in Verdis »Traviata« hat Mathilde vor mehr als vierzig Jahren ihren Zenith als Künstlerin überschritten. Der zweite Teil beginnt mit Alberts Suche nach einem Satz, an den er sich nicht mehr erinnern kann und der sich am Ende des Hörspiels als Schlüssel erweisen wird; damit greift Oberer ein wichtiges Motiv auf, das er in »Phantastische Fahrt« in fast gleicher Weise verwendet hat. Im dritten Teil stirbt Mathilde an einer Lungenentzündung, die sie sich auf ihrem Spaziergang am Gardasee zugezogen hat. Aus ihren letzten Worten geht hervor, dass Albert ihr Vermögen verspekuliert hat. Ihr Traum von einer Villa am Meer mit dem symbolträchtigen Namen »Desirée« hat sich nicht verwirklicht, da ihr Mann sich den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die mit dem entsprechenden Lebensstil verbunden wären, verweigert hat; ihre alten Tage mussten die beiden stattdessen in einer kümmerlichen Dreizimmerwohnung verbringen. Den Schluss bildet die Totenrede, in der Albert zu seiner Frau spricht. Den letzten Satz bildet das Zitat, das ihm nun wieder in den Sinn gekommen ist: »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit des Lebens zugrunde gehen.« Diesem Satz, der seiner Frau recht gibt, wird Albert nie zustimmen können, da er seiner Natur widerspricht. In diesem Inhaltsabriss lässt sich das Grundmuster von Oberers früheren Hörspielen wiedererkennen: Aufschwung und unerfüllte Sehnsucht (nach einer Villa am Meer in ihrem Fall, nach einem gemeinsamen Leben abseits des Kunstbetriebs in seinem Fall), Verzicht und standhaftes Ausharren nebeneinander, das Albert als »Tragödie« bezeichnet; Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Leben.
Formal unterscheidet sich »Traviata 90« stark von allen bisherigen Hörspielen Oberers. Die vormals oft übertrieben poetische Diktion, die sich an der lyrisch-magischen Sprache deutscher Vorbilder der fünfziger Jahre orientierte und gelegentlich ins Kitschige abglitt, ist in den spröden Dialogen der alten Leute nicht mehr anzutreffen. Die unterschiedlichen Rollen des verschlossenen, sich kühl rational gebenden Mannes und der extrovertierten, verhalten emotional sprechenden Frau werden sprachlich differenziert. Eine strikte Beschränkung auf zwei Personen würde man in früheren Arbeiten des Autors vergeblich suchen. Realistische Ambiance, etwa in der Aussenszene am Gardasee, fehlt völlig; Geräusch und Musik werden nur sehr sparsam und funktional eingesetzt. Neu in Oberers Werk ist vor allem der Bau, der aus drei Dialogteilen und einem Monologteil besteht und auf epische Elemente verzichtet. In der Art, wie längst Vergangenes schrittweise aufgedeckt wird, gleicht »Traviata 90« dem klassischen analytischen Drama; die Totenrede hat so gesehen die Funktion eines Epilogs, der sich allerdings nicht direkt ans Publikum, sondern an die verstummte Gesprächspartnerin richtet. Der Prozess in »Tornado« kommt im Hinblick auf die Enthüllung vergangenen Geschehens diesem Dialogspiel am nächsten. Die vier Teile, zwischen denen Zeit übersprungen wird, sind hart aneinandergefügt, was im Gegensatz zum gleitenden Übergang in »Phantastische Fahrt« steht und eher mit der gebrochenen Struktur der »Brücke« korrespondiert. Innerlich werden die Teile zusammengehalten durch die Erinnerung an die entscheidenden Stationen des vergangenen Lebens, auf die sich alles ausrichtet, wie aus dem pointierten Schluss deutlich wird. Mit dem Zwiespalt zwischen Kunst und Leben greift Oberer sein altes Thema wieder auf, aber im Unterschied zu den aus reiner Phantasie entwickelten Spielen früherer Zeiten ist diesem neuen Werk anzumerken, dass hier der ehemalige Theater- und Opernintendant eigene Erfahrungen verarbeitet. Obwohl unter der Verhärtung und Verkrustung Leben spürbar ist, bestimmt eine Atmosphäre der Resignation den Dialog, in der sich eine gewisse Verwandtschaft mit Eichs Spätwerk offenbart. Die von Fassbind festgestellte Entwicklung hat sich also fortgesetzt. Insgesamt erweist sich »Traviata 90« als ein erstaunlich modern wirkendes Hörspiel, das seine thematische Verwurzelung im literarischen Worthörspiel der fünfziger Jahre nicht verleugnen kann, aber in seinem Bau und Stil unserer »realistischen Zeit« entgegenkommt: ein Hörspiel, das sich mit mancher zeitgenössischen Produktion messen kann.
(76) W.Oberer in: Treffpunkt, Fernsehen DRS, 18.2.88
(77) vgl. H.Schwitzke, Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, Köln 1963, S.399; Prager führt ferner Frisch und Dürrenmatt an; Schwitzke nennt darüber hinaus Lotar und Franke-Ruta.
(79) »Als Stückeschreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermassen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können – ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.« (Frisch, 1976, Bd.II, S.467)
(80) B.Dedner, Das Hörspiel der fünfziger Jahre und die Entwicklung des Sprechspiels seit 1965, in: M.Durzak (Hrsg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen, Stuttg. 1971, S.133; vgl. Schwitzke, 1963, S.368
(81) vgl. St.B.Würffel, Das Hörspiel, Stuttg. 1978, S.87 ff
(82) gestrichen: »Verehrte Zuhörer, – Hier ist der Schweizerische Landessender Beromünster, Studio Zürich. Wir übermitteln Ihnen nun einen Ausschnitt aus der Abdankungsfeier zu Ehren Albert Tramonds. Wir schalten um!« (S.44)
(83) vgl. Schwitzke, 1963, S.241 ff
(84) A.P.Frank, Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung und Analyse einer neuen Kunstform, durchgeführt an amerikanischen, deutschen, englischen und französischen Texten, Heidelberg 1963, S.186
(85) W.Oberer in: Treffpunkt, Fernsehen DRS, 18.2.88
(86) F.Vitali, Angst. Ein Problem unserer Zeit, in: r+f 40/59, S.13
(87) G.Eich, Gesammelte Werke, hrsg.von S.Müller-Hanpft, H.Ode, H.F.Schafroth und H.Schwitzke, FfM. 1973, Bd.2, S.289
(89) W.Klose, Didaktik des Hörspiels, Stuttg. 1977, S.39
(90) vgl. Dedner, 1971, S.128 f
(93) W.Oberer, Verlass deinen Garten nicht, in: r+f 42/67, S.71
(94) W.Oberer, »Die drei Tage des Herrn Speck« , in: r+f 7/65, S.5
(96) zd., Unzeitgemässes Intermezzo. Zu einem Hörspiel von Walter Oberer, in: NZZ (Abendausgabe), 2.4.65